Die Gestrandeten

caspAr

Mitglied
Die Gestrandeten

Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.
Leo Tolstoj

Ich lebe im französischen Viertel Shanghais und nenne eine kleine Wohnung mein Eigen. Meine kleine Wohnung liegt im dritten Stock eines alten Kolonialhauses, hinter einer Kaserne, abgelegen vom Lärm der Straße und von vier Pappeln umschlossen. Meine Nachbarn sind alte runzlige Chinesen, die auf der Straße waschen und kochen, wenn ich mich morgens auf den Weg zur Arbeit mache. Die Zimmer meiner Wohnung habe ich übersichtlich eingerichtet. Man findet dort nichts Überflüssiges und es beruhigt mich, wenn ich nach Hause komme und eine zuverlässige Aufgeräumtheit mich empfängt.
Meine Versetzung nach China geschah innerhalb von Stunden. Und als ich Europa in Schutt und Asche hinter mir gelassen hatte, begann ich dankbar und hochmotiviert vor einem Jahr meine Arbeit hier vor Ort. Als Abgesandter Europas lastet eine schwere Verantwortung auf mir. Durch jahrelange harte Arbeit und der Mitgliedschaft in einer der letzten bildungspolitischen Eliten, ist es mir gelungen, nicht Teil des Exodus zu werden, welcher sich in den letzten Jahren beständig aus dem Westen über China ergießt. Heute versuche ich in Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden die lokale Asylproblematik zu regulieren. Meine aufgenommen Forschungen an der hiesigen Sternengruppe errechnen Prognosen für die kommenden Jahre und dieser Auftrag sichert mir mein Leben - ich bin wichtig. Wichtig für China. Natürlich nagen immer Zweifel und Vorwürfe in einem selbst, denn in einer Welt in der man zwischen Pflicht und alten humanistischen Werten hin und hergerissen zu sein scheint, wird es immer schwieriger den richtigen Ton zu treffen.

Ich schätze mich als einen genügsamen, reflektierten Menschen ein, den nicht so leicht aus der Bahn werfen kann. Jedoch brauche ich heute eine Weile um wieder zu mir zu kommen, denn heute Nacht war Ming bei mir. Ihre dunklen Haare hingen wie nasse Algen am Kopf und bedeckten fast ihr gesamtes Gesicht. Sie stand in der mir auch jetzt gegenüberliegenden Ecke meines Schlafzimmers und wiegte ihren Körper hin und her. Dabei gab sie entsetzliche Laute von sich, eine Art kehliges Röcheln, welches klang, als würde sie gerade an ihrem eigenen Blute ertrinken. Um sie herum bildete sich eine schwarze Pfütze, die sich immer weiter in meine Richtung ausbreitete. Ich hatte Ming nicht kommen gehört und auch nicht eingelassen, sie stand dort, und als die Pfütze versuchte meine Bett zu erreichen, verschwand der Spuk so plötzlich wie er gekommen war. Schweißgebadet und mit rasendem Herzen wurde mir in diesem Moment bewusst, dass zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefühl von Schuld mich belastete. Es war meine Entscheidung, Ming den zuständigen Behörden zu melden. Hin und her gerissen, gefangen zwischen emotionaler Eskalation und analytischer Auseinandersetzung mit der Sachlage, befinde ich mich nun in einem Dilemma. Auf der einen Seite sind die Gründe völlig klar und liegen auf der Hand. Seit 12 Monaten ist beschlossen, dass Veränderungen nationaler Genmaterialien ohne wissenschaftliche Zielrichtung hart bestraft werden. Fairerweise erfährt der ein oder andere Angeklagte natürlich auch, dass er seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Leben bezahlen muss. Es gab nichts, was Ming hätte retten können und ich tat nur meine Pflicht. Doch seit dem nächtlichem Ereignis nagen, wie schon erwähnt, Zweifel, Angst und Vorwürfe in mir.

Ming. Vor zwei Wochen kam sie zu mir. Aufgelöst, verzweifelt und dem Ende nah. Sie erzählte mir in allem Vertrauen von ihrer Beziehung zu einem Nordamerikaner und das sie jetzt schwanger sei. Ich saß vor ihr, sichtlich schockiert und vermochte das alles nicht wirklich begreifen. Schwanger? Von einem Nordamerikaner? Entsetzt von den Neuigkeiten brachte ich kein Wort über die Lippen und Ming war voller Emotionen und so angreifbar. Sie merkte überhaupt nicht, wie sie sich immer mehr um Kopf und Kragen redete. Nach einer Weile fasste ich mich und versuchte, so gut es ging, den verständnisvollen Zuhörer zu mimen, was mir anscheinend auch ziemlich gut gelang. Ming fragte mich schließlich nach Rat und ich gab ein paar lapidare Informationen preis. Kniffe und Tricks, um dem Raster zu entkommen, welches die chinesischen Gesundheitsbehörden in den letzten Monaten etabliert hatten, verschwieg ich ihr. Ja, nun wurde wirklich ernst gemacht. Fremden Blut im chinesischen Genmaterial wurde der Kampf angesagt. Mit allen Mitteln und auf allen Ebenen. Ming tat mir leid, denn natürlich musste ich sie den Behörden, in ihrem Fall dem chinesischem Gesundheitskommando, melden. Mich interessierte dabei nicht die hohe finanzielle Prämie. Nein, hier ging es um die Sache. Es musste schnellstens interveniert und eingeschritten werden, denn sonst wäre mein gesamtes Leben verzerrt zu einer Farce und alles woran ich glaubte und wofür ich stand, möglicherweise zunichte. Ming war eine sehr attraktive und gebildete Chinesin und gelegentlich waren wir auch zusammen ausgegangen - alles auf rein beruflicher Basis natürlich. Aber es liegt in der Natur des Menschen sich zu demontieren. Dies alles war mir bekannt und ich hatte es schon tausendmal gesehen, doch bei Ming hinterließ alles einen bittersüßen Nachgeschmack. Im Grunde genommen war ihr politisches Outing das Ende einer möglichen Romanze. Auch dies hatte ich bereits erkannt…

Der Mensch lebt und erlebt Zeit. In einem Käfig, geschaffen aus Gedanken und Gefühlen, ist es egal, welches Land und welche Ideologie Körper und Seele umschlingen. Getrieben von einer permanenten Sehnsucht ist der unproduktivste Zustand für ihn Zufriedenheit. Im Fernseher vor meinem Bett läuft der Trailer des heute Abend stattfindenden Schauprozesses. Ein Franzose muss diesmal dran glauben, mehrere Nordamerikaner und Minderheiten aus dem Osten. Die meisten Vergehen stehen mit Vorkommnissen von Genvermischungsdelikten in Verbindung, die seit dem Erlass vor einem Jahr auf derselben Stufe wie Mord, Vergewaltigung und Staatszersetzung zu finden sind.

