Die Geburtsstunde

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Raniero

Textablader
Die Geburtsstunde

„Hallo, Sie da, was machen Sie denn da? Das geht aber nicht, was Sie da machen!“

Dem Geschäftsführer des Möbelriesen, Udo Rohringer, standen die Schweißperlen auf der Stirn.
Er glaubte nicht was er sah; nein, das war ganz unmöglich.

Man hatte ihn über die Lautsprecheranlage des Hauses herbeigerufen, und in aller Eile war er geradezu herbeigestürzt, in die oberste Etage, in die Abteilung für Schlafmöbel, doch was ihn da erwartete, sprengte jeden Rahmen; einfach entsetzlich!
Ausgerechnet im nobelsten der ausgestellten Musterschlafzimmer der ganzen Abteilung machte sich gerade ein junges Paar daran, das mehr als geräumige Doppelbett auszuprobieren, mit allen Anstalten, die für solch einen Zweck in Frage kommen.
Nicht nur, dass sich die jungen Leute bereits der meisten Kleidungsstücke entledigt hatten und drohten, dies fortzusetzen, darüber hinaus machten sie in der Tat ernsthaft den Eindruck, als wollten sie zu einem Vorhaben ansetzen, was man allgemein als die Ausübung der ehelichen Pflichten ansieht.
Doch bevor Udo Rohringer einschreiten konnte, mit der ihm eigens ausgestatteten Verfügungsgewalt, schwupps, da lag das Paar schon im Bett, spliterfasernackt, bereit zum Vollzug.
„Legen Sie wenigstens eine Decke drüber!“ konnte er dem jungen Paar noch zurufen, der arme Mann, denn schon wurde er zum nächsten Brandherd gerufen.
Ein Brandherd im wahrsten Sinne des Wortes, denn aus der nahegelegenen Küchenmöbelabteilung zog ein dicker, absolut nicht weißer Rauch auf und es stank entsetzlich.
Schnell ward der Geschäftsführer der Ursache des neuen Übels gewahr; ein älterer Herr mit Glatze stand vor dem Herd einer Musterküche einer weiteren Nobelmarke und schrie wie am Spieß:
„Meine Pommes Frites brennen, Hilfe, meine Pommes brennen!“
Beherzt entriss Udo Rohringer einem zögernden Angestellten den Feuerlöscher, um eigenhändig den Brand zu löschen.
„Gott sei Dank“ stöhnte er, „das war Rettung in letzter Minute“, als er bereits zum nächsten Ort einer drohenden Verwüstung gerufen wurde.
In der Sanitärabteilung gleich nebenan saß eine hilflose Greisin jammernd in einer Badewanne, aus der das Wasser munter in feinen Strahlen über den Wannenrand floss.
In höchster Not drehte der Geschäftsführer Udo Rohringer höchstpersönlich das Wasser ab und reichte der Alten ein Badetuch.
„Nicht weinen, Großmütterchen“, tröstete er sie nach altrussischer Art.


Dann aber brach es aus ihm hervor.
„Ja, sind denn alle hier verrückt geworden!“, brüllte er wie von Sinnen, als ihm zu allem Überfluss ein weiterer Ort des Schreckens aufgezeigt wurde.
In der gleichen Sanitärabteilung, nur ein paar Meter weiter, erblickte er einen Mann mittleren Alters, der sich in einem der ausgestellten WC’s offensichtlich daran begab, seine Notdurft zu verrichten, dabei war ihm wohl entgangen, dass diese Toilette gar keinen Abfluss besaß.
Mit äußerster Mühe gelang es Udo Rohringer, dem Bedrängten sein Vorhaben auszureden und ihn zu überzeugen, die Kundentoilette aufzusuchen; da sei es schließlich gemütlicher und darüber hinaus gäbe es da auch noch Türen, die man schließen könne, damit nicht alle teilhätten, an der gewiss notwendigen körperlichen Erleichterung.
Im gleichen Augenblick aber überzog ein breites Grinsen das Gesicht des Mannes.
„Aber das wollte ich ja erreichen, mit meiner Aktion“, ließ er sich vernehmen, während er die Hosen hochzog.
Der Geschäftsführer verstand nur Bahnhof.
„Was wollten Sie denn erreichen. Mit welcher Aktion?“
„Nun, dass alle teilhaben, an meinem geplanten Vorhaben, dem Vorhaben“, wies er auf das Ausstellungs-WC, „an dem Sie mich gehindert haben.“

Udo Rohringer wechselte die Gesichtsfarbe.
‚Ein Arzt muss her’, sagte er sich, ‚ein Arzt, unbedingt, aber einer für psychische Leiden.’
Mit Mühe gelang es ihm, sich zu beherrschen.
„Und warum, lieber Freund“, sprach er den Notdürftigen an, in einem Tonfall, den er hierfür angemessen hielt, „warum sollten wir alle teilhaben, an dieser Aktion? Meinen Sie vielleicht, Sie bereiten uns damit eine besondere Freude?“
„Ihnen wohl nicht, aber den Anderen schon, wies dieser auf die größere Menschenmenge, die sich zwischenzeitlich eingefunden hatte.
Der Geschäftsführer musste sich setzen, und in Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit nahm er selbst auf einem der WC’S Platz.
‚Ich glaube, ich brauche selbst einen Arzt’, dachte er verzweifelt, und die Verzweiflung erreichte ihren Siedepunkt, als er all die Verursacher des Schreckens der letzten Minuten nach und nach eintreffen sah:
Zuerst das junge Paar aus dem Doppelbett, nicht mehr ganz unbekleidet, sondern in zünftigen Pyjamas, dann den Greis mit den brennenden Pommes frites, und schließlich die Oma aus der übergelaufenen Badewanne, auch sie hatte sich inzwischen was übergezogen.
Schon dachte er, dass es besser sei, einfach vorsorglich in Ohnmacht zu fallen, sollten doch die Ärzte für das weitere sorgen, als der Mann mit der zurückgehaltenen Notdurft ihn ansprach.
„Sie verlangen gewiss nach einer Erklärung, für das all diese Aktionen, hier?“
Udo Rohringer nickte kaum merklich

