Die Hand

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

kira

Mitglied
Die Tür des Kinderzimmers ist leicht geöffnet, so dass ein schwacher Lichtschein seinen Weg in das Dunkel findet. Su blinzelt schläfrig. Aus der Küche kann sie das vertraute Rauschen der Spülmaschine vernehmen, in der sich das Geschirr vom Abendbrot befindet. Su dreht sich zur Wand, zieht dabei die Decke behaglich um ihre Schultern und umarmt ihren Stoffbären. Aus dem Wohnzimmer hört sie ihren Vater lachen.

Die Fingerspitzen, die in diesem Moment zwischen dem Bett und der Wand auftauchen, leuchten schwach in einem gräulichen Weiß. Langsam gleiten sie am Rand der Matratze entlang und verursachen winzige Dellen, als sie daran Halt suchen. Behutsam schieben sie sich weiter voran, bis die ganze Hand, schmal und scheinbar leblos, auf dem Laken liegt.
Su starrt die Hand mit weitaufgerissenen Augen an. Diese Hand darf dort nicht liegen, nicht hier, jetzt, auf ihrem Bett. Sie presst die Augenlider zusammen und hält den Atem an, als sie sie langsam wieder öffnet. Die Hand hat sich nicht bewegt. Aus weiter Ferne hört Su das Murmeln der Spülmaschine. Sie wird jetzt aufstehen, beschließt sie. Sie wird aufstehen und zu Mama und Papa in das Wohnzimmer gehen. Sie wird ihnen sagen, dass sie schlecht geträumt hat. Diese schlaffe Hand, die dort in der Nähe ihrer Beine liegt, ist ein Traum. Ein böser Traum, ein scheußlicher Traum, und sie wird jetzt aufstehen und aus dem Kinderzimmer schleichen, vorsichtig, ganz vorsichtig...

Die Hand ändert leicht ihre Haltung. Su’s Gedankenstrom reißt ab, bestürzt sieht sie, wie die Hand tastend über das Laken gleitet. Ihre Fingerkuppen berühren das Federbett, unter dem sich Su’s nackte Beine verkrampfen. Mit kalten Händen umklammert Su ihre Decke, die sichere Decke, die ihren Körper vor dieser Hand verbirgt, ihn versteckt, ihn beschützt. Sanft bewegt sich die Hand an der Decke entlang, die Fingerspitzen ertasten die Falten, befühlen den weichen Baumwollstoff.

Su hört wieder ihren Vater lachen. Sein Lachen klingt vertraut und normal. Er befindet sich in der normalen Welt, in der wahren Welt. In seiner Welt kriechen keine Hände langsam auf sein Gesicht zu, Hände die es gar nicht gibt.

Als die Hand eine schnelle, ruckartige Bewegung macht, reißt Su mit einem erstickten Geräusch die Decke hoch. Ihre schweißnassen Finger krallen sie fest um ihren Kopf, gleichzeitig versucht sie, mit Beinen und Fußzehen jede Lücke, jeden Spalt zu verschließen; nichts, nichts darf frei liegen, nichts unter der Decke hervorschauen.

Su’s Herz schlägt schnell, ihr Atem geht flach. Sie lauscht. Nichts ist mehr zu hören, gar nichts. Nur ihr eigener Atem, der sich heiß um ihr Gesicht schmiegt. Su spürt, dass sie gleich weinen wird. Gleich wird sie weinen, oder schreien, ja, das ist besser, sie wird schreien, ihre Mama wird kommen und der Traum wird aufhören, dieser furchtbare Traum und die furchtbare, grauenvolle Hand wird dann nicht mehr da sein, weil es sie nämlich nicht gibt, nicht geben kann...

Die Finger der Hand verursachen ein scharfes, reißendes Geräusch, als sie sich durch die Laken wühlen, an dem Federbett zerren, Su erreichen wollen; Su, und ihre weiche Haut, ihre weiche, nackte und schutzlose Haut. Su schluchzt auf, ein trockenes, würgendes Geräusch, das niemand hört, auch nicht Su selbst. Als die Decke über ihr Gesicht gleitet, wirft sie sich zurück, windet sich zum Rand des Bettes. Ein kurzes, schnappendes Geräusch, Finger die ins Leere greifen. Su reißt weit die Augen auf, sucht mit ihren Blicken die Hand. Die Finger wispern über das Laken, forschen nach Su, flüstern sich zu, was sie erfühlen.

Dann schließen sie sich um das knubbelige Bein des Bären. Die Hand zieht sich zurück, wie ein monströses Tier mit seiner Beute zwischen den Krallen. Die Beine des Bären verschwinden, der kugelige Bauch wird von der Matratze nach oben gedrückt, dann ist da nur noch sein Kopf, der dicke, große Kopf, der sich ruckartig bewegt. Seine schwarzen Glasaugen erwidern Su’s entsetzten Blick. Su hört das helle Reißen der Garnfäden, die Bärenschnauze reckt sich nach oben, dann ertrinkt er zwischen Wand und Matratze.

Im Zimmer ist es ganz still. Die Spülmaschine lässt glucksend das Wasser ab. Su lauscht in das Dämmerlicht hinein, lauscht auf Geräusche unter ihrem Bett, ein Schaben, ein Kratzen. Doch nichts ist zu hören, nur das beruhigende Rauschen des Wassers.

Die Sekunden vergehen und Su starrt gebannt auf die Stelle, an der sie den Kopf des Bären zuletzt gesehen hat. Sie weint nicht, sie atmet kaum. Sie hält die Decke fest gegen ihre Brust gedrückt. Ein Traum. Ein böser Traum. Sie wird jetzt aufstehen. Sie wird zu ihren Eltern laufen und sich trösten lassen. Gleich wird sie ihre bloßen Füße von der Decke befreien und sie auf den Boden setzen. Es gibt keine Hand hinter dem Bett, unter dem Bett.

Die Hand schießt hinter der Matratze hervor und Su wirft sich schreiend zurück. Sie spürt, wie sie den Halt verliert und mitsamt der Decke auf den Boden stürzt. Blind rappelt sie sich auf und stolpert auf den Lichtschein zu, der durch die Tür fällt. Sie schreit, kreischt und schreit, als der Lichtstrahl sich verbreitert und ihre Mutter in das Zimmer tritt. Sie hört deren entgeisterten Ausruf, sieht ihren Vater durch den Flur eilen und wirft sich, immer noch schreiend, ihren Eltern entgegen.
 

BeAngeled

Mitglied
Verdammt spannend und wirklich gut geschrieben :)

Je näher man dem Ende kommt, umso schneller liest man - aber mir fehlt ein "richtiges" Ende, vielelicht eine Erklärung oder ein klärendes Detail, damit sich der Leser selbst ein Ende basteln kann ... oder gibt's eine Fortsetzung?

LG, BA
 

kira

Mitglied
Hallo BeAngeled,

nein, eine Fortsetzung ist nicht geplant.
Ich hatte das Ende ursprünglich eindeutiger dargestellt, aber meiner Meinung nach verlor der Text dadurch eher.
Der Leser sinkt ein wenig in sich zusammen und denkt: "Ach so, na dann", bzw. "Ah, olle Horror-Story" oder so, und mir war es plötzlich lieber, er denkt: "Und? Und? Was jetzt?" (ich gehe unbescheiden davon aus, dass der Leser nicht einfach gelangweilt wegklickt).

Einen schönen Sonntagabend wünscht Dir

Kira
 



 
Oben Unten