Die Häkelnadel erzählt

Buecherbiene

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Umgarntes - Ein Wollmärchen

Lautes Stöhnen einer armseligen Häkelnadel: Na sowas, jetzt liege ich hier im Halbfinstern und habe nichts zu tun? Wie hält man das für möglich? Es ist nicht zum Aushalten. Erst
arbeite ich mich Jahrzehnte lang kaputt und nun - Asche auf mein Haupt - langweilige ich mich in den Tag hinein. Mich nützlich machen, aber wie?
Ach, waren das noch schöne Zeiten, wenn ich an meine Anfänge denke. Wachsende Topflappen in schwitzigen Kinderhänden, später einmal eine Mütze, Schal, Handschuhe für die lieben Kleinen aus inzwischen filzig gewordener Wolle. Und nun im Korb liegen unter all den muffig riechenden Sachen. Ich bin halt keine Maschine und deshalb leider so uninteressant geworden. Früher kam ich sogar unter mattem Licht und flackernden Kerzen zum Einsatz. Ich war bei Tag und Nacht beliebt unter den Mädchen und Frauen, sie umgarnten mich.
Auf dem Speicher stand nun mein buntes Körbchen, in dem ich mit meinen Mitgehangenen wohnte. Jedes Jahr ließ sich der Hausmeister, den wir Ratzfatz nannten, ein einziges Mal sehen, um uns zu mustern, bevor er mit dem Aufräumen oder dem Entrümpeln begann. Mir wurde jedes Mal Angst und Bange, ich hoffte jedoch gleichzeitig auf das Wunder, entdeckt und zu neuen Tätigkeiten wieder auferweckt zu werden. Heuer warteten wir scheinbar vergebens auf ihn.
Eines Morgens geschah etwas Seltsames. Vorm Haus waren laut Stimmen zu hören.
Ärgerlich erhob sich Ratzfatz um nachzusehen. Was er sah, verschlug ihm die Sprache. Vor dem Haus waren die Woll- und Garnknäuel aufmarschiert. Da standen feine, grobe und sehr
flauschige Wollen, Gemische und Polyesters und wie sie noch alle heißen. Und alle schrien sie durcheinander.
„Ruhe“, donnerte Ratzfatz und hob den rechten Zeigefinger, „was wollt ihr hier? Wieso seid ihr nicht in euren Handarbeitskörben?“
„Da wollen wir nicht mehr bleiben“, riefen die Materialien und der Wollstrang fuchtelte drohend mit den Enden. „Wieso wollt ihr da nicht bleiben“, fragte Ratzfatz entgeistert, „das war doch immer euer Platz?“
„Wir wollen, dass du uns aus der Dunkelheit befreist“, rief Silbersträngchen und nickte so heftig, dass ihm beinahe die Manschette vom Leib gefallen wäre.
„Ich soll wohl euer Dasein verändern.“ Ratzfatz ahnte wohl.
„Bist du ein wichtiger Mann oder nicht“, schrie eine andere Wolle und schüttelte sich so aufgebracht, dass ein ganzes Staubgestöber über den Hausmeister hernieder ging ...
Er entgegnete: "Ich würde euch gerne helfen, wenn ihr mir sagt wie ich es anstellen soll. Wärt ihr alle weiche reine Babywollen, dann hättet ihr eine Chance, aber so? Euer Zeitalter ist vorbei, ich bringe euch zum Textilcontainer."
Aber um Himmelswillen NEIN!, schrie die Tweedwolle, mit mir und meiner Verwandtschaft kann man noch einen tollen Winterpulli stricken. Los Leute, mal alle antreten zum Appell.
Eins, zwei, drei, viele - (sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich). NEIN, schreien sie alle gleichzeitig: wir wollen nicht in den Reißwolf."
Bei diesem Wolfswort wird sogar die lila Strumpfwolle blass und stellt sich gleich geistig die Reißzähne des wilden Tieres vor. Für Kindersocken reichen wir allemal. Wir auch, wir auch brüllen Dutzende von Garnpaketen.
Was mach ich nur mit euch, Ratzfatz kratzt sich am Kopf. Ich mache euch einen Vorschlag, alle mal mit reinkommen, aber bitte nicht drängeln, sonst verheddert ihr euch noch mehr
ineinander zu einem noch größeren Wirrwarr und dann ist mit euch gar nichts mehr anzufangen.
Rauf auf den Speicher, aber leise - Nadeln, sammelt euch und benehmt euch bitte nicht wie Mikadostäbchen, sondern geht gebündelt hinauf.
Da tut sich doch etwas, denke ich, als sich knarrend die Holztüre öffnet, Ratzeputz hereintritt, mitsamt einer Rollwolllawine im Schlepptau. Was für eine heruntergekommene – äh - heraufkommende Gesellschaft. Ein Gedränge, dass es einem ganz übel werden kann.
Trotzdem bin ich innerlich aufgebracht: ARBEIT, es gibt ARBEIT! Mein tristes Dasein scheint endlich ein Ende zu nehmen. Doch es scheint nur so, denn ehe man sich verschaut,
sind sämtliche Wollsorten in einer riesigen Kiste verstaut. Was soll das denn nun? Warten aufs Rumpelstilzchen?
Mir ist ganz schlecht, denn nebenan liegen die Garne, mit denen ich etwas anstellen möchte, ich komme aber nicht an sie heran. Diese Warterei macht mich total konfus. Ich träume bei Tag und Nacht von ihnen und wünsche mir eine Zauberhand, die mich führt. Ich kann und will nicht mehr länger untätig nur daliegen! Kann das denn keiner verstehen? Wie kann ich nur auf mich aufmerksam machen? -

