Die Geschichte meines Lebens

Ich kann mich nicht mehr an meine Kindergartenzeit erinnern.
Nicht einmal mehr an den Namen meiner Erzieherin, die mich diese drei Jahre lang bis zu meiner Einschulung begleitet hat.
War sie eine Frau von großer und schlanker Statur?
Oder wie meine Mutter, klein und dicklich?
Band sie ihr langes, seidiges Haar jeden Morgen nur schnell zu einem Pferdeschwanz zusammen oder flocht sie es liebevoll zu einem Zopf?
Dass sie es offen trug, kann ich mir nicht vorstellen.
Langes offen getragenes Haar zieht kleine wilde Kinderhände magisch an.
Eine schmerzhafte Erfahrung, die man dann doch nicht jeden Tag aufs Neue machen möchte.
Vielleicht aber trug sie ihr Haar auch ganz kurz, so eine Art Bubikopf?
Einen Wuschelkopf, der nie Lockenwickler gesehen hat?
Die Haarfarbe?
Ich kann mich an nichts mehr erinnern!

Wie mag mein Kindergartengebäude wohl ausgesehen haben?
Wenn ich heute an einem Kindergarten vorbeikomme, dann weiß ich sofort, hier hätte ich mich als Kind wohl gefüllt.
Große Fenster von Kinderhand voll gemalt mit bunten Blumen, lachenden Menschen, einem endlosen blauen Himmel und einer Sonne, deren Lachen sofort jeden Kummer vergessen lässt.

Wie Blumen in einem großen Garten, so sollen sich Kinder frei entwickeln, war sie für mich die große Wiese und ich ihre einzigartige Wiesenblume? Ich habe nie eine Antwort darauf gefunden.
Gab es in meinem Kindergarten einen großen Außenbereich mit einem riesigen Sandkasten, wo ich mir an heißen Sommertagen, unter Schatten spendenden Laubbäumen meine eigene heile Welt auf Zeit erschuf?
Vielleicht war es ja für mich auch das Schönste und Größte an solchen brütend heißen Tagen, denn einen richtigen Sommer, das weiß ich noch wie heute hatten wir jedes Jahr, stundenlang an der Wasserpumpe zu verweilen und mit dem nassem Sand
Wasserstraßen zu bauen, die dann von meinen Papierschiffen befahren wurden.
Oder bin ich bis zur totalen Erschöpfung unermüdlich die Rutsche rauf und runter, solange bis die Hose durchgewetzt war?
Haben meine Füße beim Schaukeln die Wolken berührt?
So furchtlos und wild war ich, und meiner Kindergärtnerin kam aus dem Schwitzen gar nicht mehr heraus, nicht nur der Hitze wegen.
Ich weiß es beim besten Willen nicht mehr!