Auf dem Weg zur Forschungsstation fallen mir rote Blumen am Wegesrand auf und bei der biometrischen Kontrolle am Eingang des Hengshan Lu Prospekts muss ich feststellen, dass die öffentlichen Verkehrsmittelmittel durchzogen sind von einer süßlichen Nuance Verwesung. Dies kann viele Gründe haben. Man munkelt, dass es Massaker gegeben hätte, draußen, am Rande der Stadt - dort wo die autonomen Regionen beginnen. Paramilitärische Todesschwadronen hätten ganze Arbeit geleistet und Leichen in Massengräbern nahe des Belüftungszentrums verscharrt. Jetzt bin ich irgendwie richtig dankbar für meine Einzimmerwohnung, denn ich nenne auch eine Dusche mein Eigen. Die armen Flüchtlingsfamilien im Park nebenan waschen sich mit Sicherheit nie, auch nicht im Sommer. Ziemlich schlimm das alles…
Ich bahne ich mir meinen Weg durch die Massen von Menschen und dabei laufe ich bewusst zielgerichtet und dies gelingt mir indem ich meinen gesamten Oberkörper anspanne. Falls mir jemand in die Quere kommt, lege ich mein ganzes Gewicht in die Schultern, so dass bei einer Kollision, der mir Entgegenkommende mindestens fünf Meter abprallt und durch die Luft fliegt. Bei Frauen und Kindern bin ich etwas rücksichtsvoller, ich steige entweder über sie hinweg oder remple sie nur unfreundlich an. Auf diese Weise komme ich erfahrungsgemäß sehr zügig zu meiner Arbeitsstelle, dem ersten eurasischem Kindergarten für biologische Desaster in China - kurz genannt MIR. Bevor ich mich jedoch an die Arbeit mache, rauche ich draußen auf der Straße noch ungefähr drei Zigaretten, da ich in den Vormittagsstunden bestimmt nicht mehr dazu kommen werde. Außerdem ist das Rauchen bei uns im Projekt nicht gerne gesehen. Alles ist manchmal sehr neueuropäisch und schwierig in China.

Über die Geschichte von Ming wird in unserer Sektion geschwiegen. Es ist, als hätte sie hier nie gearbeitet - sie es nie gegeben. Wie schnell ein Mensch doch in der Öffentlichkeit in Vergessenheit gerät, denke ich bei mir und laufe durch das Tor, hin zum Gebäude 101. Wenn ich in der Eingangshalle stehe, so kann ich von dort aus Petra in dem durchsichtigen Kasten sitzen sehen, der bis vor zwei Wochen auch noch Mings Büro war. Auf diesen Würfel aus Glas waren beide besonders stolz, denn er wurde ihnen als Neuerung beim letzten Umbau des Kindergartens versprochen. Jetzt sitzt sie darin und sieht dabei aus, wie ein seltenes, verstörtes Exemplar im Tierpark. So ganz allein und verlassen. Petra ist eine Pfarrerstochter und hat für ihr fortgeschrittenes Alter noch ziemlich viel Akne im Gesicht. Sie war wohl auch mal in Gedankentherapie, da sie sich auf Grund einer feindindizierten Psychose nicht mehr aus dem Haus traute. Aber das ist lange her und so richtig kennt niemand die Einzelheiten. Im Grunde ist es das Beste dieses Thema gar nicht zu erwähnen. Petra ist Eurasier, genau wie ich und Controllerin in der MIR. Ich diszipliniere im Gegensatz zu ihr nicht die Mischlinge, sondern versuche sie in ein wissenschaftliches Raster zu pressen. In meiner Dissertation beschäftige ich mich unter anderem mit dem Phänomen, der verstörenden Wirkung von englischsprachiger Kinderlyrik auf die Heranwachsenden der lokalen Sternengruppe.
Petra war früher einmal eine begnadete Bauchtänzerin in eurasischen Clubs. Vor zwei Jahren kam sie mit großen Zukunftsplänen und ihrem Mann nach China, doch heute jammert sie nur noch rum, denn sie ist in meinen Augen eine typisch Betrogene. Eine Frau, vorbei geschlittert an ihren besten Jahren, die jetzt mit tiefer Einsamkeit und nagenden Selbstzweifeln im Alltag klar kommen muss, während dessen ihr Ehemann jeden Tag aufs Neue sein Glück nicht fassen kann.
Sein Name ist Olaf und er ist der Meinung, so bald wie möglich zum Buddhismus konvertieren zu müssen. Mit Anfang fünfzig noch einmal die Chance zu bekommen seinen Schwanz in etwas so knackiges, wie seine neue ostasiatische Freundin zu stecken, kann nur göttlicher Segen sein. Coco ist ihr Name und ihr Arsch ist ein Gedicht. Sie spricht sogar ein bisschen Deutsch und bläst wie eine nymphomane junge Göttin. Ach, Chinesinnen sind so viel hingebungsvoller als diese europäischen Kühe, mit denen er sich die meiste Zeit seiner alten Tage herumquälen musste. Doch jetzt gibt es ja Coco und ihm scheint, als habe eine neue Zeitrechnung begonnen. Ja, er liebt es Coco von hinten zu nehmen, denn dann kann er ganz tief in sie eindringen und genießt dabei die Enge ihrer Scheide, die wie ein sanfter Gummiring seinen Penis umschließt. Wenn Coco dann anfängt zu schnurren wie eine rollige Katze, dann weiß Olaf, dass das Leben schön ist. In diesen Momenten weint er manchmal ein bisschen und seine Tränen entsprechen denen des Glücks und der tiefen Dankbarkeit. Jedoch, ein einziger Makel in diesem neuen Glanz bleibt. Der Terror seiner Frau Petra hat eine Stufe erreicht, die nicht mehr akzeptabel ist. Anscheinend ist sie über den Verlauf der Dinge nicht allzu glücklich, obwohl sie doch immer freie Entfaltung propagiert und für sich selbst gewünscht hatte. Jetzt gleicht sie nur noch einer hysterischen Hexe und darum versteht Olaf die Frauen manchmal nicht mehr, doch dann sieht er Cocos Augen und alles ist wieder schön und gut und wertvoll. In China liegt das gelobte Land, davon ist Olaf jetzt überzeugt und er möchte diese Erkenntnis unbedingt mir anderen teilen. Er möchte helfen und so träumt er, bald Seminare über seine Erleuchtung zu geben. Im Grunde ist er zu beneiden, denn es scheint, als habe er seine Mission gefunden.
Die Kinder der Sternengruppe sind Unfälle aus Mischbeziehungen, die meist kreischend durcheinander rennen und jeden, dem sie begegnen massiv auf die Nerven gehen. Sie neigen zu körperlicher Gewalt und verletzen sich und andere sehr häufig. Ihr abnormes Aggressionspotential liegt an einer Mutation der Gene, wie sie häufig bei Mischlingen zu beobachten ist. Nicht nur aus diesem Grunde wurde im letzten Jahr auf Malta beschlossen, die Einmischung Fremder in nationales Erbgut unter Strafe zu stellen. Ich stimme mit dieser Entscheidung absolut überein, bin aber auch ein wenig traurig. „[...] Angelerntes Verhalten muss mit der eigenen Struktur übereinstimmen, um authentisch zu bleiben.“, notiere ich später in mein Notizbuch und nehme mir vor die Sternengruppe intensiver in Hinsicht auf Selbstverletzungen zu studieren. Erfahrungsgemäß drehen die Kinder zwischen den Stunden neun und zwölf besonders durch. Das liegt an Substanz C. Substanz C ist die Basis eines neuen engagierten Forschungsprojektes, entwickelt und ausgeführt von der Gruppe um Dr. Bohrschlag. Als Koryphäe in seinem Gebiet war Bohrschlag einer der ersten, der sich für eine Legalisierung von Substanz C von Seiten der Wissenschaft einsetzte. Heute arbeitet er hier in China, zusammen mit seinem alten Unterstützer und Schüler O. George. Sie versuchen fieberhaft, anhand einer kontrollierten Verabreichung von Substanz C, Veränderungen der Hirnströme bei Kindern der Sternengruppe zu erreichen. Ich verstehe nicht viel von dieser Materie, weiß aber soviel um zu wissen, dass dies der finale Durchbruch für die Menschheit wäre.
*
Zum Mittagessen sitze ich in der Kantine alleine an einem der langen grauen Tische. Alle anderen haben bereits gegessen, während dessen ich mit der Auswertung der heutigen Testergebnisse beschäftigt war. Am Nachmittag erhalte ich dann das Urteil von Mings Prozess. Tod durch Strom. Die Hinrichtung soll aufgrund ihrer vergangen Verdienste für die chinesische Gesellschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen werden. Wie zu erwarten war, nimmt diese Nachricht etwas Druck von mir, da ich weiß wie der Staat Exekutionen vorm Volke zelebriert. Fraglich ist wie es mit mir weitergehen wird. Jetzt wo die Sache ein sauberes Ende findet, kann ich mir eine weitere Gefühlsduselei nicht mehr leisten. Ich habe einen Ruf und mich zu verlieren und hoffe, dass der Spuk von Ming mich mit der Zeit vergessen wird. Möge ihre Seele in Frieden ruhen, denn jeder kreiert seine eigene Realität und ist für sein Tun und Handeln selber verantwortlich. Ming wollte es nicht anders. Sie hat sich bewusst gegen uns entschieden und es wird Zeit damit abzuschließen, gleichzeitig freunde ich mich mit der Idee an, so bald wie möglich bei der Gedankentherapie vorzusprechen. Möglicherweise wäre dies ein Weg meinen Geist und mich neu zu erfrischen. Gleich morgen werde ich alles in die Hand nehmen.

