Die Hochzeit der Hühner

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Aligator

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Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger, aber das war schon in Ordnung. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach wie ein Ring umschloss und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter, genauer gesagt, sieben Stockwerke, denn ihre Familie lebte im Erdgeschoss. Mit jeder Stufe würde es kühler. Sicherlich hatte Mutter schon mit dem Kochen begonnen und tatsächlich vernahm sie Geräusche aus der Küche, als Bruder Din ihr die große, braune Tür öffnete und sie die Wohnung betrat.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.

„Du bist meine Freundin, meine beste Freundin. – Oh ja, du bist auch meine beste Freundin! – Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr! – Ich pikse dich gleich nochmal, wenn du das nochmal sagst. – Wenn du dass machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir. – Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein. – Ja, das musst du. Sonst schlägt sie dir den Kopf ab. – Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun! – Versprichst du es mir? – Ich schwöre es bei Gott! – Dann sag jetzt Piep. Los sag schon Piep!“ Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Aber dieses Mal pikte er ihr nur wieder in die Hand.

Sie hatten zu Abend gegessen und der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Poster des Sofas fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber Sanas festen Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir hinterher laufen.“ Es stimmte. Sana hatte sich so fürsorglich um die beiden gekümmert, dass sie ihr überall hin folgten.
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, sagte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.

„Martina, du kannst hier nicht bleiben! – Warum? Hast du mich nicht mehr lieb? –Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos. – Ich renne einfach weg, wenn eins kommt. – Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich! – Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt? – Ja, ich werde auf dich aufpassen. – Und auch auf Riko? – Sogar auf Riko.“ Sana küsste das Küken auf den Kopf.

Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber. Zuerst waren da vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Passagieren und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Baba im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene verfinsterte sich wieder. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“ Jetzt blickte auch er ernst.
„Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah hatte schon gewartet und rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann redete er mit Baba.
Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum blauen Renault. Alles war so, wie es Sana kannte: das alte Auto, die vielen Menschen, die sich begrüßten und der kleine, schmutzige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen. Außerdem werden sie bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es wird sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten!“, sagte Sana.
„Dann wirst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen müssen.“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.

„Wo sind eigentlich deine Mama und dein Baba? – In Hühnien. – Wo ist denn Hühnien? – Weit weg, noch weiter wie das Meer. – Kommen die dann zu eurer Hochzeit? – Wenn sie eingeladen werden. – Und wie kommen die dann her, mit dem Zug? – Nein, mit dem Auto. – Ach so. Kannst du eigentlich auch Auto fahren, Riko? – Natürlich nicht, ich war ja noch nicht in der Fahrschule. – … Meine Eltern sind auch nicht hier, ich bin traurig.“ Sana steckte die Finger durch die engen Maschen der Käfige im Hinterhof.

Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder freuten sich über die Lollys und den Kaugummi. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab, rief die Namen der beiden. Doch sie blieben verschwunden.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als Sana mit ihrer Cousine die Suche aufgab. Mit verheulten Augen folgte sie ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Die Hühnersuppe wollte ihr heute nicht richtig schmecken. Ihre beiden Küken gingen ihr einfach nicht aus dem Sinn. Was, wenn sie sich verlaufen hatten oder ein Hund sie gebissen hatte?
Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig zu ihr.

„Martina! Riko! Da seid ihr ja! – Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne uns zu verabschieden gegangen sind. – Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn, ich hab mir solche Sorgen gemacht! – Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet. – Ohne mich? – Sei nicht böse, unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste schnell gehen. – Ach so. War es denn ein schönes Fest? – Sogar das schönste Fest aller Zeiten.“
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger, aber das war schon in Ordnung. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach wie ein Ring umschloss und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter, genauer gesagt, sieben Stockwerke, denn ihre Familie lebte im Erdgeschoss. Mit jeder Stufe würde es kühler. Sicherlich hatte Mutter schon mit dem Kochen begonnen und tatsächlich vernahm sie Geräusche aus der Küche, als Bruder Din ihr die große, braune Tür öffnete und sie die Wohnung betrat.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.

„Du bist meine Freundin, meine beste Freundin. – Oh ja, du bist auch meine beste Freundin! – Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr! – Ich pikse dich gleich nochmal, wenn du so was sagst. – Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir. – Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein. – Ja, das musst du. Sonst schlägt sie dir den Kopf ab. – Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun! – Versprichst du es mir? – Ich schwöre es bei Allah! – Dann sag jetzt Piep! Los sag schon Piep!“ Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Aber dieses Mal pikte er ihr nur wieder in die Hand.

