Die Glaskugel

Vadeviesco

Mitglied
Draußen tobt ein Schneesturm um die Blockhütte tief im Wald. Es ist dunkel. Keine Menschenseele weit und breit. Alles Leben hat sich in irgendwelche Löcher verkrochen. Die Erde in dieser Gegend ist im Winter nur wenig mehr als ein Meer aus Eis. In der Blockhütte brennt ein Feuer. Da sitzt ein alter Mann auf einem Schaukelstuhl. Sein wahres Alter ist schwer zu erahnen. Sein Haar schlohweiß, der Bart, der sein rundes Gesicht umgibt ebenso weiß; ab und an eine kleine graue Strähne. Er sitzt in einen weiten Mantel und in Decken gehüllt vor einer Glaskugel. Hinter ihm brennt das Feuer eines Kamins. Versunken blickt er in die Glaskugel und raucht dabei an einer langen, schwarzen Pfeife.

Lydia bestellt einen großen Milchkaffee und Erdbeerkuchen. Dann ist es ihr peinlich, denn Erdbeeren sind um diese Zeit teuer und da sie von Paul eingeladen worden ist, entscheidet sie sich schnell doch für ein Stück Streuselkuchen. Damit Paul nicht denkt, sie habe zu große Ansprüche. Paul bestellt einen Tee und ebenfalls Streuselkuchen. Eigentlich mag er den nicht, aber das war so ein Reflex. Er bestellt das selbe wie Lydia, vielleicht denkt Lydia jetzt, Paul und sie könnten einiges gemeinsam haben (zum Beispiel eine Vorliebe für Streuselkuchen). Und das wiederum würde dafür sprechen, daß sie in Zukunft einiges gemeinsam unternehmen könnten. Die Bedienung nimmt die Bestellung auf und macht sich auf den Weg in die Küche. Paul erzählt Lydia etwas, aber sie ist nicht konzentriert. Vielmehr ist sie damit beschäftigt, ihm in die Augen zu sehen, gleichzeitig möglichst offen und doch geheimnisvoll zu lächeln, die richtige Körperhaltung beizubehalten, sprich: sie tut alles, was jemand tut, der verliebt ist und gleichzeitig nicht zu viel davon offenbaren will. Paul gestikuliert.
Zufällig und tatsächlich ohne Absicht streift er Lydias Hand. Er riskiert einen Moment dort inne zu halten, bereit jederzeit so zu tun, als wäre ihm diese Berührung kaum aufgefallen. Lydia zuckt nicht zurück. Sie wagt es nicht, ihre Hand um seine zu schließen, aber sie hält ihre Hand weiterhin einladend offen. Nun ist diese seltsame Situation entstanden, die jeder kennt, wenn er schon einmal verliebt war. Das Wagnis dem anderen noch näher zu kommen will man kaum wagen, doch gibt es auch kein zurück mehr.
Die Bedienung sieht, was vor sich geht. Ohne daß es ihr bewußt ist, wird sie den Tisch von Paul und Lydia erst in wenigen Minuten bedienen, denn die beiden umgibt gerade eine bestimmte Spannung, die sie in ihre eigene Welt getragen zu haben scheint. Einige Worte werden noch ausgetauscht, doch ihr Inhalt ist bedeutungslos, denn zwischen den Zeilen steht etwas ganz anderes. Lydia und Paul küssen sich kurz und verhalten.
Der Knoten ist geplatzt. Nie können sich Lydia und Paul dessen wirklich sicher sein, doch für den Moment gehört die Zukunft ihnen allein.

Ein Lächeln umspielt die Lippen des Alten. Er rückt seine Decken zurecht. Oft schon hat er solche Bilder gesehen. Doch immer wieder sind sie etwas besonderes. Er füllt seine Pfeife nach, entzündet seinen Tabak und bläst Kringel in die Luft.

