Die Großvaterkiste

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nisavi

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Das Grab ist eingeebnet worden; die Ruhezeit von zwanzig Jahren längst abgelaufen.
Sie weiß dennoch, wo ihr Vorfahre begraben ist. Vorfahre, was für ein Wort, denkt sie. Unter einer Eibe, an einem kühlen, schattigen Platz. Direkt an der Friedhofsmauer, hinter der sich eine vielbefahrene Straße stadtauswärts windet. Immer, wenn sie auf dieser Straße unterwegs ist, spürt sie dem Großvater nach, in Gedanken, aber sie ahnt, dass sie eigentlich nicht weiß, wer dieser Mann war.
In den Träumen sieht sie ein Schloss. Vom Küchenfenster aus. Sie fragt sich, ob ihr das Gedächtnis einen Streich spielt. Nach all den Jahren. Sie glaubt, das frischgescheuerte Treppenhaus zu riechen. Es ist Erinnerungsgeruch. Ob es ihn gab? Oder gibt?
Eine Zeitlang kam er die Familie oft besuchen. Unangemeldet. Überraschend. Sie schaute aus dem Fenster, um die Mittagszeit, nach der Schule, und freute sich, wenn der alte, hagere Mann langsam die Straße zum Haus heraufgelaufen kam. Er hatte ein dunkles Jackett an und trug eine lederne Aktentasche bei sich. Oft blieb er stehen, weil die Beine nicht mehr wollten. Setzte die Tasche ab. Strich sich das Haar nach hinten. Nahm die Tasche wieder auf und ging weiter. In Zeitlupe. So, wie er wohl ein Leben lang weitergegangen war.
Sie pflückt Blumen von Parkwiesen. Blassblaue Blumen. Vergissmeinicht. Eine Männerstimme ruft sie. Die Kinderhände können den Strauß kaum halten. Irgendjemand sucht eine passende Vase.
Er brachte Schokolade mit, Rotsternschokolade. Sie mochte Schokolade und sie mochte ihn.
Ihre Mutter hingegen war gereizt, wenn er zu Besuch kam und deutete an, er habe Streit mit seiner zweiten Frau und sei nur deshalb da. Die hatte er kurz nach dem Tod der Großmutter geheiratet. Übereilt und hastig. Er konnte nicht allein sein, behauptete die Mutter. Keinen Haushalt führen. Aber es musste weitergehen. Immer. Irgendwie.
Im Mund der Geschmack von Bayrisch-Blockmalz. Eine viereckige Großmuttersüßigkeit. Zu Kieselform gelutscht. Man kann die wohlschmeckenden Steine gegen das Licht halten. Aber dann kleben die Hände.
Der Vater blieb nachmittags länger im Institut und schwieg ausdauernd, wenn der Schwiegervater im Wohnzimmer saß. Er hielt sich plötzlich, entgegen seinen sonstigen Angewohnheiten, bei der Mutter in der Küche auf, um keine Gespräche mit dem Gast führen zu müssen. Es war nicht so, dass er ihn völlig ignorierte, aber er beschränkte den Kontakt auf ein Mindestmaß, das ihr geradezu unanständig vorkam. Für den Großvater war der Schwiegersohn ein „Studierter“. Einer, der zwar klug daherreden konnte, aber keinen Nagel gerade in die Wand bekam.
Der Großvater verbrachte die Tage mit Lesen. Vor allem Zeitung. Er sah auch fern. Hörte Radio. Schrieb Postkarten mit zittriger Hand. Besuchte die Verwandte in der Sächsischen Schweiz. Nickte im Sessel ein. Schnarchte dabei fürchterlich. Schrak zusammen. Manchmal konnte er seine Träume dann nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden. Er erzählte, dass eine berühmte Opernsängerin ihn zu Hause besucht, er Robert Lemke im Zug getroffen habe. Dass Vicky Leandros ein feines Mädel sei. Sie verbarg ihr Kichern schlecht. Gluckste. Die Mutter war hin- und hergerissen. Auch sie musste lächeln. Ein trauriges Lächeln. Dann aber wurde sie ernst und drohte der Tochter. Alle Menschen würden einmal alt.
Brombeerteenachmittage. Berliner Zungen aus dem besten Cafe am Platze. Der Blätterteig krümelt. Die Creme muss man sich für zuletzt aufheben. Sie ist das Beste.
Die Mutter bäckt einen Frankfurter Kranz. Nach überliefertem Familienrezept. Der Geruch gerösteter Kokosraspeln wabert durch die Wohnung.
Einmal riss der Großvater, der mit wenig Schlaf auskam und bis zum Sendeschluss fern sah, die Schlafzimmertür auf und schrie in die Dunkelheit, dass das Ultimatum der Entführer in diesen Stunden abliefe. Sie würden die Maschine sprengen. Ihr Kinderherz pochte wild. Keiner verstand ein Wort. Aber alle wussten: etwas Bedrohliches war geschehen. Der Vater murmelte verschlafen: „Lass uns in Ruh.“ Die Schlafzimmertür wurde leise geschlossen, der Vorfall nie wieder erwähnt.
Sie rechnet. Zehn Jahre ist sie alt. Mogadischu. Ein Wort wie ein Lichtspalt, der ins Zimmer fällt. Grell.
Manchmal schwärmte der Alte auch von der ersten Frau. Von der, die so zeitig gestorben ist, nach einem Herzinfarkt. Die Mutter hatte erzählt, dass die Ehe der beiden nur in den Anfangsjahren glücklich gewesen war. Dann habe er zur Wehrmacht gemusst und der Krieg habe ihn verdorben. Verdorben. Wie verschimmeltes Toastbrot? Erst Jahre später begriff sie, was die Mutter hatte erklären wollen. Der Großvater hatte Schreckliches erlebt. Tagelang in Schützengräben gelegen. Schwarze Skorpione liefen die Wände entlang. Die Sterbenden schrieen nach ihren Müttern. Er fand sich nicht wieder in der Familie. Er kam nie wirklich zurück zu seinen lebhaften Zwillingstöchtern und der Frau, blieb für immer ein Fremdkörper im Getriebe der thüringischen Kleinstadt.
Im Bad, auf dem Fensterbrett, steht ein Einweckglas mit Zähnen. Sie setzt sich auf den äußersten Rand der Toilette und schaut in die andere Richtung, zur Tür.
Einmal hatte der Großvater eine abgewetzte, graue Kiste mitgebracht. Seine Fotos von der Front seien darin, sagte er leise. Er hob den Deckel ab. Ein eigenartiges Geräusch, das an ein Seufzen oder ein Ausatmen erinnerte, entstand. Muffiger Geruch machte sich breit. Die Bilder waren vergilbt. Von Insekten angefressen. Sie hatten einen weiß gezackten Rand. Junge Männer in Uniformen waren darauf zu erkennen. Lastwagen. Weite Felder. Häuser.
Der Großvater breitete die Fotos auf einer bunt gemusterten Wachstuchdecke aus. Schweigend und ernst.
Da kam der Vater von der Arbeit. Wieder später als gewöhnlich. Aber gerade noch im rechten Moment. Er erblickte die Bilder, sah in neugierige Tochteraugen und forderte den Großvater mit harter, lauter Stimme auf, alles sofort in die Kiste zurückzupacken. Er solle das Zeug wieder mitnehmen. Unverzüglich. In seiner Wohnung sei kein Platz für diese Dinge. Nicht einmal im Keller. Der alte Mann packte seine Erinnerungen zurück in die Kiste. Ohne ein Wort. Ein Seufzen war zu vernehmen.
Das Grab ist eingeebnet worden. Die Kiste verschwunden. Spuren verlieren sich.
Sie träumt von Schlössern, von Blumenwiesen und Skorpionen.Und wüsste gern, wer er war.
 