Sie hatten zu Abend gegessen und der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Poster des Sofas fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber Sanas festen Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir hinterher laufen.“ Es stimmte. Sana hatte sich so fürsorglich um die beiden gekümmert, dass sie ihr überall hin folgten.
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, sagte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.

„Martina, du kannst hier nicht bleiben! – Warum? Hast du mich nicht mehr lieb? –Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos. – Ich renne einfach weg, wenn eins kommt. – Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich! – Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt? – Ja, ich werde auf dich aufpassen. – Und auch auf Riko? – Sogar auf Riko.“ Sana küsste das Küken auf den Kopf.

Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber. Zuerst waren da vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Passagieren und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene verfinsterte sich wieder. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“ Jetzt blickte auch er ernst.
„Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah hatte schon gewartet und rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann redete er mit Baba.
Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum blauen Renault. Alles war so, wie es Sana kannte: das alte Auto, die vielen Menschen, die sich begrüßten und der kleine, schmutzige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen. Außerdem werden sie bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es wird sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten!“, sagte Sana.
„Dann wirst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen müssen.“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.

„Wo sind eigentlich deine Mama und dein Baba? – In Hühnien. – Wo ist denn Hühnien? – Weit weg, noch weiter wie das Meer. – Kommen die dann zu eurer Hochzeit? – Wenn sie eingeladen werden. – Und wie kommen die dann her, mit dem Zug? – Nein, mit dem Auto. – Ach so. Kannst du eigentlich auch Auto fahren, Riko? – Natürlich nicht, ich war ja noch nicht in der Fahrschule. – … Meine Eltern sind auch nicht hier, ich bin traurig.“ Sana steckte die Finger durch die engen Maschen der Käfige im Hinterhof.

Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder freuten sich über die Lollys und den Kaugummi. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab, rief die Namen der beiden. Doch sie blieben verschwunden.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als Sana mit ihrer Cousine die Suche aufgab. Mit verheulten Augen folgte sie ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Die Hühnersuppe wollte ihr heute nicht richtig schmecken. Ihre beiden Küken gingen ihr einfach nicht aus dem Sinn. Was, wenn sie sich verlaufen hatten oder ein Hund sie gebissen hatte?
Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig zu ihr.

„Martina! Riko! Da seid ihr ja! – Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne uns zu verabschieden gegangen sind. – Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn, ich hab mir solche Sorgen gemacht! – Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet. – Ohne mich? – Sei nicht böse, unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste schnell gehen. – Ach so. War es denn ein schönes Fest? – Sogar das schönste Fest aller Zeiten.“
 

Nosie

Mitglied
Servus Aligator,

Eine zwar etwas verwirrende, aber süße Geschichte, sprachlich sehr ausdrucksstark, du hast viel Sinn für stimmungsvolle Details. Bei manchen Dialogen hatte ich ein bißchen Probleme, wer gerade mit wem spricht.

Eine Kleinigkeit: Schnäbel pi[red]c[/red]ken, Nadeln pi[red]e[/red]ksen.

Liebe Grüße
Nosie
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger, aber das war schon in Ordnung. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach wie ein Ring umschloss und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter, genauer gesagt, sieben Stockwerke, denn ihre Familie lebte im Erdgeschoss. Mit jeder Stufe würde es kühler. Sicherlich hatte Mutter schon mit dem Kochen begonnen und tatsächlich vernahm sie Geräusche aus der Küche, als Bruder Din ihr die große, braune Tür öffnete und sie die Wohnung betrat.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.

- Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.
– Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.
– Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr.
– Ich pikse dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.
– Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.
– Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.
– Ja, das musst du. Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.
– Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.
– Versprichst du es mir?
– Ich schwöre es bei Allah!
– Dann sag jetzt Piep! Los sag schon Piep!
Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Aber dieses Mal pikte er ihr nur wieder in die Hand.

Sie hatten zu Abend gegessen und der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Poster des Sofas fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber Sanas festen Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir hinterher laufen.“ Es stimmte. Sana hatte sich so fürsorglich um die beiden gekümmert, dass sie ihr überall hin folgten.
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, sagte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.

- Martina, du kannst hier nicht bleiben!
– Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?
– Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos.
– Ich renne einfach weg, wenn eins kommt.
– Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.
– Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?
– Ja, ich werde auf dich aufpassen.
– Und auch auf Riko? – Sogar auf Riko.