Ein Lichtblitz erhellt das tiefschwarze Dunkel der Nacht. Schreie werden lauter und lauter. Blut spritzt durch die Luft. Der Geruch von Feuer macht sich breit. Irgendwo hört man einen Menschen weinen. Irgendwo schreit jemand um Hilfe. Ein Schuß erklingt und der Hilfeschrei verstummt. Eine Gruppe Soldaten rennt davon. Eine andere Gruppe macht sich auf die Verfolgung. Einer aus der Verfolgergruppe stürzt über einen Körper am Boden. Voller Wut zieht er ein Messer und sticht auf den am Boden liegenden ein; doch der ist bereits tot. Eine Kugel ist in der Nähe seines Ohrs eingedrungen und hat ihm den halben Kopf weggesprengt. Der Soldat mit dem Messer erkennt, was er gerade tut, steckt das Messer weg und erbricht sich. Eine Sirene kündigt neue Ereignisse an.
Wieder durchzuckt ein Lichtblitz die Nacht. Man kann Menschen sterben hören. In einem Graben liegen welche am Boden. Sie blicken hinaus in den Nachthimmel, während ihre blutenden Eingeweide den Boden langsam rot einfärben. Ein Kopf um den anderen knickt beiseite. Die Soldaten schlafen ein und werden nie mehr erwachen. Sie haben es überstanden. Ein Junge wimmert nach seiner Mutter. Schwarzes Blut fließt aus einem Loch in seinem Bauch. Die Leber wurde in Stücke gerissen. Seine Mutter, die wird er niemals wiedersehen. Ein Traum von ihr geleitet ihn in den Tod.

Der Alte Mann kramt ein Tuch aus einer seiner vielen Taschen und wischt sich ein feuchtes Auge. Zum Weinen ist er viel zu alt und er hat diese Bilder schon allzu oft gesehen. Dennoch überkommt ihn die Traurigkeit, bis tief hinein in sein Innerstes, bis in die Knochen und hindurch. Er wischt etwas Staub von der Glaskugel und verkriecht sich noch tiefer in seine Decken. Dann widmet er den Bildern in der Kugel wieder seine Aufmerksamkeit.

Sie schreit vor Schmerzen. Überall herum ist Blut. Der Arzt beruhigt sie. „Es wird schon gut gehen. Es sieht alles völlig normal aus.“ Sie krallt sich in den Arm der Hebamme und schreit auf, denn eine Wehe durchzuckt ihren gebeutelten Körper. Der anwesende Oberarzt gibt irgendwelche Anweisungen. Jemand trägt ein Instrument herbei. Sie schreit weiter. Die Schmerzen sind unglaublich. Das kann doch nicht wahr sein! Es wird ihr erstes Kind. Sie kennt das noch nicht. Aber sie wird es durchstehen. Das muß sie einfach. Ihr Mann steht in der Nähe. Gelegentlich hält er ihre Hand. Wenn sie sich aber vor Schmerzen krümmt, dann läßt er los, schaut ganz ängstlich auf die Frau vor sich, die er so gar nicht kennt.
Stunden später ist alles vorbei. Was bleibt ist ein Kreissaal voller Blut und Geburtsreste. Was bleibt ist eine völlig erschöpfte Frau. Was bleibt ist der das Gefühl einen der schmerzhaftesten und zugleich wertvollsten Momente im Leben durchstanden zu haben.

Der Alte nickt dem verschwimmenden Bild in der Kugel zu. Er versteht das. Das Leben kommt und geht. Und immer, wenn es kommt, dann steht die Welt kurz still und nichts regt sich. Es ist, wie kurz bevor die Sonne aufgeht.

Ein Schlag reicht, um die Frau an den Boden zu drücken. Ein weiterer Schlag verängstigt sie so, daß sie nicht mehr schreit. Sie liegt im Schwitzkasten unter ihrem Peiniger. Der drückt ihre Beine auseinander und vergewaltigt sie hemmungslos. Anschließend prügelt er auf sie ein, denn für ihn ist sie nun nicht mehr als ein Stück gefährliches Fleisch, gefährlich, denn es kann ihn hinter Gitter bringen. Deshalb wird er wütend auf sie, schlägt wieder auf sie ein, zieht und zerrt an ihrem Körper. Jetzt schreit sie, nicht aus Furcht, sondern des puren Schmerzes wegen. Er reißt so fest an ihrem Kopf, bis er etwas in Händen hält. Nur mit den Händen hat er ihr ein Ohr abgerissen. Sie wünscht sich, daß alles vorbei sein soll. Sie möchte sterben in diesem Moment. Jetzt läßt er von ihr ab und rennt davon. Etwas in ihr ist bereits tot.

