Die Glocke

Muffin

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Die Glocke

Im ganzen Gebäude war Stille eingekehrt. Meine Schritte auf den kalten Fliesen hallten in den verschlungenen Gängen. Ich lenkte sie in Richtung Treppenhaus. Die gelben Fliesen des Fußbodens waren am Rand mit Grünen umrandet. Die Treppen waren seltsam verwinkelt, die Geländer mit Kugeln und Schnörkeln verziert. Eilige Schritte liefen vom Lehrergang auf mich zu. Durch die geschlossene Tür hörten sie sich dumpf an. Ich lauschte wie sie lauter wurden, um dann plötzlich zu verstummen. Eine Tür fiel ins Schloss.
Ich stand nun direkt vor der Treppe. Sie lief vor mir hoch, um sich dann auf halber Höhe in zwei Teile zu verzweigen, die links und rechts zum ersten Stock führten. Hinter der Treppe hat der Architekt des Gebäudes eine große Fensterwand geplant, die den Blick auf den Schulgarten gewähren sollte. Doch die meisten Fenster waren blind und milchig. Die Wiese, die schmutzig dahinter zu sehen war, war braun, weil sie so kurz gemäht war, dass die Erde durchschimmerte.
Auf der Südseite der Halle gab ein kleineres, aber umso saubereres Fenster den Blick frei auf einen kleinen, quadratischen Innenhof mit weißgetünchten Wänden. Oben konnte ich den Himmel sehen. Hohe, weiße Wolken rasten da vorbei.
Um den Innenhof herum befand sich ein Gang. Hohe Fenster gaben immer wieder einen Blick auf den Hof.
Auf der anderen Seite des Rundganges waren große, schwere, braungebeizte Türen. Hinter manchen Türen war es leise, aber hinter den meisten konnte man einzelne oder viele Menschen reden hören.
Ich ging in Richtung Ausgang.
Links und rechts neben der Tür, die in den kleinen Vorraum führte, waren rosafarbene Pinwände angebracht, auf denen Aktivitäten, Feste und Wettbewerbe zum mitmachen einluden.
Die Uhr über der Tür zeigte ein alarmierendes kurz vor halb zwei an.
Warum stand ich hier noch?
Ich fuhr jäh zusammen, als misstönender Dreiklang die Stille zerriss. Der Ton verklang, doch gleichzeitig brach hinter den Türen ein gewaltiger Lärm los. Alle Türen wurden nun aufgerissen und Ströme von Schülern wälzten sich zum Ausgang. In den Gängen vereinigten sie sich wie Schneeflocken zu riesigen Lawinen. Hunderte von Schülern ergossen sich in die Halle und hatten nur ein Ziel, die Tür. Jäher Schrecken befiel mich.
War ich lebensmüde?
Ich versuchte mich zu rühren, doch ich war starr vor Schreck. Die Ersten rannte schon an mir vorbei, als ich endlich wieder die Kontrolle über meine Beine hatte. Nur ein plötzlicher Hechtsprung hätte mich jetzt noch retten können, doch zu spät.
Einzelne Gesprächsfetzen drangen an meine Ohren, ohne irgendeinen Sinn zu ergeben. Sie vereinten sich in meinem Kopf zu einer einzigen riesigen Schallwelle, die mich zu überrollen drohte. Es gelang mir soeben noch mich umzudrehen, ehe die Woge von Schülern mich eingeholt hatte. Mit wehenden Haaren und rappelndem Ranzen versuchten vierhundert Schüler sich gleichzeitig durch eine Tür zu quetschen. Das geht natürlich nicht ohne Prellungen, Quetschungen und Schürfwunden. Ich spürte deutlich einen Ellbogen in meinem Magen. Zur Tür, dem Nadelöhr der Gesellschaft hin wurde das Tempo immer schneller. Doch erst fünf Meter dahinter sackten die ersten Opfer der Türkarambolage leblos zusammen. Vorher hatte es, wegen der Enge, keine Möglichkeit zum Umfallen geben.
Mit etwas Glück ereichte ich lebend die zweite Tür, die aus dem Vorraum heraus führte. Mitten in atemberaubender Enge spürte ich einen Schubs im Rücken, der mich mit Pauken und Trompeten die Treppe runterpoltern ließ.
Benommen blieb ich sitzen. Der Lärm verklang und als ich die Augen wieder öffnete, war der Schulhof leer.
Nur ein paar blaue Flecken erinnerten noch an das Nadelöhr, durch das sich täglich ein Kamel quetschte, das keine andere Richtung kannte als nach Hause.
 



 
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