Das, an was ich mich bis heute nur all zu gut erinnere, seid ihr, meine eigenen Eltern.
Eigentlich auch selbstverständlich sollte man meinen, allerdings, habe ich mir bis heute noch jeden Tag gewünscht ihr würdet zu meiner Kindergartenzeit und umgekehrt - leider vergeblich.
„Rosaschwarz“ habe ich euch solange ich zurückdenken kann genannt.
„Rosaschwarz“ bestimmt schon viel zu lange mein Leben.
Zartrosa ist meine Babyhaut, bis „Rosaschwarz“ sie mit blauen Flecken und dunklen, geschwollenen Striemen verziert hat.
In einer rosafarbenen Badewanne wollte ich zärtlich berührt gebadet werden.
Mein rosafarbenes Glücksschwein aus Marzipan hat „Rosaschwarz“ einfach aufgefressen.
Eure maßlose und mit Worten nicht mehr zubeschreibende Gewalttätigkeit gegen mich, die mich noch heute Tag und Nacht verfolgt.
Die Narben überall an meinem Körper sind nicht einmal das Schlimmste daran.
Es ist dieser langsame und nicht aufzuhaltende seelische Tod, dem man aber auch gar nichts entgegenzusetzen weiß, und den man selbst irgendwie nie wahrhaben wollte und weiterhin nicht wahrhaben will.
Bis zum heutigen Tag habe ich die Botschaft dessen, was mich ausmacht, nicht verstanden.
Dass dieser Verlust von Erinnerungen nur zu meinem Besten ist, so eine Art Selbstschutz vor noch mehr Pein.
Das, was mich ausmacht, hat meine Vergangenheit ohne meine Zustimmung zur Verschlusssache mit höchster Priorität erklärt.
Nur sehr selten gelingt es mir, diese ohne mein Wissen und Zutun von mir selbst entwickelten und ineinander greifenden Schutzmechanismen, auszuhebeln, und jetzt müsste ich mir eigentlich nur nehmen, was sowieso mir allein gehört, wenn ich da nicht wieder diese Kleinigkeit übersehen hätte:Angst!
Die simple Angst vor dem, was dann wohl zwangsläufig folgen würde, denn die Wenigsten ertragen erwiesenermaßen die Wahrheit,
ich schon gar nicht!
Als kleiner Junge wollte ich immer Tierforscher werden und die Welt bereisen.
Und so machte ich mich, selbst wenn es Hunde und Katzen regnete, auf den langen Fußmarsch zum etwa 3 km weit entfernten Wald wo gut verborgen ein sehr kleiner Weiher alles ist, was nach der Verlandung des Sees übrig blieb.
Hier konnte ich in einer nie gekannten Stille und ganz in meine Forschungsarbeiten versunken, alles Nicht – Entdeckte und bereits Entdeckte, auf meine ganz eigene Weise neu entdecken.
Schon der Gedanke daran Menschen in aller Welt durch das Fernsehen oder das Lesen meiner Fachbücher und viel beachteten Artikel in Fachzeitschriften unsere faszinierende und schützenswerte Natur in all seiner Komplexität und manchmal auch geradezu naiven Einfachheit nahe zubringen, hielt mich so in Bann, dass ich „Rosaschwarz“ oft für Stunden vergaß.
Überall kreuchte und fleuchte es.
Libellen, deren atemberaubende Flugkünste eine besonders große Anforderung an meinen Gleichgewichtssinn stellten, wenn ich ihren rasendschnellen Zickzack – Flügen wieder einmal auf den Überresten des verrottenden Baumes, dessen Wurzeln wahrscheinlich dem letzten großen Unwetter vor einigen Jahren nicht standhielten und der jetzt weit ins Wasser hineinragt, zu folgen versuchte.
Im späten Frühjahr war ich auf der Suche nach den Gelegen des Gemeinen Laubfrosches, dessen Bestand bei uns leider rückläufig ist.
Mein Forscherdrang und die daraus resultierende akribische Suche wurde dann auch meistens belohnt, im Fall des Gemeinen Laubfrosches mit einem frischen Gelege bestehend aus ca. 100 Eiern, aus denen in wenigen Tagen die Kaulquappen schlüpfen.
Der Schwur, den ich feierlich auf dem verrottenden Baum, der weit in den Weiher hineinragt, abgelegt hatte, verbat es mir dem Gelege auch nur ein einziges Ei, nicht einmal für Forschungszwecke und Nachzucht, zu entnehmen.
Vielleicht etwas weniger schön anzusehen, aber mindestens genauso wert von mir beobachtet und erforscht zu werden, war die Erdkröte.
Die Färbung ihrer mit Warzen übersäten Oberseite reichte von Grautönen über Gelbtöne bis hin zu Brauntönen.
Die Inaugenscheinnahme ihrer Unterseite verschob ich anfangs immer wieder, war mir aber bewusst, dass, wer ein richtiger Tierforscher sein wollte, allen Tieren den gleichen Stellenwert beimessen musste.
Kurzum.
Ihre Unterseite war viel weniger spektakulär, als ihre Oberseite:
Ein ich würde mal sagen verschmutztes Weiß und eine dann von mir sehr oft beobachtete dunkelfarbene Marmorierung.

