Die Gerechtigkeit kommt zu Fuss

Eilan

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Seit tausenden von Jahren lebte auf dem höchsten Berg der Welt die Frau Gerechtigkeit. Sie lebte einsam und verlassen. Von dem Spitz des Berges, auf dem sie wohnte, konnte man die ganze Welt überblicken. Da Frau Weisheit sehr gute Augen besaß, konnte sie auch erkennen, was die Menschen alles taten. Und immer wenn irgendwo eine Ungerechtigkeit geschah, sah sie diese. Sie folgte dem Verbrecher oder dem Ungerechten mit ihrem Blick und sorgte dann dafür, dass die Person eine Lektion erteilt bekam. Den Verbrechern schickte sie die Polizei auf den Hals und den Ungerechten das Gewissen. Und manchmal, wenn das Gewissen nichts nützte, eine kleine Portion Unglück, welches sie von der Göttin Fortuna geliefert bekam.

Doch eines Tages trug es sich zu, dass die bestellte Lieferung an Unglück nicht ankam. Frau Gerechtigkeit hatte jedoch eine Ungerechte zu bestrafen, die sich von ihrem Gewissen nicht mehr beeinflussen ließ. So zog eine zerschlissene Kutte an und machte sich daran, den Berg hinunterzusteigen. Zu Fuß machte sie sich auf den Weg zum Haus der Ungerechten. Es war leicht es zu finden. Es war ein großes, dunkles, protziges Haus. Einer dieser neumodischen Betonklötze.

Sie ging zur Tür und klingelte. Eine Frau machte auf. Sie sah Frau Gerechtigkeit an, spuckte vor ihr auf den Boden und meinte: "Wir spenden nicht, und jetzt hau ab, du Lumpengesindel!" Mit diesen Worten schlug sie die Tür zu. Da wurde die Gerechtigkeit wütend. Sie stieß die Tür auf, packte die ungerechte Frau und schüttelte sie. "Wenn du immer nach dem Äußeren beurteilst, dann ist es kein Wunder, dass du deinem Sohn so etwas Ungerechtes antun konntest, wie ihn vor die Tür werfen, nur weil er etwas heruntergekommen aussieht und dir seine Freundin nicht passt! Dass du den Hund auf einer Autobahnraststätte ausgesetzt hast, weil du ihn nicht mehr spazieren führen und füttern wolltest!"

Sie nahm die Frau und hängte sie mit einer großen Klammer am Ast eines Baumes, der im Garten stand, auf. "Da bleibst du hängen, bis sich deiner jemand erbarmt und dich aus eigenem Willen herunterholt!", sagte sie zu der wild strampelnden und vor sich hin fluchenden Frau. "Das wirst du mir büßen!", kreischte sie die Gerechtigkeit an. Diese lachte jedoch nur und ging heimwärts auf ihren Berg.

Von dort aus beobachtete sie, wie viele Menschen an der Frau vorbeigingen. Bis jemand vor dem Baum stehen blieb und sie von dem Ast herunterholte. Es war ihr Sohn, dem sie unrecht getan hatte. Und doch hatte er ihr geholfen. Frau Gerechtigkeit war zufrieden mit sich und hielt nach einem neuen Ungerechten Ausschau.
 



 
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