Als ich mit dem Bus unserer Firma nach Hause fahre und noch immer ein wenig über Ming nachdenken muss, sitzt Petra hinten auf der letzten Bank und starrt hinaus auf die vorbei fliegenden Häuser. Wir haben heute kein Wort miteinander gewechselt und währenddessen ich das denke, zerplatzen Regentropen auf der Fensterscheibe vor ihrem Gesicht.
Männer kommen und gehen, das weiß sie bereits und doch ist diesmal alles anders. Ihr ist als bohre jemand eine stumpfe Klinge in ihren Unterleib und sie muss sich zusammenreißen, vor Ekel nicht zu kotzen. Sie spürt den sauren Geschmack von Erbrochenen im Mund und fühlt den Brei aus ihrem Magen direkt unter dem Kehlkopf. Sie weiß, dass eines im Leben nie mehr zurückkommen wird. Das Gefühl begehrt zu werden… Liebe wurde für sie nur zu einer geschmacklosen Posse, einem schlechten Witz über den nicht einmal mehr Idioten lachen können. In den Nächten hat sie Angst, denn es scheint, als gäbe es für sie keine Befreiung. Alles wird bald von dieser Traurigkeit besetzt werden, die tief in ihrem Herzen pocht und immer schwerer zu ertragen wird. Suizid wäre eine willkommende Möglichkeit, dem allen final zu entfliehen. Und in diesem Moment beginnt der Zeitpunkt, wo alles Kommende nur noch eine kalte, glatte Hülle berührt. Einen Körper als Gefängnis einer alten und vertrockneten Seele. Es gibt nichts mehr zu erwarten und alles wird nur noch ein Abstieg nach ganz unten sein. Ein Fallen, ewig und quälend, solange, bis ein neuer letzter Mut entsteht. Ein Druck, ein letzer emotionaler Schub, dann ist alles beendet. Abgeschlossen für die Ewigkeit. Keine Verantwortungen und Sünden mehr. Im Tod liegt die Erlösung für jene, die immer suchten und niemals fanden. Bye bye Petra. No one will miss you…

Zu Hause angekommen stelle ich beruhigt fest, dass der Geist von Ming momentan nicht anwesend ist und ich lege mich auf mein Bett. Ich höre hinein in die Stille, die mich umgibt und lasse den Tag Revue passieren. Mein Puls schlägt dabei ruhig und regelmäßig und die Minuten verstreichen und schwinden dahin.
Früher oder später wird man begreifen, dass das da wo Licht fällt, die Dunkelheit lauert. Auch gibt es Menschen, die haben es einfach nie geschafft. Ming und Petra nur zwei von ihnen. Angeschwemmt an die Ufer dieser Stadt, in der auch ich immer ein Fremder bleiben werde. Es stimmt, Ballast des über die Jahre angelernten Verhaltens kann man nicht abwerfen, solange man meint aktiv zu kämpfen. Sich dem Selbst zu stellen, heißt auf einem Seil zu balancieren und dabei panisch mit den Armen zu rudern. Und wenn sich in diesen Sekunden unsere Hände nach Sprossen sehen, nach Halt und Sicherheit, dann ist dort nur Leere und Dunkelheit, denn wir schweben über einem Abgrund aus Angst und Schmerzen. Nein, dieses Land ist nicht anders und die Regeln des Spiels sind dieselben geblieben. Irgendwann beginne ich langsam zu sinken, und ich sinke hinunter in ein Schlucht und von Ferne höre ich eine mir altbekannt Melodie. Es sind Sirenen einer neuen Epoche und sie verkünden uns, dass Liebe existiert. Sie singen, dass Liebe atmet und Menschen verbindet. Und vielleicht ist es ja wahr. Eine neue Wahrheit, die besagt, dass Vertrauen und Wärme keine Rudimente vergangener Tage sind. Sie leben und sind es wert benannt zu werden. Wir sind Gestrandete und wir sind Zeit. Hier wo alles mit jedem neuen Tag von vorne beginnt. Hier in China. Du und ich. Wir alle als ein Teil von ihnen.
 

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Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.
Leo Tolstoj