Ein Tier aber habe ich selbst nach vielen Jahren intensivster Suche nie zu Gesicht bekommen: Die ungiftige Ringelnatter.
Es gab jedoch für ein waches Auge und eine empfindsame Wahrnehmung, so viel unglaublich aufregende Dinge an diesem Stillgewässer zu sehen, dass ich nicht lange Zeit hatte, der Ringelnatter, die ja vielleicht hier gar nicht vorkam, nachzutrauern.
Wie gesagt, Tierforscher wollte ich einmal werden.
Wäre da nicht eure Gleichgültigkeit gewesen, die jedem nur halbwegs fühlenden und wahrnehmenden Menschen die Zornesröte ins Gesicht treiben musste und die meinen Kindheitstraum wie eine Seifenblase zerplatzen ließ.
Und zu all meinem Leidwesen ist es dann auch bei der kurz andauernden Gesichtsverfärbung geblieben … sich nicht einmischen ist auch viel bequemer und so schlimm wird das alles ja schon nicht sein, wir haben das schließlich auch überlebt.
Noch nachträglich meinen Dank an euch Nachbarn und zufällig vorbeigekommenen Mitmenschen.


Wäre es bei den verlorenen Erinnerungen an meine Kindergartenzeit geblieben, ich hätte alledem mit Sicherheit keine allzu große Bedeutung beigemessen.
Ist nun mal schon sehr, sehr lange her.
Und sollte ich irgendwann eigene Kinder haben, bin ich mit Sicherheit nicht der einzigste Vater, der seinen Kindern abends beim Schlafengehen so gar nichts von diesen drei bedeutungsvollen Jahren zu erzählen weiß.
Aber ich habe fast alles verloren!
Nur „Rosaschwarz“ werde ich nicht mehr los. Wie es aussieht, mein ganzes restliches beschissenes Leben lang.
Ich weiß selbst, dass es für meine Biografie viel zu früh ist.
Mit zwanzig Jahren liegt noch so viel Lebenszeit vor mir.
Ich bin weder aufgrund einer schweren Krankheit dem Tode geweiht, noch habe ich vor Hand an mich selbst zu legen.
Es gibt also überhaupt keinen Grund für mich, das bis dahin gelebte Leben noch einmal Revue passieren zu lassen, um es dann für wen auch immer niederzuschreiben.
Nicht für irgendjemanden. Für mich ganz allein. Für meinen Frieden mit Gott und der Welt. Für meinen Seelenfrieden.
Eine kaum vorstellbare und zu ertragende Tragödie, würde ich das Geschehene ohne hinterfragen einfach als einmal geschehen hinnehmen.
Die Blätter der sommergrünen Bäume werden schon sehr bald in wunderschönen Herbstfarben leuchten.
Die Tageslängen werden dann gegenüber den Nachtlängen wieder abnehmen und die meisten von uns nicht zögern ihr alljährlich wiederkehrendes Klagelied anzustimmen, um sich am Ende wieder jeder auf seine Weise über die sonnenarme Zeit hinwegzutrösten.
Ich dagegen werde mich wie jedes Jahr wieder auf einen monatelang andauernden Kampf, nicht gegen die kommenden Naturgewalten, sondern gegen mich selbst, vorbereiten.
Der immer wiederkehrende von Angst erfüllte Gedanke nimmt Gestalt an: Das natürliche Licht durch Künstliches ersetzen, zu müssen.
Die von der Sonne tagsüber abgestrahlte Energie wird nicht mehr ausreichen das Mauerwerk meiner kleinen Dachgeschosswohnung mit Wärme zu speisen, und ich werde mich, ob ich will oder nicht damit abfinden müssen, dass ich, sollte ich abends beim Fernsehen nicht frieren wollen, um die wärmende Decke, die nur noch meinen Kopf freigibt, nicht umher komme oder besser gleich die Heizung einschalten.
Die Weinbauern aus meiner Nachbarschaft würden meine Gedankenflut sicherlich nur mit einem unmissverständlichen Vogelzeigen und Kopfschütteln quittieren, Grund und Zeit jetzt in Lethargie zu verfallen haben sie einfach nicht und somit auch kein Verständnis für jemanden wie mich.
Sie blieben immer Optimisten, selbst, wenn wieder einmal alles gegen einen guten Jahrgang sprach, und so sind sie wie könnte es anders sein, auch in diesem Jahr felsenfest davon überzeugt, dass es vor der anstrengenden Weinlese in den steil abfallenden Weinbergen noch die eine oder andere sonnige Woche geben wird, um den Zuckergehalt der Weintrauben noch einmal entscheidend ansteigen zu lassen.