Sana küsste das Küken auf den Kopf.

Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber. Zuerst waren da vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Passagieren und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene verfinsterte sich wieder. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“ Jetzt blickte auch er ernst.
„Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah hatte schon gewartet und rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann redete er mit Baba.
Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum blauen Renault. Alles war so, wie es Sana kannte: das alte Auto, die vielen Menschen, die sich begrüßten und der kleine, schmutzige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen. Außerdem werden sie bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es wird sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten!“, sagte Sana.
„Dann wirst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen müssen.“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.

- Wo sind eigentlich deine Mama und dein Baba?
– In Hühnien.
– Wo ist denn Hühnien?
– Weit weg, noch weiter wie das Meer.
– Kommen die dann zu eurer Hochzeit?
– Wenn sie eingeladen werden.
– Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?
– Nein, mit dem Auto.
– Ach so. Kannst du eigentlich auch Auto fahren, Riko?
– Natürlich nicht, ich war ja noch nicht in der Fahrschule.
– … Meine Eltern sind auch nicht hier, ich bin traurig.
Sana steckte die Finger durch die engen Maschen der Käfige im Hinterhof.

Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder freuten sich über die Lollys und den Kaugummi. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab, rief die Namen der beiden. Doch sie blieben verschwunden.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als Sana mit ihrer Cousine die Suche aufgab. Mit verheulten Augen folgte sie ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Die Hühnersuppe wollte ihr heute nicht richtig schmecken. Ihre beiden Küken gingen ihr einfach nicht aus dem Sinn. Was, wenn sie sich verlaufen hatten oder ein Hund sie gebissen hatte?
Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig zu ihr.

- Martina! Riko! Da seid ihr ja!
– Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne uns zu verabschieden gegangen sind.
– Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!
– Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.
– Ohne mich?
– Sei nicht böse, unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste schnell gehen.
– Ach so. War es denn ein schönes Fest?
– Sogar das schönste Fest aller Zeiten.
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger, aber das war schon in Ordnung. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach wie ein Ring umschloss und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter, genauer gesagt, sieben Stockwerke, denn ihre Familie lebte im Erdgeschoss. Mit jeder Stufe würde es kühler. Sicherlich hatte Mutter schon mit dem Kochen begonnen und tatsächlich vernahm sie Geräusche aus der Küche, als Bruder Din ihr die große, braune Tür öffnete und sie die Wohnung betrat.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.

- Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.
– Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.
– Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr.
– Ich pikse dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.
– Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.
– Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.
– Ja, das musst du. Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.
– Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.
– Versprichst du es mir?
– Ich schwöre es bei Allah!
– Dann sag jetzt Piep! Los sag schon Piep!


Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Aber dieses Mal pikte er ihr nur wieder in die Hand.

Sie hatten zu Abend gegessen und der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Poster des Sofas fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber Sanas festen Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir hinterher laufen.“ Es stimmte. Sana hatte sich so fürsorglich um die beiden gekümmert, dass sie ihr überall hin folgten.
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, sagte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.

- Martina, du kannst hier nicht bleiben!
– Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?
– Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos.
– Ich renne einfach weg, wenn eins kommt.
– Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.
– Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?
– Ja, ich werde auf dich aufpassen.
– Und auch auf Riko? – Sogar auf Riko.


Sana küsste das Küken auf den Kopf.

Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber. Zuerst waren da vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Passagieren und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene verfinsterte sich wieder. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“ Jetzt blickte auch er ernst.
„Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah hatte schon gewartet und rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann redete er mit Baba.
Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum blauen Renault. Alles war so, wie es Sana kannte: das alte Auto, die vielen Menschen, die sich begrüßten und der kleine, schmutzige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen. Außerdem werden sie bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es wird sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten!“, sagte Sana.
„Dann wirst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen müssen.“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.

- Wo sind eigentlich deine Mama und dein Baba?
– In Hühnien.
– Wo ist denn Hühnien?
– Weit weg, noch weiter wie das Meer.
– Kommen die dann zu eurer Hochzeit?
– Wenn sie eingeladen werden.
– Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?
– Nein, mit dem Auto.
– Ach so. Kannst du eigentlich auch Auto fahren, Riko?
– Natürlich nicht, ich war ja noch nicht in der Fahrschule.
– … Meine Eltern sind auch nicht hier, ich bin traurig.


Sana steckte die Finger durch die engen Maschen der Käfige im Hinterhof.

Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder freuten sich über die Lollys und den Kaugummi. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab, rief die Namen der beiden. Doch sie blieben verschwunden.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als Sana mit ihrer Cousine die Suche aufgab. Mit verheulten Augen folgte sie ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Die Hühnersuppe wollte ihr heute nicht richtig schmecken. Ihre beiden Küken gingen ihr einfach nicht aus dem Sinn. Was, wenn sie sich verlaufen hatten oder ein Hund sie gebissen hatte?
Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig zu ihr.

- Martina! Riko! Da seid ihr ja!
– Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne uns zu verabschieden gegangen sind.
– Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!
– Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.
– Ohne mich?
– Sei nicht böse, unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste schnell gehen.
– Ach so. War es denn ein schönes Fest?
– Sogar das schönste Fest aller Zeiten.
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger, aber das war schon in Ordnung. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach wie ein Ring umschloss und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter, genauer gesagt, sieben Stockwerke, denn ihre Familie lebte im Erdgeschoss. Mit jeder Stufe würde es kühler. Sicherlich hatte Mutter schon mit dem Kochen begonnen und tatsächlich vernahm sie Geräusche aus der Küche, als Bruder Din ihr die große, braune Tür öffnete und sie die Wohnung betrat.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.

- Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.
– Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.
– Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr.
– Ich picke dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.
– Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.
– Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.
– Ja, das musst du. Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.
– Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.
– Versprichst du es mir?
– Ich schwöre es bei Allah!
– Dann sag jetzt Piep! Los sag schon Piep!


Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Aber dieses Mal pickte er ihr nur wieder in die Hand.

Sie hatten zu Abend gegessen und der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Poster des Sofas fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber Sanas festen Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir hinterher laufen.“ Es stimmte. Sana hatte sich so fürsorglich um die beiden gekümmert, dass sie ihr überall hin folgten.
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, sagte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.

- Martina, du kannst hier nicht bleiben!
– Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?
– Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos.
– Ich renne einfach weg, wenn eins kommt.
– Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.
– Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?
– Ja, ich werde auf dich aufpassen.
– Und auch auf Riko? – Sogar auf Riko.


Sana küsste das Küken auf den Kopf.

Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber. Zuerst waren da vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Passagieren und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene verfinsterte sich wieder. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“ Jetzt blickte auch er ernst.
„Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah hatte schon gewartet und rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann redete er mit Baba.
Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum blauen Renault. Alles war so, wie es Sana kannte: das alte Auto, die vielen Menschen, die sich begrüßten und der kleine, schmutzige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen. Außerdem werden sie bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es wird sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten!“, sagte Sana.
„Dann wirst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen müssen.“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.

- Wo sind eigentlich deine Mama und dein Baba?
– In Hühnien.
– Wo ist denn Hühnien?
– Weit weg, noch weiter wie das Meer.
– Kommen die dann zu eurer Hochzeit?
– Wenn sie eingeladen werden.
– Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?
– Nein, mit dem Auto.
– Ach so. Kannst du eigentlich auch Auto fahren, Riko?
– Natürlich nicht, ich war ja noch nicht in der Fahrschule.
– … Meine Eltern sind auch nicht hier, ich bin traurig.


Sana steckte die Finger durch die engen Maschen der Käfige im Hinterhof.

Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder freuten sich über die Lollys und den Kaugummi. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab, rief die Namen der beiden. Doch sie blieben verschwunden.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als Sana mit ihrer Cousine die Suche aufgab. Mit verheulten Augen folgte sie ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Die Hühnersuppe wollte ihr heute nicht richtig schmecken. Ihre beiden Küken gingen ihr einfach nicht aus dem Sinn. Was, wenn sie sich verlaufen hatten oder ein Hund sie gebissen hatte?
Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig zu ihr.

- Martina! Riko! Da seid ihr ja!
– Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne uns zu verabschieden gegangen sind.
– Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!
– Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.
– Ohne mich?
– Sei nicht böse, unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste schnell gehen.
– Ach so. War es denn ein schönes Fest?
– Sogar das schönste Fest aller Zeiten.
 

Aligator

Mitglied
Hallo Nosie!

Danke für deine Beschäftigung mit dem Text!
Vielleicht ist so die Anordnung der Spielmonologe des Mädchens etwas geschickter.

Grüße,
Aligator
 

Wipfel

Mitglied
Suptil erzählt, aus dem Text kann was werden. Ich würde alles Überfüssige streichen. Streichen, streichen, streichen.