Ich lebe im französischen Viertel Shanghais und nenne eine kleine Wohnung mein Eigen. Meine kleine Wohnung liegt im dritten Stock eines alten Kolonialhauses, hinter einer Kaserne, abgelegen vom Lärm der Straße und von vier Pappeln umschlossen. Meine Nachbarn sind alte runzlige Chinesen, die auf der Straße waschen und kochen, wenn ich mich morgens auf den Weg zur Arbeit mache. Die Zimmer meiner Wohnung habe ich übersichtlich eingerichtet. Man findet dort nichts Überflüssiges und es beruhigt mich, wenn ich nach Hause komme und eine zuverlässige Aufgeräumtheit mich empfängt.
Meine Versetzung nach China geschah innerhalb von Stunden. Und als ich Europa in Schutt und Asche hinter mir gelassen hatte, begann ich dankbar und hochmotiviert vor einem Jahr meine Arbeit hier vor Ort. Als Abgesandter Europas lastet eine schwere Verantwortung auf mir. Durch jahrelange harte Arbeit und der Mitgliedschaft in einer der letzten bildungspolitischen Eliten, ist es mir gelungen, nicht Teil des Exodus zu werden, welcher sich in den letzten Jahren beständig aus dem Westen über China ergießt. Heute versuche ich in Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden die lokale Asylproblematik zu regulieren. Meine aufgenommen Forschungen an der hiesigen Sternengruppe errechnen Prognosen für die kommenden Jahre und dieser Auftrag sichert mir mein Leben - ich bin wichtig. Wichtig für China. Natürlich nagen immer Zweifel und Vorwürfe in einem selbst, denn in einer Welt in der man zwischen Pflicht und alten humanistischen Werten hin und hergerissen zu sein scheint, wird es immer schwieriger den richtigen Ton zu treffen.
Ich schätze mich als einen genügsamen, reflektierten Menschen ein, den nicht so leicht aus der Bahn werfen kann. Jedoch brauche ich heute eine Weile um wieder zu mir zu kommen, denn heute Nacht war Ming bei mir. Ihre dunklen Haare hingen wie nasse Algen am Kopf und bedeckten fast ihr gesamtes Gesicht. Sie stand in der mir auch jetzt gegenüberliegenden Ecke meines Schlafzimmers und wiegte ihren Körper hin und her. Dabei gab sie entsetzliche Laute von sich, eine Art kehliges Röcheln, welches klang, als würde sie gerade an ihrem eigenen Blute ertrinken. Um sie herum bildete sich eine schwarze Pfütze, die sich immer weiter in meine Richtung ausbreitete. Ich hatte Ming nicht kommen gehört und auch nicht eingelassen, sie stand dort, und als die Pfütze versuchte meine Bett zu erreichen, verschwand der Spuk so plötzlich wie er gekommen war. Schweißgebadet und mit rasendem Herzen wurde mir in diesem Moment bewusst, dass zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefühl von Schuld mich belastete. Es war meine Entscheidung, Ming den zuständigen Behörden zu melden. Hin und her gerissen, gefangen zwischen emotionaler Eskalation und analytischer Auseinandersetzung mit der Sachlage, befinde ich mich nun in einem Dilemma. Auf der einen Seite sind die Gründe völlig klar und liegen auf der Hand. Seit 12 Monaten ist beschlossen, dass Veränderungen nationaler Genmaterialien ohne wissenschaftliche Zielrichtung hart bestraft werden. Fairerweise erfährt der ein oder andere Angeklagte natürlich auch, dass er seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Leben bezahlen muss. Es gab nichts, was Ming hätte retten können und ich tat nur meine Pflicht. Doch seit dem nächtlichem Ereignis nagen, wie schon erwähnt, Zweifel, Angst und Vorwürfe in mir.
Ming. Vor zwei Wochen kam sie zu mir. Aufgelöst, verzweifelt und dem Ende nah. Sie erzählte mir in allem Vertrauen von ihrer Beziehung zu einem Nordamerikaner und das sie jetzt schwanger sei. Ich saß vor ihr, sichtlich schockiert und vermochte das alles nicht wirklich begreifen. Schwanger? Von einem Nordamerikaner? Entsetzt von den Neuigkeiten brachte ich kein Wort über die Lippen und Ming war voller Emotionen und so angreifbar. Sie merkte überhaupt nicht, wie sie sich immer mehr um Kopf und Kragen redete. Nach einer Weile fasste ich mich und versuchte, so gut es ging, den verständnisvollen Zuhörer zu mimen, was mir anscheinend auch ziemlich gut gelang. Ming fragte mich schließlich nach Rat und ich gab ein paar lapidare Informationen preis. Kniffe und Tricks, um dem Raster zu entkommen, welches die chinesischen Gesundheitsbehörden in den letzten Monaten etabliert hatten, verschwieg ich ihr. Ja, nun wurde wirklich ernst gemacht. Fremden Blut im chinesischen Genmaterial wurde der Kampf angesagt. Mit allen Mitteln und auf allen Ebenen. Ming tat mir leid, denn natürlich musste ich sie den Behörden, in ihrem Fall dem chinesischem Gesundheitskommando, melden. Mich interessierte dabei nicht die hohe finanzielle Prämie. Nein, hier ging es um die Sache. Es musste schnellstens interveniert und eingeschritten werden, denn sonst wäre mein gesamtes Leben verzerrt zu einer Farce und alles woran ich glaubte und wofür ich stand, möglicherweise zunichte. Ming war eine sehr attraktive und gebildete Chinesin und gelegentlich waren wir auch zusammen ausgegangen - alles auf rein beruflicher Basis natürlich. Aber es liegt in der Natur des Menschen sich zu demontieren. Dies alles war mir bekannt und ich hatte es schon tausendmal gesehen, doch bei Ming hinterließ alles einen bittersüßen Nachgeschmack. Im Grunde genommen war ihr politisches Outing das Ende einer möglichen Romanze. Auch dies hatte ich bereits erkannt…Der Mensch lebt und erlebt Zeit. In einem Käfig, geschaffen aus Gedanken und Gefühlen, ist es egal, welches Land und welche Ideologie Körper und Seele umschlingen. Getrieben von einer permanenten Sehnsucht ist der unproduktivste Zustand für ihn Zufriedenheit. Im Fernseher vor meinem Bett läuft der Trailer des heute Abend stattfindenden Schauprozesses. Ein Franzose muss diesmal dran glauben, mehrere Nordamerikaner und Minderheiten aus dem Osten. Die meisten Vergehen stehen mit Vorkommnissen von Genvermischungsdelikten in Verbindung, die seit dem Erlass vor einem Jahr auf derselben Stufe wie Mord, Vergewaltigung und Staatszersetzung zu finden sind.