Beide Handflächen aufeinander gelegt, nur die Fingerkuppen beider Hände klopfen fordernd vor meinem Gesicht gegeneinander, versuche ich im abgedunkelten Raum tief in mich hineinzuhorchen.
Komm schon. Nur ein einziger kleiner Hinweis, der dann den Stein ins Rollen bringt.
Vielleicht haben ja die vielen Schläge in mein Gesicht und gegen meinen Kopf, bei einem der unzähligen Straßenkämpfe, die ich seit meiner Kindheit immer wieder mit den anderen Straßenkids aus der untersten sozialen Schicht austrug, mein Gehirn nachhaltig geschädigt?
An die Schlägereien kann ich mich, warum auch immer noch sehr gut erinnern.
Wahrscheinlich deshalb, weil ich immer als Sieger aus diesen brutal geführten Fights hervorging, was ganz sicher vor allem meinem Kämpferherz zu verdanken war und der Fähigkeit selbst stärkste Schmerzen, die mir von meinen Gegnern meistens auf hinterhältige und unfaire Weise zugefügt worden waren, ohne eine Träne zu vergießen wegzustecken.
Der Schmerz hatte für nichts mehr, vor dem ich mich fürchtete.
Ganz im Gegenteil: Ich fühlte mich den anderen Straßenkids gegenüber überlegen, die schon beim kleinsten Wehwehchen zu wimmern und jammern begannen, obwohl auch ihr Tagesablauf von lauter Gewalt gegen sie bestimmt wurde.
Vielleicht lag ja mein Vorteil darin, dass ich die Fähigkeit besaß, den Schmerz, den ich mir selbst zufügte, zum Beispiel mit tiefen Schnitten in die Arme mit einer messerscharfen Rasierklinge aus dem Nassrasierer meines mir verhassten Vaters, so zu unterdrücken, dass ich nur ganz kurz beim ersten Eindringen dieses silberfarbenen Selbstbestrafungswerkzeugs in meinen Körper, ein leichtes Unbehagen verspürte.
Dann aber überwog das Glücksgefühl das der rote Lebenssaft auf meiner mit blauen Flecken und dunklen langen Striemen übersäten Haut, die vom nur für Züchtigungszwecke verwandten Ledergürtel mit der großen Metallschnalle herrührten, hervorrief.
Es gab aber auch Tage oder Nächte, da waren die tiefen Schnittwunden in meinen Armen nicht Selbststrafe genug und meine Selbstvorwürfe forderten einen noch höheren Blutzoll von mir, noch mehr Schmerzen, die meinen Sinnen und Gefühlen alles abverlangten sollten.
Beim ersten Mal habe ich die blutverschmierte Rasierklinge noch vor dem Badspiegel zum Kopf geführt.
Die Hand hat gezittert.
Angesetzt.
Dann weggelegt.
Wieder angesetzt.
Dieses Teufelswerkzeug einfach in der Toilette entsorgen, nein, dieser andere gangbare Weg kam für mich letztendlich nie in Betracht.
Zu stark ist der Drang, der in einem solchen Augenblick tief im Innersten geboren wird.
Ich bin ja auch ein schlechtes Kind.
Gott sieht das genauso, sonst würde er mir diese körperliche und seelische Selbstverstümmelung doch ersparen.
Alledem ein Ende setzen, indem er meine Eltern endlich zur Hölle fahren lässt, oder noch besser beim nächsten Schnitt in meinen Kopf dafür Sorge trägt, dass ich diesen so unglücklich gegen mich selbst führe, dass mein unseliges irdisches Dasein nicht zur lebenslangen Tragödie ausufert.
 



 
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