Die Gräfin

Eine Fliege in ihrem Gesicht hätte Lulu nie ertragen. Jetzt läuft die Eintagsfliege über ihre leicht geöffneten Lippen, verschwindet kurz in ihrem Mund, taucht wieder auf.
Lulu, so nannte sie Rainers Stiefvater. Gegen ihren Willen. Eigentlich hieß sie Luciane, wollte auch so gerufen werden und immer Gräfin sein. Vor einigen Tagen residierte sie noch in dem langen niedrigen Vorstadthaus, in dem neben der ihren noch sieben weitere Familien wohnten. Und sie wusste, dass sie keine Gräfin war. Fehlte ihr doch der dazugehörige Stammbaum. Adel komme von edel und sei ihr schon deswegen eine Herzenangelegenheit, betonte sie häufig und lächelte. Allerdings verriet sie nie, wie sich der Adel auf ihr Herz auswirkte.
Rainer lebte gut zwanzig Jahre mit ihr zusammen im Langen Jammer. So nannten die Nachbarn, die in mehrgeschossigen Vorstadt-Häusern drumherum wohnten, das alte Landarbeiterhaus, auf das sie aus ihren Fenstern und von ihren Balkonen herabblickten. Einst beherbergte das Haus Tagelöhner, die auf dem nahegelegenen ehemaligen gräftlichen Gutshof deren von Winterberg arbeiteten. Die Grafenfamilie gab ihr Gut schon vor dem ersten Weltkrieg auf. Einst züchteten die von Winterbergs dort Vieh und auf den weiten Feldern um den Hof bauten sie Weizen, Roggen und Gerste an. Doch da kein männlicher Nachfolger mehr bereit war, den landwirtschaftlichen Großbetrieb zu übernehmen, zogen der alte Graf und die Gräfin auf einen Altersruhesitz am Pönitzer See in der Holsteinischen Schweiz.
Lulu war immer stolz darauf, in jenem langen Haus aus ehemals gräflichem Besitz zu leben, obwohl ihr Vater, ein keineswegs blaublütiger Schlossermeister, dem Grafen zwei Achtel des Langen Jammers abkaufte, um seiner Tochter das eine Achtel für ihre Familie zu schenken. Jede der acht Familien im Langen Jammer besaß 36 Quadratmeter im Erdgeschoss und unter dem Dach noch gerade genug Platz für ein kleines Schlafzimmer und eine winzige Kammer. Es gab kein fließend Wasser im Haus, dafür aber einen Brunnen mit Pumpe im kleinen mit einem hohen Holzzaun eingefriedeten Hof, an den sich ein schmaler langer Garten anschloss. Außerdem stand in dem Hof ein kleiner Stall und darin neben dem Schweine-Verschlag ein stinkendes Plumpsklo.
Unter den Dachschrägen des Hauses lernte Lulu, gebeugt zu gehen und die schmalen Erdgeschoss-Räumen zwangen sie, sich gemessenen Schritts fortzubewegen, da nach wenigen immer irgendwo eine Wand, ein Möbelstück, ein Familienmitglied oder eine Tür schnellere Fortbewegungsarten behinderten.
Lulu beherrschte sogar den Hofknicks, den sie sich als Kind in einem Stummfilm über das deutsche Kaiserhaus abschaute.
Jetzt liegt sie hier zwischen sechs Leuchtern, auf denen weiße Kerzen brennen. Nur deren leises Knistern beim Abbrennen nimmt der Stille das Bedrückende. Ansonsten ist es kühl in dem weiß gekalketen Raum, in dem Rainer sein Atmen zu hören glaubt.
Fast zwanzig Jahre lebte er mit ihr in engen Räumen, schlief allein unter dem Dach in einer als Abstellraum gedachten und von ihr als Ankleidezimmer für sich vorgesehenen Kammer, in der eine schmale Couch, ein kleiner Schrank, ein Hängeregal, ein winziger Tisch und ein Stuhl das Kinder- und später Jugendzimmermobilar darstellten.
Sie schlief mit Rainers Stiefvater im so genannten Elternschlafzimmer, in dem kaum mehr als ein breites Doppelbett, ein zweitüriger Kleiderschrank und eine Spiegelkommde Platz fanden.
Breitete er als Jugendlicher beide Arme aus, konnte Rainer im Kinderzimmer gleichzeitig beide Wände berühren. Und überkam seinen Stiefvater nachts die Lust, hörte Rainer sein Stöhnen durch die dünne Holzwand, die ihn von den Eltern trennte. Lulu ließ offenbar alles schweigend über sich ergehen.
Gerade kommt die Fliege wieder aus ihrem Mund. Rainer sucht nach etwas, um damit die Fliege zu erschlagen. Doch in dem weiß gekalkten Raum liegt nichts herum. Er wagt es ohnehin nicht, der Gräfin ins Gesicht zu schlagen.
Seine Frau Mutter, wie sie am liebsten von ihm genannt werden wollte, hätte er zu Lebzeiten gern geschlagen, bis sie endlich einen primitiven Schmerzensschrei von sich gegeben hätte, sie, die allein schon lautes Gerede für würdelos und nicht adelsangemessen hielt. Stets sprach sie in leisem sonoren Tonfall, lächelte dabei in einer Art, die sie offenbar für huldvoll hielt und weinte, indem sich ihre Augen randvoll mit trübem Wasser füllten, ohne dass je Tränen über ihre gepuderten Wangen liefen.
Vor vier Tagen schrie sie und vor drei Tagen versagte ihr Herz. Sie wollte sich in dem kleinen Wohnzimmer mit dem übergroßen Kronleuchter von dem alten Barocksesselchen erheben, wurde bleich und sank zurück.
Ihr Schrei am Tag zuvor galt ihm. Rainer war geräuschvoll ins Wohnzimmer gestürmt, um es ihr endlich zu sagen, um sie anzubrüllen. Leicht gebückt blieb er unter dem tief hängenden vielarmigen Kronleuchter stehen. Sie hatte ihn einst bei einem Antiquitätenhändler erworben, nachdem der ihr versicherte, das wertvolle Stück stamme aus einem Schloss.
„Junge, was polterst du hier so herein?“ Sie begann unverzüglich mit den Fingerspitzen ihre Schläfen unter ihrer zur Krone aufgetürmten Frisur zu massieren, setzte sich aufrecht hin, schob ihren weiten dezent rosa geblümten hellen Rock über den Knien zurecht, zupfte an ihrer Rüschenbluse und sah ihn lächelnd an.
Rainer holte Luft und herrschte sie leise an: „Wenn du wüsstest, was für eine alberne eingebildete dumme Kuh du bist. Die ganze Nachbarschaft lacht über dich.“
Sie sprang auf und schrie, einfach so, kreischend, ohne, dass er ein Wort verstand, holte aus und schlug ihm mitten ins Gesicht.
Rainer wich zurück, trat wieder auf sie zu und wollte zurückschlagen, konnte es nicht, kehrte auf dem Absatz um, rannte durch die schmale Küche auf den Hof und in den Garten. Am Ende des Gartenwegs standen, von einer Hecke umwachsen, eine Holzbank und ein Tisch. Er setzte sich, legte Arme und Kopf auf den Tisch. Wartete auf Tränen. Sie wollten nicht fließen..
Am Tag darauf fand sein Stiefvater sie auf ihrem Barocksessel. Halb heruntergerutscht. „Herzversagen…“ stellte Dr. von Schwarzer fest. Er war ihr Hausarzt.
Wieder kriecht die Fliege aus dem leicht geöffneten Mund und über die blasse Wange. Rainer holt aus und schlägt vorsichtig zu.
 



 
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