Auf dem Weg zur Forschungsstation fallen mir rote Blumen am Wegesrand auf und bei der biometrischen Kontrolle am Eingang des Hengshan Lu Prospekts muss ich feststellen, dass die öffentlichen Verkehrsmittelmittel durchzogen sind von einer süßlichen Nuance Verwesung. Dies kann viele Gründe haben. Man munkelt, dass es Massaker gegeben hätte, draußen, am Rande der Stadt - dort wo die autonomen Regionen beginnen. Paramilitärische Todesschwadronen hätten ganze Arbeit geleistet und Leichen in Massengräbern nahe des Belüftungszentrums verscharrt. Jetzt bin ich irgendwie richtig dankbar für meine Einzimmerwohnung, denn ich nenne auch eine Dusche mein Eigen. Die armen Flüchtlingsfamilien im Park nebenan waschen sich mit Sicherheit nie, auch nicht im Sommer. Ziemlich schlimm das alles…
Ich bahne ich mir meinen Weg durch die Massen von Menschen und dabei laufe ich bewusst zielgerichtet und dies gelingt mir indem ich meinen gesamten Oberkörper anspanne. Falls mir jemand in die Quere kommt, lege ich mein ganzes Gewicht in die Schultern, so dass bei einer Kollision, der mir Entgegenkommende mindestens fünf Meter abprallt und durch die Luft fliegt. Bei Frauen und Kindern bin ich etwas rücksichtsvoller, ich steige entweder über sie hinweg oder remple sie nur unfreundlich an. Auf diese Weise komme ich erfahrungsgemäß sehr zügig zu meiner Arbeitsstelle, dem ersten eurasischem Kindergarten für biologische Desaster in China - kurz genannt MIR. Bevor ich mich jedoch an die Arbeit mache, rauche ich draußen auf der Straße noch ungefähr drei Zigaretten, da ich in den Vormittagsstunden bestimmt nicht mehr dazu kommen werde. Außerdem ist das Rauchen bei uns im Projekt nicht gerne gesehen. Alles ist manchmal sehr neueuropäisch und schwierig in China.
Über die Geschichte von Ming wird in unserer Sektion geschwiegen. Es ist, als hätte sie hier nie gearbeitet - sie es nie gegeben. Wie schnell ein Mensch doch in der Öffentlichkeit in Vergessenheit gerät, denke ich bei mir und laufe durch das Tor, hin zum Gebäude 101. Wenn ich in der Eingangshalle stehe, so kann ich von dort aus Petra in dem durchsichtigen Kasten sitzen sehen, der bis vor zwei Wochen auch noch Mings Büro war. Auf diesen Würfel aus Glas waren beide besonders stolz, denn er wurde ihnen als Neuerung beim letzten Umbau des Kindergartens versprochen. Jetzt sitzt sie darin und sieht dabei aus, wie ein seltenes, verstörtes Exemplar im Tierpark. So ganz allein und verlassen. Petra ist eine Pfarrerstochter und hat für ihr fortgeschrittenes Alter noch ziemlich viel Akne im Gesicht. Sie war wohl auch mal in Gedankentherapie, da sie sich auf Grund einer feindindizierten Psychose nicht mehr aus dem Haus traute. Aber das ist lange her und so richtig kennt niemand die Einzelheiten. Im Grunde ist es das Beste dieses Thema gar nicht zu erwähnen. Petra ist Eurasier, genau wie ich und Controllerin in der MIR. Ich diszipliniere im Gegensatz zu ihr nicht die Mischlinge, sondern versuche sie in ein wissenschaftliches Raster zu pressen. In meiner Dissertation beschäftige ich mich unter anderem mit dem Phänomen, der verstörenden Wirkung von englischsprachiger Kinderlyrik auf die Heranwachsenden der lokalen Sternengruppe.
Petra war früher einmal eine begnadete Bauchtänzerin in eurasischen Clubs. Vor zwei Jahren kam sie mit großen Zukunftsplänen und ihrem Mann nach China, doch heute jammert sie nur noch rum, denn sie ist in meinen Augen eine typisch Betrogene. Eine Frau, vorbei geschlittert an ihren besten Jahren, die jetzt mit tiefer Einsamkeit und nagenden Selbstzweifeln im Alltag klar kommen muss, während dessen ihr Ehemann jeden Tag aufs Neue sein Glück nicht fassen kann.
Sein Name ist Olaf und er ist der Meinung, so bald wie möglich zum Buddhismus konvertieren zu müssen. Mit Anfang fünfzig noch einmal die Chance zu bekommen seinen Schwanz in etwas so knackiges, wie seine neue ostasiatische Freundin zu stecken, kann nur göttlicher Segen sein. Coco ist ihr Name und ihr Arsch ist ein Gedicht. Sie spricht sogar ein bisschen Deutsch und bläst wie eine nymphomane junge Göttin. Ach, Chinesinnen sind so viel hingebungsvoller als diese europäischen Kühe, mit denen er sich die meiste Zeit seiner alten Tage herumquälen musste. Doch jetzt gibt es ja Coco und ihm scheint, als habe eine neue Zeitrechnung begonnen. Wenn Coco dann anfängt zu schnurren wie eine rollige Katze, dann weiß Olaf, dass das Leben schön ist. In diesen Momenten weint er manchmal ein bisschen und seine Tränen entsprechen denen des Glücks und der tiefen Dankbarkeit. Jedoch, ein einziger Makel in diesem neuen Glanz bleibt. Der Terror seiner Frau Petra hat eine Stufe erreicht, die nicht mehr akzeptabel ist. Anscheinend ist sie über den Verlauf der Dinge nicht allzu glücklich, obwohl sie doch immer freie Entfaltung propagiert und für sich selbst gewünscht hatte. Jetzt gleicht sie nur noch einer hysterischen Hexe und darum versteht Olaf die Frauen manchmal nicht mehr, doch dann sieht er Cocos Augen und alles ist wieder schön und gut und wertvoll. In China liegt das gelobte Land, davon ist Olaf jetzt überzeugt und er möchte diese Erkenntnis unbedingt mir anderen teilen. Er möchte helfen und so träumt er, bald Seminare über seine Erleuchtung zu geben. Im Grunde ist er zu beneiden, denn es scheint, als habe er seine Mission gefunden.