Meine Chance:
Der Strickkreis 70/80 trifft sich jeden Donnerstag, Es wird zwar auch gehäkelt, doch überwiegend werden Socken gestrickt. Jede Teilnehmerin schafft im Jahr 5 bis 10 Paar Socken. Diese werden gesammelt und auf dem alljährlichen Weihnachtsbasar der kleinen Stadt zum Kauf angeboten,. Das meiste Geld bringen die Stammkunden, die die selbstgestrickten Strümpfe zuhöchst loben. Doch es gibt auch allerlei anderes zu ergattern.
Der eingebrachte Umsatz wird für einen wohltätigen Zweck verwendet, ein Teilbetrag geht für den Kauf neuer Wolle drauf, die nicht billig ist. Und das ist der Knackpunkt, weil man nur hochwertige Woll- und Baumwollgarne einkauft. Dadurch fällt der Verdienst minimal aus und jedes Jahr schrumpft der Spendenbeitrag. Die Strickerinnen opfern viel Zeit und manch
eine bekommt vom vielen Nadeln Gelenkschmerzen. Doch keine jammert, denn lieber geht es etwas langsamer. Andere emsige machen das wieder wett.
Beim jüngsten Treffen sprach man darüber, wie man das Restmaterial verwenden könnte, und jede Strickfreundin grübelte darüber nach. Bis eine die Idee hatte und mit dem Blütenhäkeln anfing. Dazu eigneten sich allerdings nur die weniger dicken Garne, die für Nadelstärke 5 und mehr kamen nicht zum Einsatz. Die Damen gingen fleißig und einfallsreich ans Werk und konnten nicht mehr aufhören. Es entstand ein buntes Blumenmeer (einziges Manko, jene dufteten nicht) Alle Farben waren vertreten, sogar weiß und schwarz. Rosen, Tulpen, Nelken welken, aber diese nicht. Einige Blumen wurden zu Kissen zusammengenäht, andere wurden zu Tischläufern verarbeitet oder blieben einzelne Streublumen zum Dekorieren. Die Nelken entstanden schnell, in Nullkommanix waren bei den größeren Blumen fünfzig Gramm Wolle verbraucht.
Es ging ganz einfach, das kann jedes Kind (zum Glück lernen die Kids das Handarbeiten noch in der Grundschule, doch man kann darauf warten, weil es bald abgeschafft wird.
Kettmaschen, Luftmaschen, feste Maschen und Stäbchen, beherrscht fast jeder. Sogar die Jungs mussten manche Maschen während des Handarbeitunterrichtes durchziehen. Interesse
für ernadelte Blüten wird bei ihnen bestimmt gleich 0 - also nicht erstrebenswert sein (ausnahmsweise als Geschenk zum Muttertag - doch dann hantieren die Buben lieber mit Papier und Schere)

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Es tut sich was:
Ratzfatz fällt es schlagartig wieder ein, gerade in dem Moment, als sich seine rechte große Zehe endgültig durch seine Socke gebohrt hatte, derweil hat er sich doch vor kurzem erst die Zehennägel geschnitten. Die Strümpfe, die er so liebte, die er nicht um alles in der Welt missen möchte, waren reine Handarbeit. Schlimm war, dass es sein letztes Paar aus Omas Nachlass war. Da war nun guter Rat teuer, die WOLLE. Muss der alte Hausmeister sich noch einmal rauf begeben.... Doch, wer sollte ihm welche stricken? .
Da Ratzfatz ein Mann für alle Fälle ist, weiß er sich zu helfen. Wozu gibt es schwarze Bretter?
Liebe Bewohner der Stadt bitte helft mir! Bei uns haben sich etwa 5.000 Wollknäuel und Garnrollen einquartiert, die verarbeitet werden wollen. Außerdem brauche ich dringend neue
Socken, hierzu suche ich ehrenamtliche Handarbeitswillige. Als Gegenleistung biete ich Wolle an, soviel ihr wollt. Nadelspiele, Rundstricknadeln, sowie Häkelnadeln in allen Stärken sind ebenfalls vorhanden. Bedingung, es soll zu wohltätigen Zwecken verwendet werden.
Abzuholen bei Familie Winter gleich neben der ehemaligen Handarbeitsfirma Erwin Stricksocke.
Bitte melden bei Franz Ratz, Hausmeister!