Walther

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Hi Nisavi,

es ist schade, daß diese Geschichte bisher nicht kommentiert worden ist. Wieder, darf ich anmerken, ein sprachlich starker Text. Aber das bin ich bei Dir schon gewöhnt. :)

Allerdings komme ich mit dem Fluß der Geschichte nicht so ganz klar. Sie hat an einigen Stellen Längen. Daher würde ich die vielen Wendungen straffen. Die Aussage kann mit einem stärkeren Spannungsbogen kürzer und damit überraschender zustande gebracht werden.

Da ich kein Experte für Geschichten bin, möchte ich es mit diesem Eindruck bewenden lassen und Dir alles Gute wünschen.

Gruß W.
 

Clara

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Ich habe den Text insgesamt gern gelesen -
etwas ins Schleudern kamich, als ihre Mutter den Frankfurter Kranzkuchen buk - wer war da wer?

Und, es scheint eine Bedeutung zu haben, dass Vater nicht nur später kommt wenn der Grossvater da ist, sondern üblicherweise.
Wer könnte da wem was verraten, das frage ich mich.
Schliesslich hat der Arbeitende Vater ja wohl die eine Tochter geheiratet von dem alten Herrn.
Das das insgesamt nicht immer einfach ist, so im Familienverband ist klar - aber die besondere Zeit des zweiten Weltkrieges hat da noch mehr zu bieten - ja, was auch im Dunkeln bleibt, wie das, wie Opa denn war wenn man fast immer wieder quasie über ihn hinwegfährt.

Solche Bilderkisten geben manchmal ein ganz eigenes Gefühl frei für die Menschen die darauf abgebildet sind - fern aller Vorbehalte und Nachsagungen, der einen Umgebenden.
 



 
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