Die Kinder der Sternengruppe sind Unfälle aus Mischbeziehungen, die meist kreischend durcheinander rennen und jeden, dem sie begegnen massiv auf die Nerven gehen. Sie neigen zu körperlicher Gewalt und verletzen sich und andere sehr häufig. Ihr abnormes Aggressionspotential liegt an einer Mutation der Gene, wie sie häufig bei Mischlingen zu beobachten ist. Nicht nur aus diesem Grunde wurde im letzten Jahr auf Malta beschlossen, die Einmischung Fremder in nationales Erbgut unter Strafe zu stellen. Ich stimme mit dieser Entscheidung absolut überein, bin aber auch ein wenig traurig. „[...] Angelerntes Verhalten muss mit der eigenen Struktur übereinstimmen, um authentisch zu bleiben.“, notiere ich später in mein Notizbuch und nehme mir vor die Sternengruppe intensiver in Hinsicht auf Selbstverletzungen zu studieren. Erfahrungsgemäß drehen die Kinder zwischen den Stunden neun und zwölf besonders durch. Das liegt an Substanz C. Substanz C ist die Basis eines neuen engagierten Forschungsprojektes, entwickelt und ausgeführt von der Gruppe um Dr. Bohrschlag. Als Koryphäe in seinem Gebiet war Bohrschlag einer der ersten, der sich für eine Legalisierung von Substanz C von Seiten der Wissenschaft einsetzte. Heute arbeitet er hier in China, zusammen mit seinem alten Unterstützer und Schüler O. George. Sie versuchen fieberhaft, anhand einer kontrollierten Verabreichung von Substanz C, Veränderungen der Hirnströme bei Kindern der Sternengruppe zu erreichen. Ich verstehe nicht viel von dieser Materie, weiß aber soviel um zu wissen, dass dies der finale Durchbruch für die Menschheit wäre.
Zum Mittagessen sitze ich in der Kantine alleine an einem der langen grauen Tische. Alle anderen haben bereits gegessen, während dessen ich mit der Auswertung der heutigen Testergebnisse beschäftigt war. Am Nachmittag erhalte ich dann das Urteil von Mings Prozess. Tod durch Strom. Die Hinrichtung soll aufgrund ihrer vergangen Verdienste für die chinesische Gesellschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen werden. Wie zu erwarten war, nimmt diese Nachricht etwas Druck von mir, da ich weiß wie der Staat Exekutionen vorm Volke zelebriert. Fraglich ist wie es mit mir weitergehen wird. Jetzt wo die Sache ein sauberes Ende findet, kann ich mir eine weitere Gefühlsduselei nicht mehr leisten. Ich habe einen Ruf und mich zu verlieren und hoffe, dass der Spuk von Ming mich mit der Zeit vergessen wird. Möge ihre Seele in Frieden ruhen, denn jeder kreiert seine eigene Realität und ist für sein Tun und Handeln selber verantwortlich. Ming wollte es nicht anders. Sie hat sich bewusst gegen uns entschieden und es wird Zeit damit abzuschließen, gleichzeitig freunde ich mich mit der Idee an, so bald wie möglich bei der Gedankentherapie vorzusprechen. Möglicherweise wäre dies ein Weg meinen Geist und mich neu zu erfrischen. Gleich morgen werde ich alles in die Hand nehmen.
Als ich mit dem Bus unserer Firma nach Hause fahre und noch immer ein wenig über Ming nachdenken muss, sitzt Petra hinten auf der letzten Bank und starrt hinaus auf die vorbei fliegenden Häuser. Wir haben heute kein Wort miteinander gewechselt und währenddessen ich das denke, zerplatzen Regentropen auf der Fensterscheibe vor ihrem Gesicht.
Männer kommen und gehen, das weiß sie bereits und doch ist diesmal alles anders. Ihr ist als bohre jemand eine stumpfe Klinge in ihren Unterleib und sie muss sich zusammenreißen, vor Ekel nicht zu kotzen. Sie spürt den sauren Geschmack von Erbrochenen im Mund und fühlt den Brei aus ihrem Magen direkt unter dem Kehlkopf. Sie weiß, dass eines im Leben nie mehr zurückkommen wird. Das Gefühl begehrt zu werden… Liebe wurde für sie nur zu einer geschmacklosen Posse, einem schlechten Witz über den nicht einmal mehr Idioten lachen können. In den Nächten hat sie Angst, denn es scheint, als gäbe es für sie keine Befreiung. Alles wird bald von dieser Traurigkeit besetzt werden, die tief in ihrem Herzen pocht und immer schwerer zu ertragen wird. Suizid wäre eine willkommende Möglichkeit, dem allen final zu entfliehen. Und in diesem Moment beginnt der Zeitpunkt, wo alles Kommende nur noch eine kalte, glatte Hülle berührt. Einen Körper als Gefängnis einer alten und vertrockneten Seele. Es gibt nichts mehr zu erwarten und alles wird nur noch ein Abstieg nach ganz unten sein. Ein Fallen, ewig und quälend, solange, bis ein neuer letzter Mut entsteht. Ein Druck, ein letzer emotionaler Schub, dann ist alles beendet. Abgeschlossen für die Ewigkeit. Keine Verantwortungen und Sünden mehr. Im Tod liegt die Erlösung für jene, die immer suchten und niemals fanden. Bye bye Petra. No one will miss you…
Zu Hause angekommen stelle ich beruhigt fest, dass der Geist von Ming momentan nicht anwesend ist und ich lege mich auf mein Bett. Ich höre hinein in die Stille, die mich umgibt und lasse den Tag Revue passieren. Mein Puls schlägt dabei ruhig und regelmäßig und die Minuten verstreichen und schwinden dahin.
Früher oder später wird man begreifen, dass das da wo Licht fällt, die Dunkelheit lauert. Auch gibt es Menschen, die haben es einfach nie geschafft. Ming und Petra nur zwei von ihnen. Angeschwemmt an die Ufer dieser Stadt, in der auch ich immer ein Fremder bleiben werde. Es stimmt, Ballast des über die Jahre angelernten Verhaltens kann man nicht abwerfen, solange man meint aktiv zu kämpfen. Sich dem Selbst zu stellen, heißt auf einem Seil zu balancieren und dabei panisch mit den Armen zu rudern. Und wenn sich in diesen Sekunden unsere Hände nach Sprossen sehen, nach Halt und Sicherheit, dann ist dort nur Leere und Dunkelheit, denn wir schweben über einem Abgrund aus Angst und Schmerzen. Nein, dieses Land ist nicht anders und die Regeln des Spiels sind dieselben geblieben. Irgendwann beginne ich langsam zu sinken, und ich sinke hinunter in ein Schlucht und von Ferne höre ich eine mir altbekannt Melodie. Es sind Sirenen einer neuen Epoche und sie verkünden uns, dass Liebe existiert. Sie singen, dass Liebe atmet und Menschen verbindet. Und vielleicht ist es ja wahr. Eine neue Wahrheit, die besagt, dass Vertrauen und Wärme keine Rudimente vergangener Tage sind. Sie leben und sind es wert benannt zu werden. Wir sind Gestrandete und wir sind Zeit. Hier wo alles mit jedem neuen Tag von vorne beginnt. Hier in China. Du und ich. Wir alle als ein Teil von ihnen.
 