Der alte Mann legt ein Tuch über die Kugel. Er hat genug gesehen. Die Pfeife ist kalt geworden. Das Feuer beginnt langsam in Glut überzugehen. Der Alte ist müde, er möchte schlafen. Doch schlafen, schlafen kann er nicht. Zu viele Gedanken gehen durch seinen Kopf während er auf die Kugel blickt.
„Was soll ist mit dir tun? Wie soll ich mir nur ein Urteil über dich bilden?“ denkt der Mann während er die Kugel ein letztes Mal ansieht.
 

ingridmaus

Mitglied
Hmm...

vielleicht faellt das auch unter die Kategorie "Ich bin zu bloed", aber so ganz leuchtet mir die Geschichte nicht ein.
Bei den einzelnen Szenen in der Kugel verwendest Du starke Bilder, die wirklich gut rueberkommen (auch wenn mir das mit blossen Haenden abgerissene Ohr etwas zu krass ist). Aber das verbindende Element der Glaskugel geht irgendwie an mir vorueber...
Oder geht die eigentliche Geschichte hier erst so richtig los, und der Sinn und Zweck der Glaskugel wird erst nach und nach klar? Dann waers eine gute Einleitung.
 

bassimax

Mitglied
glaskugel

ich finde diese geschichte grossartig, kann aber nicht sagen
weshalb. sie gehört zu den geschichten über die man nicht nachdenken sollte, die genug über sich erzählt haben, und
die man auch gar nicht verstehen muss. ausserdem finde ich
sie ausgezeichnet geschrieben. Und den Schlussatz "Was
soll ich mit dir tuen? Wie soll ich mir eine Meinung über dich bilden?" ist genial. endlich mal ein volltreffer.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo vadeviesco,

so ganz kann ich das schon fast euphorische Lob von bassimax nicht nachvollziehen. Ok. - die Idee ist nicht uninteressant.
Ein alter, in völliger Abgeschiedenheit lebender Mann (für wen er stellvertretend steht - darüber möchte ich nicht spekulieren) betrachtet in seiner Glaskugel einzelne Szenen menschlichen Miteinanders. Dieses Nebeneinander von Gut und Böse, von Glück und Leid scheint ihn zu verwirren und läßt ihn resignierend zu der Erkenntnis kommen, sich über diese Welt kein Urteil bilden zu können. So habe ich es zumindest verstanden.
Probleme hatte ich vor allem stellenweise mit der sprachlichen Umsetzung. Vieles (nicht alles) empfand ich als zu aufgesetzt theatralisch, auch zu klischeehaft und einiges schlicht ungereimt. Hier ein paar Beispiele:

...Vorliebe für Streuselkuchen. Und das wiederum würde dafür
sprechen, daß sie in Zukunft einiges gemeinsam unternehmen
könnten...."
Ob die gemeinsame Vorliebe für Streuselkuchen reicht, um in Zukunft einiges miteinander zu unternehmen, wage ich schlicht zu bezweifeln.

"Vielmehr ist sie damit beschäftigt, ihm in die Augen zu sehen, gleichzeitig möglichst offen und doch geheimnisvoll zu lächeln, die richtige Körperhaltung beizubehalten..."
Also ist sie doch höchst konzentriert! Nur nicht auf das, was Paul ihr erzählt.

"Zufällig und tatsächlich ohne Absicht..."
Das Wort "zufällig" sagt doch bereits, dass es keine Absicht war.

"Lydia zuckt nicht zurück (hier wäre statt des Punktes das Wörtchen "aber" wohl angebrachter als weiter unten). Sie wagt es nicht, ihre Hand um seine zu schließen..."

"Das Wagnis dem anderen noch näher zu kommen will man kaum wagen.."
Ein Wagnis wagen...hm... klingt nicht gerade elegant.

"Der Knoten ist geplatzt. Nie können sich Lydia und Paul dessen wirklich sicher sein, doch für den Moment gehört die Zukunft ihnen allein."
Hier bezieht sich das "sicher sein" von der Satzstellung her auf den geplatzten Knoten. Da er aber geplatzt ist, kann man sich dessen nicht nur sicher sein. Du meinst etwas ganz anderes, aber es kommt sinnentstellend rüber.

"Ein Schuß erklingt..." Hm...ein Lied mag erklingen, aber ein Schuß?
Bei der ganzen Szene ist für meinen Geschmack zuviel Blut dabei. Auch der Rest - schon hundert Mal in ähnlich geballter und daher wenig unter die Haut gehenden Art und Weise gelesen. (Vom Fernsehen ganz zu schweigen)

"...bis in die Knochen und hindurch."
Ist das nicht ein bißchen zu dick aufgetragen?