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Wieder Donnerstag:
Frau Liesel erzählt während der fleißigen Strickrunde von dem Zettel am schwarzen Brett (im Supermarkt hing einer), ja wenn da noch Bedarf wäre an Stricksachen, aber wer mag heute
schon Handgefertigtes? – Aber ein paar Socken von unserem Vorrat könnten wir dem Herrn Ratz schon anbieten, meinte Frau Nette. Das lohnt nicht, meinte Frau Schneider, der
Weg dorthin ist zu weit. Dann soll er sich welche bei uns abholen, da hat er zusätzlich noch eine große Auswahl. -
Herr Ratz weiß noch nichts vom Vorhaben der älteren Damen und begibt sich auf den Speicher. Durchwühlt die Wollkiste, findet jedoch nicht "seine Wolle", er liebt braunmeliert.
Als er die vielen bunten Wollreste und angefangenen Knäuel zwischen den ganz Neuen sieht, kommt ihm die Idee, die könnten im Kindergarten noch gut zum Basteln verwendet werden.
Er kannte sich zwar mit solchen Sachen überhaupt nicht aus, hatte aber irgendwann einmal zu Ohren bekommen, dass die Kinder Wollbilder und ähnliches mit Hilfe der Erzieherinnen
gestalten.
Mir wird ganz heiß, als ich Kindergarten höre, denn Herr Ratz hat eben laut gedacht.
Bitte, bitte hol mich raus, nimm mich mit, schreie ich verzweifelt.
Doch Herr Ratz geht weiter, am liebsten hätte ich ihm ein Bein gestellt, habe leider keines.
Mein Haken ist nicht groß genug und außerdem hält mich mein Knäuel zurück, in dem ich feststecke.
Ratzfatz macht noch einmal auf dem Absatz kehrt, warum? Ihm fällt das Körbchen ein, vielleicht kann man daraus auch noch etwas gebrauchen?
Nadeln, Nadeln und nochmals Nadeln, da weiß er nicht, für welche er sich entscheiden soll.
Die Nähnadeln sind viel zu gefährlich für kleine Kinder, denkt er, und bei den Stricknadeln ist er sich auch nicht sicher. Er findet einen Magneten, eine Schachtel mit größeren Knöpfen (die nicht so leicht zu verschlucken sind) und ein Stopfei, dies packt er alles zu den Garnresten in seinen
mitgebrachten Rucksack und freut sich.
Er freut sich auch, als Frau Liesel am nächsten Tag bei ihm anruft. Ja, er werde gleich zum Ausstellungsraum der fleißigen Strickerinnen kommen.
Er nimmt seinen Rucksack, denn der Kindergarten liegt direkt auf dem Weg, schnappt sich sein altes Fahrrad und fährt los.
Die Erzieherin nimmt dankbar die Wolle entgegen, auch die Schachtel mit den Knöpfen, das Stopfei, nur die Häkelnadel, die sich am Magneten mitsamt dem kleinen Wollknäuel festhielt, gibt sie Herrn Ratz zurück, die sei viel zu gefährlich.
Bei den Strickerinnen staunt Herr Ratz nicht schlecht über diese Menge von Strümpfen und kauft ihnen gleich zwei Paar ab. Die werden ihm für ein Jahr wohl genügen.
Dann fährt er frohgemut nach Hause.
Endlich hat er wieder neue gute, strapazierfähige und warme Socken. Und sogar ein zweites Paar zum Wechseln. Allerdings hat er wegen der Wolle vergessen zu fragen und an mich, die
Häkelnadel, denkt er auch schon längst nicht mehr. Nun liege ich in seinem Rucksack und da werde ich wohl eine Weile bleiben.
Was habe ich nur für ein Pech, denke ich und träume erneut von tausenden Luftmaschen, festen Maschen und Stäbchen. Ich arbeite und arbeite Masche für Masche und kann nicht
genug bekommen. Ich kleide alle Menschen neu für den Winter ein und aus den restlichen Materialien häkele ich Nelkenblüten in den allerschönsten Farben. Und wenn ich damit fertig bin, dann fange ich wieder von Neuem an.

Ende

Nachtrag:
Nelkenanleitung:

8 Luftmaschen anschlagen, zu einem Ring schließen.
1. Reihe: 20 Stäbchen in den Ring häkeln.
2. und 3. Runde, jeweils 2 Stäbchen in eines von der vorderen Reihe
4. Reihe dann jeweils 3 Stäbchen in eines von der Vorrunde -
5. Runde: immer eine feste Masche und 3 Luftmaschen in ein Stäbchen. Mit einer Kettmasche
den Ring schließen, Faden vernähen - FERTIG!

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

schön, eine träumende häkelnadel! meine ist das nicht, meine glüht bald, denn ich häkele mindestens 8 stunden täglich.
lg
 

Buecherbiene

Mitglied
Hallo flammarion, oh wie schön, eine Gleichgesinnte. Selbst nadele ich auch wie eine Wahnsinnige, jedenfalls im Winter, im Sommer ein bisschen weniger. Meine Nadel ist es jedenfalls auch nicht. ;-) vG Inge
 



 
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