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Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.
Leo Tolstoj

Ich lebe im französischen Viertel Shanghais und nenne eine kleine Wohnung mein Eigen. Meine kleine Wohnung liegt im dritten Stock eines alten Kolonialhauses, hinter einer Kaserne, abgelegen vom Lärm der Straße und von vier Pappeln umschlossen. Meine Nachbarn sind alte runzlige Chinesen, die auf der Straße waschen und kochen, wenn ich mich morgens auf den Weg zur Arbeit mache. Die Zimmer meiner Wohnung habe ich übersichtlich eingerichtet. Man findet dort nichts Überflüssiges und es beruhigt mich, wenn ich nach Hause komme und eine zuverlässige Aufgeräumtheit mich empfängt.
Meine Versetzung nach China geschah innerhalb von Stunden. Und als ich Europa in Schutt und Asche hinter mir gelassen hatte, begann ich dankbar und hochmotiviert vor einem Jahr meine Arbeit hier vor Ort. Als Abgesandter Europas lastet eine schwere Verantwortung auf mir. Durch jahrelange harte Arbeit und der Mitgliedschaft in einer der letzten bildungspolitischen Eliten, ist es mir gelungen, nicht Teil des Exodus zu werden, welcher sich in den letzten Jahren beständig aus dem Westen über China ergießt. Heute versuche ich in Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden die lokale Asylproblematik zu regulieren. Meine aufgenommen Forschungen an der hiesigen Sternengruppe errechnen Prognosen für die kommenden Jahre und dieser Auftrag sichert mir mein Leben - ich bin wichtig. Wichtig für China. Natürlich nagen immer Zweifel und Vorwürfe in einem selbst, denn in einer Welt in der man zwischen Pflicht und alten humanistischen Werten hin und hergerissen zu sein scheint, wird es immer schwieriger den richtigen Ton zu treffen.
Ich schätze mich als einen genügsamen, reflektierten Menschen ein, den nicht so leicht aus der Bahn werfen kann. Jedoch brauche ich heute eine Weile um wieder zu mir zu kommen, denn heute Nacht war Ming bei mir. Ihre dunklen Haare hingen wie nasse Algen am Kopf und bedeckten fast ihr gesamtes Gesicht. Sie stand in der mir auch jetzt gegenüberliegenden Ecke meines Schlafzimmers und wiegte ihren Körper hin und her. Dabei gab sie entsetzliche Laute von sich, eine Art kehliges Röcheln, welches klang, als würde sie gerade an ihrem eigenen Blute ertrinken. Um sie herum bildete sich eine schwarze Pfütze, die sich immer weiter in meine Richtung ausbreitete. Ich hatte Ming nicht kommen gehört und auch nicht eingelassen, sie stand dort, und als die Pfütze versuchte meine Bett zu erreichen, verschwand der Spuk so plötzlich wie er gekommen war. Schweißgebadet und mit rasendem Herzen wurde mir in diesem Moment bewusst, dass zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefühl von Schuld mich belastete. Es war meine Entscheidung, Ming den zuständigen Behörden zu melden. Hin und her gerissen, gefangen zwischen emotionaler Eskalation und analytischer Auseinandersetzung mit der Sachlage, befinde ich mich nun in einem Dilemma. Auf der einen Seite sind die Gründe völlig klar und liegen auf der Hand. Seit 12 Monaten ist beschlossen, dass Veränderungen nationaler Genmaterialien ohne wissenschaftliche Zielrichtung hart bestraft werden. Fairerweise erfährt der ein oder andere Angeklagte natürlich auch, dass er seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Leben bezahlen muss. Es gab nichts, was Ming hätte retten können und ich tat nur meine Pflicht. Doch seit dem nächtlichem Ereignis nagen, wie schon erwähnt, Zweifel, Angst und Vorwürfe in mir.
Ming. Vor zwei Wochen kam sie zu mir. Aufgelöst, verzweifelt und dem Ende nah. Sie erzählte mir in allem Vertrauen von ihrer Beziehung zu einem Nordamerikaner und das sie jetzt schwanger sei. Ich saß vor ihr, sichtlich schockiert und vermochte das alles nicht wirklich begreifen. Schwanger? Von einem Nordamerikaner? Entsetzt von den Neuigkeiten brachte ich kein Wort über die Lippen und Ming war voller Emotionen und so angreifbar. Sie merkte überhaupt nicht, wie sie sich immer mehr um Kopf und Kragen redete. Nach einer Weile fasste ich mich und versuchte, so gut es ging, den verständnisvollen Zuhörer zu mimen, was mir anscheinend auch ziemlich gut gelang. Ming fragte mich schließlich nach Rat und ich gab ein paar lapidare Informationen preis. Kniffe und Tricks, um dem Raster zu entkommen, welches die chinesischen Gesundheitsbehörden in den letzten Monaten etabliert hatten, verschwieg ich ihr. Ja, nun wurde wirklich ernst gemacht. Fremden Blut im chinesischen Genmaterial wurde der Kampf angesagt. Mit allen Mitteln und auf allen Ebenen. Ming tat mir leid, denn natürlich musste ich sie den Behörden, in ihrem Fall dem chinesischem Gesundheitskommando, melden. Mich interessierte dabei nicht die hohe finanzielle Prämie. Nein, hier ging es um die Sache. Es musste schnellstens interveniert und eingeschritten werden, denn sonst wäre mein gesamtes Leben verzerrt zu einer Farce und alles woran ich glaubte und wofür ich stand, möglicherweise zunichte. Ming war eine sehr attraktive und gebildete Chinesin und gelegentlich waren wir auch zusammen ausgegangen - alles auf rein beruflicher Basis natürlich. Aber es liegt in der Natur des Menschen sich zu demontieren. Dies alles war mir bekannt und ich hatte es schon tausendmal gesehen, doch bei Ming hinterließ alles einen bittersüßen Nachgeschmack. Im Grunde genommen war ihr politisches Outing das Ende einer möglichen Romanze. Auch dies hatte ich bereits erkannt…Der Mensch lebt und erlebt Zeit. In einem Käfig, geschaffen aus Gedanken und Gefühlen, ist es egal, welches Land und welche Ideologie Körper und Seele umschlingen. Getrieben von einer permanenten Sehnsucht ist der unproduktivste Zustand für ihn Zufriedenheit. Im Fernseher vor meinem Bett läuft der Trailer des heute Abend stattfindenden Schauprozesses. Ein Franzose muss diesmal dran glauben, mehrere Nordamerikaner und Minderheiten aus dem Osten. Die meisten Vergehen stehen mit Vorkommnissen von Genvermischungsdelikten in Verbindung, die seit dem Erlass vor einem Jahr auf derselben Stufe wie Mord, Vergewaltigung und Staatszersetzung zu finden sind.
Auf dem Weg zur Forschungsstation fallen mir rote Blumen am Wegesrand auf und bei der biometrischen Kontrolle am Eingang des Hengshan Lu Prospekts muss ich feststellen, dass die öffentlichen Verkehrsmittelmittel durchzogen sind von einer süßlichen Nuance Verwesung. Dies kann viele Gründe haben. Man munkelt, dass es Massaker gegeben hätte, draußen, am Rande der Stadt - dort wo die autonomen Regionen beginnen. Paramilitärische Todesschwadronen hätten ganze Arbeit geleistet und Leichen in Massengräbern nahe des Belüftungszentrums verscharrt. Jetzt bin ich irgendwie richtig dankbar für meine Einzimmerwohnung, denn ich nenne auch eine Dusche mein Eigen. Die armen Flüchtlingsfamilien im Park nebenan waschen sich mit Sicherheit nie, auch nicht im Sommer. Ziemlich schlimm das alles…
Ich bahne ich mir meinen Weg durch die Massen von Menschen und dabei laufe ich bewusst zielgerichtet und dies gelingt mir indem ich meinen gesamten Oberkörper anspanne. Falls mir jemand in die Quere kommt, lege ich mein ganzes Gewicht in die Schultern, so dass bei einer Kollision, der mir Entgegenkommende mindestens fünf Meter abprallt und durch die Luft fliegt. Bei Frauen und Kindern bin ich etwas rücksichtsvoller, ich steige entweder über sie hinweg oder remple sie nur unfreundlich an. Auf diese Weise komme ich erfahrungsgemäß sehr zügig zu meiner Arbeitsstelle, dem ersten eurasischem Kindergarten für biologische Desaster in China - kurz genannt MIR. Bevor ich mich jedoch an die Arbeit mache, rauche ich draußen auf der Straße noch ungefähr drei Zigaretten, da ich in den Vormittagsstunden bestimmt nicht mehr dazu kommen werde. Außerdem ist das Rauchen bei uns im Projekt nicht gerne gesehen. Alles ist manchmal sehr neueuropäisch und schwierig in China.
Über die Geschichte von Ming wird in unserer Sektion geschwiegen. Es ist, als hätte sie hier nie gearbeitet - sie es nie gegeben. Wie schnell ein Mensch doch in der Öffentlichkeit in Vergessenheit gerät, denke ich bei mir und laufe durch das Tor, hin zum Gebäude 101. Wenn ich in der Eingangshalle stehe, so kann ich von dort aus Petra in dem durchsichtigen Kasten sitzen sehen, der bis vor zwei Wochen auch noch Mings Büro war. Auf diesen Würfel aus Glas waren beide besonders stolz, denn er wurde ihnen als Neuerung beim letzten Umbau des Kindergartens versprochen. Jetzt sitzt sie darin und sieht dabei aus, wie ein seltenes, verstörtes Exemplar im Tierpark. So ganz allein und verlassen. Petra ist eine Pfarrerstochter und hat für ihr fortgeschrittenes Alter noch ziemlich viel Akne im Gesicht. Sie war wohl auch mal in Gedankentherapie, da sie sich auf Grund einer feindindizierten Psychose nicht mehr aus dem Haus traute. Aber das ist lange her und so richtig kennt niemand die Einzelheiten. Im Grunde ist es das Beste dieses Thema gar nicht zu erwähnen. Petra ist Eurasier, genau wie ich und Controllerin in der MIR. Ich diszipliniere im Gegensatz zu ihr nicht die Mischlinge, sondern versuche sie in ein wissenschaftliches Raster zu pressen. In meiner Dissertation beschäftige ich mich unter anderem mit dem Phänomen, der verstörenden Wirkung von englischsprachiger Kinderlyrik auf die Heranwachsenden der lokalen Sternengruppe.
