Die Geschichte von Frankie

Die Geschichte von Frankie


Frankie wohnte sein ganzes Leben lang im selben elterlichen Haus in Jerusalem – zwischen Bahngleisen und Kanalhafen. Jerusalem: so nannten die Menschen Frankies Viertel am Rande jener Kleinstadt. Dieser ganze Ort gliederte sich in Bezirke mit mystischen Namen: Jericho, Bethlehem, Klein-Marokko, Kuba und andere. Nur noch wenige wussten, woher die Bezeichnungen stammten. Bei Jericho war man sich sicher: das Unterbett der Hauptstraße dort bestand aus zerschlagenen Grabsteinen vom alten jüdischen Friedhof – recycelt in einer anderen Zeit. – Das war Frankies Stadt. Seine kleine große Welt. Das Haus hatte sein Vater, Schachtmeister im Tiefbau, einst selbst gebaut. Frankies Mutter bezog später Blindengeld, obwohl sie gut genug sehen konnte, um gelegentlich als Beifahrerin Autofahrer auf Verkehrsgefährdungen hinzuweisen. Aber Frankie besaß kein Auto. Sein Leben lang nicht. Er besaß auch keinen Führerschein. Und kam ohne all das ganz gut zurecht.
In jungen Jahren wurde Frankie zunächst Rocker, als er sich von seinen Eltern und seiner Schwester zu emanzipieren begann. Die passende Kleidung hatte er sich besorgt, und so trug er im heißen Sommer schwere Ledersachen und ging im kalten Winter im Oberhemd. Ein Motorrad konnte er sich nicht leisten, aber ein Moped der unteren Leistungsklasse reichte, um in seine Bande aufgenommen zu werden. Sie trafen sich im Eissalon Nordpol. Das Nordpol war in einer Baracke untergebracht zwischen Kurzwaren- und Lebensmittelläden, angelehnt an Mauerreste von ausgebombten Häusern, die auch nach Kriegsende noch etliche Jahre das Bild dieser während des Krieges von starken Bombenangriffen heimgesuchten Stadt bestimmten. Irgendwann kam der Wohlstand und die Baracken wurden niedergerissen, und an ihrer Stelle schmucke Geschäftsläden neu errichtet. Aber da war Frankie schon lange kein Rocker mehr.
Er arbeitete jetzt in der Strumpffabrik und hatte sein Hauptquartier nach Venezia verlegt – einer neuen Eisdiele am Busbahnhof. Und er war schnieke geworden, legte Wert auf sein Äußeres. Die Motorradjacke hatte er abgelegt. Stattdessen trug er in seiner Freizeit dunkelblaue Anzüge mit weißen Hemden und weinroten Krawatten. Dazu ebenfalls dunkelblaue spitze Wildlederschuhe mit roten Perlonsocken. Wenn man ihn an den Wochenenden oder nach Feierabend treffen wollte, fand man ihn regelmäßig vor dem Eingang des Eissalons. Häufig sprach er seine Bekannten wegen Geld an – nicht um sie anzupumpen. Sein Anliegen war es, in den Besitz eines Einhundert-Mark-Scheins zu kommen. Wohlgemerkt – er hatte einhundert Mark in kleineren Scheinen bei sich. Die wollte er gegen den großen einwechseln. Dann betrat er das Eiscafé, wo ihn jeder kannte, bestellte sich eine Kleinigkeit und zahlte mit dem Hunderter. Er war ein Mann von Welt geworden, jemand der gut verdiente und sich Einiges leisten konnte. Er trug grundsätzlich nur Hunderter mit sich herum.
Frankie besaß also keinen Führerschein. Sein Moped hatte er irgendwann gegen das alte Damenfahrrad seiner Mutter eingetauscht. Ansonsten bewegt er sich mit dem Bus von Ort zu Ort. Das reichte ihm, da er seine Heimatstadt ohnehin nie verließ. Eine Zeit lang führten ihn also seine Freizeitwege nach Feierabend oder an Wochenende häufig an Venezia vorbei. Dort am Busbahnhof war ja Umsteigestation. Und er hatte keine Freundin – ein eingefleischter Junggeselle. Aus seiner alten Rockerzeit waren ihm noch ein paar Freunde geblieben, mit denen er sein Geld – nach Hunderten sortiert – in den Kneipen der Innenstadt oder am Rande von Jerusalem in Bier umtauschte.
Auch als Frankie älter wurde, legte er sich keine Freundin zu. Seine blauen Anzüge wurden mit der Zeit fadenscheinig, die alten Freunde weniger und die Wege in die Innenstadt seltener. Er blieb viel lieber zuhause, und von seinem Geld mehr und mehr in seinem Portemonnaie.