„Nun gut, die sollen Sie haben. Mein Name ist Rumleder, Eberhard Rumleder und diese Dame dort“, wies er auf die Oma aus der Badewanne, „ist meine Mama so wie dort der Herr“, zeigte er auf den Pommes Frites Geschädigten, „mein Papa, und die Beiden dort schließlich“, fügte er hinzu, „sind meine Schwiegertochter Monika und mein Sohn Alfred. Fehlt nur noch meine Frau, Astrid, sie wollte noch kurz bei den Gardinen vorbeischauen.“
Auf einen nervösen Wink des Geschäftsführers machten sich zwei Angestellte, mit Feuerlöschern bewaffnet, unverzüglich auf den Weg zur Gardinenabteilung.
Man konnte ja nicht wissen.

Eberhard Rumleder aber fuhr ungerührt fort.
„Wir alle wohnen zusammen in einem Gebäude, auf drei Etagen, mit getrennten Eingängen, versteht sich. Vor längerer Zeit, ich betone ausdrücklich, vor längerer Zeit, haben wir unser Haus komplett renoviert und aus diesem Anlass folgende hochwertige Möbel bei Ihnen bestellt:
Drei Schlafzimmer, drei Küchen, drei Bäder und drei Wohnzimmer.“
Udo Rohringer glaubte sich zu erinnern.
„Ach, Sie waren das? Soweit ich mich entsinnen kann, gingen die Kaufverträge damals durch meine Hand.“
„Soso, soweit Sie sich entsinnen können“ wiederholte der Eberhard Rumleder boshaft, „das ist ja schön, dass Sie sich noch daran erinnern. Wissen Sie eigentlich, wie viel Zeit seitdem vergangen ist?“
Der Geschäftsführer wusste es nicht.
„Drei Jahre“, brüllte der genervte Kunde, „drei verdammte Jahre. Und seit dieser Zeit wurden wir immer wieder vertröstet, mit den Lieferungen. Und wissen Sie eigentlich, wo wir seit drei Jahren wohnen, guter Mann?“
Der gute Mann bedauerte, und ihm schwante nichts Gutes.
„Seit drei Jahren hausen wir in einem Wohnmobil, in unserem Garten, alle Mann zusammen, können Sie sich das vorstellen?“
Das konnte er wirklich nicht, der Geschäftsführer, beim besten Willen nicht.
„Das ist ja furchtbar“, stammelte er.
„Das ist mehr als furchtbar, das können Sie glauben, und damit Sie sehen, wie furchtbar das ist, damit Sie einen kleinen Eindruck davon erhalten, werden wir unsere begonnenen Aktionen fortsetzen, hier im Hause, und wir bewegen uns nicht von hier fort, bis uns der letzte Hocker geliefert wurde, das schwören wir Ihnen.“
Udo Rohringer, der Geschäftsführer, wischte sich die Schweißperlen aus dem Gesicht, eine nach der anderen.
Plötzlich aber umspielte ein Lächeln seine Lippen.
„Da brauchen Sie gar nicht so zu grinsen. Die Sache ist ernst, verdammt ernst“ schrie Eberhard Rumleder!“



„Entschuldigung, mir ist ja vollkommen bewusst, dass es ernst ist, und daher mache ich Ihnen einen absolut ernst zu nehmenden Vorschlag. Führen Sie Ihre Aktionen ruhig weiter fort, ich bitte Sie sogar darum, nur, sagen wir mal, so, in etwas dezenterer Form, ein wenig schambewusster, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bleiben Sie einfach unsere Gäste, bis der letzte Hocker, wie Sie so trefflich formuliert haben, geliefert ist: Ziehen Sie ein, in unsere Abteilung für Luxusmöbel, und für die Kost ist neben der Logis hier selbstverständlich auch gesorgt.“
Die zahlreichen Schaulustigen klatschen spontan Beifall und ermunterten die überraschten Familienmitglieder, dieses äußerst großzügige Angebot doch anzunehmen, und das taten diese denn auch.


Zwischenzeitlich wohnt die Großfamilie seit mehr als zehn Jahre in den Räumen des Möbelhauses, bei freier Logis, und macht keinerlei Anstalten mehr, von dort wegzuziehen, und die Möbelfirma hat keinerlei Interesse, die ursprünglich georderten Möbel überhaupt noch zu liefern.

Stattdessen lässt sich die Familie täglich bestaunen wie Wildtiere im Zoo, von einer stetig steigenden Menschenmenge und nicht wenige Zeitgenossen sehen dieses ungewöhnliche Ereignis als die Geburtsstunde einer der umstrittensten wie auch erfolgreichsten Fernsehsendung der Welt an, die da lautet:

Big Brother
 



 
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