Petra war früher einmal eine begnadete Bauchtänzerin in eurasischen Clubs. Vor zwei Jahren kam sie mit großen Zukunftsplänen und ihrem Mann nach China, doch heute jammert sie nur noch rum, denn sie ist in meinen Augen eine typisch Betrogene. Eine Frau, vorbei geschlittert an ihren besten Jahren, die jetzt mit tiefer Einsamkeit und nagenden Selbstzweifeln im Alltag klar kommen muss, während dessen ihr Ehemann jeden Tag aufs Neue sein Glück nicht fassen kann.
Sein Name ist Olaf und er ist der Meinung, so bald wie möglich zum Buddhismus konvertieren zu müssen. Mit Anfang fünfzig noch einmal die Chance zu bekommen seinen Schwanz in etwas so knackiges, wie seine neue ostasiatische Freundin zu stecken, kann nur göttlicher Segen sein. Coco ist ihr Name und ihr Arsch ist ein Gedicht. Sie spricht sogar ein bisschen Deutsch und bläst wie eine nymphomane junge Göttin. Ach, Chinesinnen sind so viel hingebungsvoller als diese europäischen Kühe, mit denen er sich die meiste Zeit seiner alten Tage herumquälen musste. Doch jetzt gibt es ja Coco und ihm scheint, als habe eine neue Zeitrechnung begonnen. Wenn Coco dann anfängt zu schnurren wie eine rollige Katze, dann weiß Olaf, dass das Leben schön ist. In diesen Momenten weint er manchmal ein bisschen und seine Tränen entsprechen denen des Glücks und der tiefen Dankbarkeit. Jedoch, ein einziger Makel in diesem neuen Glanz bleibt. Der Terror seiner Frau Petra hat eine Stufe erreicht, die nicht mehr akzeptabel ist. Anscheinend ist sie über den Verlauf der Dinge nicht allzu glücklich, obwohl sie doch immer freie Entfaltung propagiert und für sich selbst gewünscht hatte. Jetzt gleicht sie nur noch einer hysterischen Hexe und darum versteht Olaf die Frauen manchmal nicht mehr, doch dann sieht er Cocos Augen und alles ist wieder schön und gut und wertvoll. In China liegt das gelobte Land, davon ist Olaf jetzt überzeugt und er möchte diese Erkenntnis unbedingt mir anderen teilen. Er möchte helfen und so träumt er, bald Seminare über seine Erleuchtung zu geben. Im Grunde ist er zu beneiden, denn es scheint, als habe er seine Mission gefunden.
Die Kinder der Sternengruppe sind Unfälle aus Mischbeziehungen, die meist kreischend durcheinander rennen und jeden, dem sie begegnen massiv auf die Nerven gehen. Sie neigen zu körperlicher Gewalt und verletzen sich und andere sehr häufig. Ihr abnormes Aggressionspotential liegt an einer Mutation der Gene, wie sie häufig bei Mischlingen zu beobachten ist. Nicht nur aus diesem Grunde wurde im letzten Jahr auf Malta beschlossen, die Einmischung Fremder in nationales Erbgut unter Strafe zu stellen. Ich stimme mit dieser Entscheidung absolut überein, bin aber auch ein wenig traurig. „[...] Angelerntes Verhalten muss mit der eigenen Struktur übereinstimmen, um authentisch zu bleiben.“, notiere ich später in mein Notizbuch und nehme mir vor die Sternengruppe intensiver in Hinsicht auf Selbstverletzungen zu studieren. Erfahrungsgemäß drehen die Kinder zwischen den Stunden neun und zwölf besonders durch. Das liegt an Substanz C. Substanz C ist die Basis eines neuen engagierten Forschungsprojektes, entwickelt und ausgeführt von der Gruppe um Dr. Bohrschlag. Als Koryphäe in seinem Gebiet war Bohrschlag einer der ersten, der sich für eine Legalisierung von Substanz C von Seiten der Wissenschaft einsetzte. Heute arbeitet er hier in China, zusammen mit seinem alten Unterstützer und Schüler O. George. Sie versuchen fieberhaft, anhand einer kontrollierten Verabreichung von Substanz C, Veränderungen der Hirnströme bei Kindern der Sternengruppe zu erreichen. Ich verstehe nicht viel von dieser Materie, weiß aber soviel um zu wissen, dass dies der finale Durchbruch für die Menschheit wäre.
Zum Mittagessen sitze ich in der Kantine alleine an einem der langen grauen Tische. Alle anderen haben bereits gegessen, während dessen ich mit der Auswertung der heutigen Testergebnisse beschäftigt war. Am Nachmittag erhalte ich dann das Urteil von Mings Prozess. Tod durch Strom. Die Hinrichtung soll aufgrund ihrer vergangen Verdienste für die chinesische Gesellschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen werden. Wie zu erwarten war, nimmt diese Nachricht etwas Druck von mir, da ich weiß wie der Staat Exekutionen vorm Volke zelebriert. Fraglich ist wie es mit mir weitergehen wird. Jetzt wo die Sache ein sauberes Ende findet, kann ich mir eine weitere Gefühlsduselei nicht mehr leisten. Ich habe einen Ruf und mich zu verlieren und hoffe, dass der Spuk von Ming mich mit der Zeit vergessen wird. Möge ihre Seele in Frieden ruhen, denn jeder kreiert seine eigene Realität und ist für sein Tun und Handeln selber verantwortlich. Ming wollte es nicht anders. Sie hat sich bewusst gegen uns entschieden und es wird Zeit damit abzuschließen, gleichzeitig freunde ich mich mit der Idee an, so bald wie möglich bei der Gedankentherapie vorzusprechen. Möglicherweise wäre dies ein Weg meinen Geist und mich neu zu erfrischen. Gleich morgen werde ich alles in die Hand nehmen.
Als ich mit dem Bus unserer Firma nach Hause fahre und noch immer ein wenig über Ming nachdenken muss, sitzt Petra hinten auf der letzten Bank und starrt hinaus auf die vorbei fliegenden Häuser. Wir haben heute kein Wort miteinander gewechselt und währenddessen ich das denke, zerplatzen Regentropen auf der Fensterscheibe vor ihrem Gesicht.
Männer kommen und gehen, das weiß sie bereits und doch ist diesmal alles anders. Ihr ist als bohre jemand eine stumpfe Klinge in ihren Unterleib und sie muss sich zusammenreißen, vor Ekel nicht zu kotzen. Sie spürt den sauren Geschmack von Erbrochenen im Mund und fühlt den Brei aus ihrem Magen direkt unter dem Kehlkopf. Sie weiß, dass eines im Leben nie mehr zurückkommen wird. Das Gefühl begehrt zu werden… Liebe wurde für sie nur zu einer geschmacklosen Posse, einem schlechten Witz über den nicht einmal mehr Idioten lachen können. In den Nächten hat sie Angst, denn es scheint, als gäbe es für sie keine Befreiung. Alles wird bald von dieser Traurigkeit besetzt werden, die tief in ihrem Herzen pocht und immer schwerer zu ertragen wird. Suizid wäre eine willkommende Möglichkeit, dem allen final zu entfliehen. Und in diesem Moment beginnt der Zeitpunkt, wo alles Kommende nur noch eine kalte, glatte Hülle berührt. Einen Körper als Gefängnis einer alten und vertrockneten Seele. Es gibt nichts mehr zu erwarten und alles wird nur noch ein Abstieg nach ganz unten sein. Ein Fallen, ewig und quälend, solange, bis ein neuer letzter Mut entsteht. Ein Druck, ein letzer emotionaler Schub, dann ist alles beendet. Abgeschlossen für die Ewigkeit. Keine Verantwortungen und Sünden mehr. Im Tod liegt die Erlösung für jene, die immer suchten und niemals fanden. Bye bye Petra. No one will miss you…
Zu Hause angekommen stelle ich beruhigt fest, dass der Geist von Ming momentan nicht anwesend ist und ich lege mich auf mein Bett. Ich höre hinein in die Stille, die mich umgibt und lasse den Tag Revue passieren. Mein Puls schlägt dabei ruhig und regelmäßig und die Minuten verstreichen und schwinden dahin.
Früher oder später wird man begreifen, dass das da wo Licht fällt, die Dunkelheit lauert. Auch gibt es Menschen, die haben es einfach nie geschafft. Ming und Petra nur zwei von ihnen. Angeschwemmt an die Ufer dieser Stadt, in der auch ich immer ein Fremder bleiben werde. Es stimmt, Ballast des über die Jahre angelernten Verhaltens kann man nicht abwerfen, solange man meint aktiv zu kämpfen. Sich dem Selbst zu stellen, heißt auf einem Seil zu balancieren und dabei panisch mit den Armen zu rudern. Und wenn sich in diesen Sekunden unsere Hände nach Sprossen sehen, nach Halt und Sicherheit, dann ist dort nur Leere und Dunkelheit, denn wir schweben über einem Abgrund aus Angst und Schmerzen. Nein, dieses Land ist nicht anders und die Regeln des Spiels sind dieselben geblieben. Irgendwann beginne ich langsam zu sinken, und ich sinke hinunter in ein Schlucht und von Ferne höre ich eine mir altbekannt Melodie. Es sind Sirenen einer neuen Epoche und sie verkünden uns, dass Liebe existiert. Sie singen, dass Liebe atmet und Menschen verbindet. Und vielleicht ist es ja wahr. Eine neue Wahrheit, die besagt, dass Vertrauen und Wärme keine Rudimente vergangener Tage sind. Sie leben und sind es wert benannt zu werden. Wir sind Gestrandete und wir sind Zeit. Hier wo alles mit jedem neuen Tag von vorne beginnt. Hier in China. Du und ich. Wir alle als ein Teil von ihnen.
 



 
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