Als Frankies Eltern nacheinander starben, blieb er in dem Haus wohnen und übernahm den alten Haushalt, so wie er war: die Möbel stammten aus der Zwischenkriegszeit. Es gab keine Heizung, nur einen Kohleofen in der Wohnzimmerecke. Frankie schlief weiterhin in dem Eisenbett, in dem er seit seiner Jugend immer gelegen hatte. Als Matratzenschoner dienten ihm alte Zeitungen. Wenn er fernsehen wollte klopfte er bei seinem Nachbarehepaar an, das sich freute, wenn er abends vorbeischaute. Er saß dann gerne lange auf vor dem Gerät, und seine Nachbarn gingen schon schlafen, wenn er noch auf deren Sofa hockte, mit der Bitte, er möge den Apparat ausschalten, bevor er in seine eigene Wohnung zum Schlafen zurück ging. Alles verlief einvernehmlich. Er war bedürfnislos geworden. Sein Leben bewegte sich mit dem alten Fahrrad seiner Mutter zwischen Strumpffabrik und Jerusalem.
Frankies großes Geheimnis war die Lade links außen am Küchenschrank – ein Möbel aus den fünfziger Jahres des letzten Jahrhunderts. Diese Lade war vollgepfropft mit Geldscheinen: nicht sauber gebündelt oder sortiert nach Größen – nein: ein wahres Durcheinander über die ganze Lade verteilt – und nicht nur Hunderter, sondern alle Sorten. Diese Lade besaß kein Schloss und keinen Schlüssel. Da er gut verdiente, kein Sparkonto hatte und anspruchslos geworden war, holte Frankie an jedem Ersten sein gesamtes Geld von seinem Girokonto ab, bezahlte per Überweisung Strom und Wasser, und was sonst noch anlag. Dann steckte er etwas in sein Portemonnaie. Der Rest wanderte in die Lade. Ab und zu entnahm er etwas für seinen Lebensunterhalt, aber sein zinsloser Reichtum im Küchenschrank wuchs langsam aber stetig. Er sah den Ladeninhalt nicht als verborgenen Schatz an. Frankie hatte die Beziehung zum Geld verloren.
Er erzählte seinen Nachbarn, bei denen er also gelegentlich Fernsehen guckte, von der Quelle und bot ihnen an: „Wenn Ihr ein Problem habt, nehmt was. Nehmt, was Ihr braucht. Es ist genug da.“ Die guten Leute machtem von dem Angebot niemals Gebrauch.
Aber eines Tages dann doch – nach langem guten Zureden: ihre Waschmaschine hatte den Geist aufgegeben. Da holte Frankie ein Bündel Scheine aus seiner Lade und überzeugte seine Freunde, das Geld anzunehmen. Das war das erste und einzige Mal, dass sie Geld von ihm annahmen, obwohl die Lade immer offen war.
Eines trüben Herbstmorgens fiel Frankie das Aufwachen schwer. Sein rechter Arm und sein rechtes Bein fühlten sich taub an, und die Taubheit setzte sich auch über den Nacken bis zum Ohr und zum rechten Augenlid fort. Er drehte sich vorsichtig aus dem Bett und versuchte, sich zu setzen, fiel aber gleich wieder zurück. Mit vielen Mühen gelang es ihm endlich, aufzustehen, wobei er sich sofort an der Lehne des Stuhles festhalten musste, auf dem er am Abend zuvor seine Kleidungsstücke abgelegt hatte. Er brauchte lange, um sich anzuziehen. Vorsichtig verließ er das Haus. Ihm war klar, wohin er musste, aber seine Nachbarn waren beide zur Arbeit gegangen, und ein Telefon besaß er nicht.
Frankie versuchte es mit dem alten Fahrrad, aber er konnte sich nicht mehr darauf halten. Schließlich schleppte er sich zur nächsten Bushaltestelle. Sie war nicht weit – vielleicht einhundert Meter. Er sagte dem Fahrer das örtliche Hospital als Zieladresse an. Unterwegs glitten am Fenster des Busses die Häuser und Straßen, die Kirche und die Supermärkte, die alten Fabrikgebäude, die Cafés und die Wirtshäuser an ihm vorbei. Bei Venezia musste er umsteigen. Seine alte Wirkungsstätte nahm er nur noch wie durch einen Nebel wahr. Er brauchte keinen Hunderter mehr, sein Kleingeld reichte. Verkehrsgeräusche drangen wie durch Watte an sein Ohr. Schließlich fand er den Anschlussbus, der ihn ins Krankenhaus brachte.
Frankie erholte sich von seinem Schlaganfall nicht mehr. Bei seiner Beerdigung hatten sich neben dem Pfarrer und dem Bestatter noch sechs Menschen an seinem Grab versammelt: seine Schwester mit ihrem Mann, seine Cousine mit ihrem Mann und das Nachbarehepaar.
Nach der Beerdigung trafen sich die Sechs im Stadtparkrestaurant: es gab Beerdigungskuchen und Kaffee. Frankies Cousine hatte kein Problem, die Rechnung zu begleichen. Die restlichen dreißigtausend Euro aus der Küchenschranklade teilte sie sich mit dem Nachbarehepaar. Es war alles da, was sie brauchten.
 



 
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