"Überall herum ist Blut."
Wieder eine maßlose Übertreibung. Wenn Du mal eine Geburt gesehen hast, weißt Du, wo dann das Blut ist. Auf keinen Fall "überall herum".

"Sie kennt das noch nicht."
Ich habe den Verdacht, dir geht es ähnlich.

"Was bleibt ist ein Kreissaal voller Blut und Geburtsreste."
Du scheinst das Blut zu lieben. Aber wieviel davon muß die arme Frau verloren haben, wenn der ganze Saal voll davon ist? Oder machen die dort nie sauber? Und was sind eigentlich "Geburtsreste"?

"Was bleibt ist der das Gefühl einen der schmerzhaftesten und zugleich wertvollsten Momente im Leben durchstanden zu haben."
Den Satz finde ich wunderschön - er allein hätte es unter der Aufzählung, was noch alles bleibt, vollauf getan.

Die Vergewaltigungsszene wirkt langweilig, weil sie geschrieben ist, wie unzählige Male bereits geschehen.


Denke jetzt bitte nicht, mein Kommentar wurde nur geschrieben, um deinen Text zu verreißen. Nein - ich wollte dir nur ein paar Dinge nennen, die m i r nicht gefielen. Solche langen Kommentare schreibe ich aber nur, wenn ich insgesamt den Eindruck habe, daß es sich um eine Geschichte handelt, bei der sich ein Überarbeiten lohnt.

Gruß Ralph
 

bassimax

Mitglied
glaskugel

es mag ja sein das es ein paar sprachliche holperein
gibt. aber für mich steht hier die aussage im vordergrund.
jetzt mag man sich fragen woher ich denn wissen will, was
der autor aussagen will. das weiss ich natürlich letztendlic
nicht. und deshalb habe ich diese geschichte natürlich für
mich interpretiert. und diese interpreatation sieht so aus:
der alte mann ist gott, der sich besieht was er letztendlich
geschaffen hat, oder besser: was aus dem geworden ist, was
er schuf. und die aneinanderreihung verschiedener, gegen-
sätzlicher bilder gefällt mir in diesem zusammenhang sehr
gut. und selbst wenn der autor mir sagen würde das er das
was ich hineininterpretiere vollkommener blödsinn ist, so
wäre mir das egal. wenn ich eine skulptur betrachte, ist
mir das näher, was diese in mir auslöst, als das was der
künstler sich dabei gedacht hat.
und was der alte zum schluss über die kugel sagt, oder
zu ihr, empfinde ich in diesem, meinem persönlichen,
zusammenhang als genial. sprachliche fehler stehen in diesem
fall dann im hintergrund.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo bassimax,

obwohl ich Zwiegespräche über den Kopf eines Autoren hinweg eigentlich zu vermeiden suche, möchte ich doch kurz auf deinen letzten Beitrag eingehen. Ich kann ihn Satz für Satz unterschreiben - nur beim ersten und letzten bin ich anderer Auffassung.
Wenn mir eine Geschichte von der Idee und dem Handlungsablauf generell zusagt(was ja im vorliegendem Fall zutrifft), dann sind es gerade die sprachlichen Fehler und Ungereimtheiten, die den positiven Gesamteindruck stören. Der Gedanke: 'Es ist gut, könnte aber besser sein' reizt dann zur Kritik. Halte ich einen Text für totalen Stuss, dann mache ich mir auch nicht die Mühe, mich mit ihm auseinander zu setzen. Ja - ich lese ihn meist nicht einmal bis zum Ende.
Ich verstehe die Leselupe als eine wunderbare Einrichtung, in der man (vor allem durch gegenseitige Kritik) voneinander lernen kann. Inspiration, Phantasie oder geniale Geistesblitze - lassen sich wohl kaum erlernen. Das ist eine Frage des Talentes. Was man sich aber aneignen kann (und muß), das ist das Handwerk des Schreibens. Um gut zu werden, kommt man da nicht drum herum; schließlich besteht das Schreiben zu 90% aus handwerklicher A r b e i t.
Wir sind nicht zuletzt hier, um uns gegenseitig auf Fehler oder zumindest auf Verbesserungswürdiges aufmerksam zu machen. Das gelingt nicht immer, aber man sollte es immer wieder versuchen. Ein wohlwollendes Über-Fehler-Hinwegschauen, nur weil der Plot gefällt, schmeichelt zwar dem Autor, hilft ihm aber nicht weiter.

Gruß Ralph
 



 
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