Beispiel:
Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger[blue].[/blue][strike] aber das war schon in Ordnung.[/strike]
[strike]Sie hatten zu Abend gegessen und [/strike][blue]D[/blue]er Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten.
Bezug:
Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach wie ein Ring umschloss
Umschließt die Mauer das Dach? Wenn ja, kann ich mir das schlecht vorstellen. Ein Ring ist rund, also ist die Mauer ein Turm? Vielleicht fällt dir ein besseres Bild ein?

Kurze Sätze beleben:
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter[blue].[/blue][strike], genauer gesagt, [/strike][blue]S[/blue]ieben Stockwerke[strike], denn ihre Familie lebte im[/strike] [blue]bis zum[/blue] Erdgeschoss. Mit jeder Stufe würde es kühler. (Umgestellt) Sana [strike]und tatsächlich [/strike]vernahm [strike]sie [/strike]Geräusche aus der Küche[blue].[strike]Sicherlich hatte [/strike] Mutter hatte schon mit dem Kochen begonnen. [/blue] [strike], als [/strike]Bruder Din öffnete ihr die große, braune [blue]Wohnungst[/blue]ür. [strike]und sie die Wohnung betrat. [/strike]
Aber die Mühe lohnt sich. Ja!
 

Aligator

Mitglied
Hallo Wipfel!

Danke für die Befassung mit dem Text.
Mit deinen Umformulierungen/Kürzungen liest es sich wirklich besser.
Werde es dementsprechend bearbeiten, damit es flüssiger wird.

Grüße,
Aligator
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach umrandete und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter. Sieben Stockwerke waren es bis ins Erdgeschoss und mit jeder Stufe würde es kühler. Bruder Din öffnete ihr die große, braune Wohnungstür. Sana vernahm Geräusche aus der Küche. Mutter hatte schon mit dem Kochen begonnen.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.

Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.

Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.

Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr!

Ich picke dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.

Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.

Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.

Ja, das musst du! Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.

Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.

Versprichst du es mir?

Ich schwöre es bei Allah.

Dann sag jetzt Piep! Los, sag schon Piep!

Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Doch er pickte ihr nur wieder in die Hand.

Der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Sofa fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber aus Sanas festem Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir überall hinterher laufen.“
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, fragte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.

Martina, ihr könnt hier nicht mehr wohnen!

Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?

Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos. Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.

Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?

Ja, ich werde auf dich aufpassen.

Und auch auf Riko?

Sogar auf Riko.

Sana küsste das Küken auf den Kopf.

Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber: Vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Menschen und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana auch Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene wurde finster. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“
Auch er schaute nun ernst. „Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel Ali, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann begrüßte er Baba und sie redeten miteinander.
Alles war wie immer: Menschen, die sich umarmten, streunende Hunde auf Futtersuche - eben der kleine, staubige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen. Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum Auto.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen, sie … sie werden bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du denn das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es soll sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten werden!“, sagte Sana.
„Dann musst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen!“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.

Wo wohnen eigentlich deine Mama und dein Baba?

In Hühnien.

Wo liegt denn Hühnien?

Weit weg, noch weiter wie das Meer.

Kommen die dann zu eurer Hochzeit?

Ja, aber wir müssen sie noch einladen.

Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?

Natürlich nicht, sie haben doch einen Hühnerbus.

Ach so. … Meine Eltern sind auch nicht hier.

Traurig steckte Sana die Finger durch die Maschen der Käfige im Hinterhof.

Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder schleckten vergnügt ihre Lollys. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab und rief ihre Namen. Keine Spur von ihnen.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als die Kinder ihre Suche aufgaben. Mit verheulten Augen folgte Sana ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Doch sie hatte keinen rechten Appetit. Zudem schmeckte die Suppe eigenartig. Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig und lieb zu ihr.
Noch im Bett dachte sie an ihre Hühner. Was, wenn sie ein Hund sie gebissen hatte?

Martina! Riko! Da seid ihr ja!

Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne dich gegangen sind.

Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!

Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.
Ohne mich?

Menschen sind dort nicht erlaubt. Und unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste alles ganz schnell gehen.

Und war es denn ein schönes Fest?

Sogar das schönste Fest aller Zeiten!
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach umrandete und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter. Sieben Stockwerke waren es bis ins Erdgeschoss und mit jeder Stufe würde es kühler. Bruder Din öffnete ihr die große, braune Wohnungstür. Sana vernahm Geräusche aus der Küche. Mutter hatte schon mit dem Kochen begonnen.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.


Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.

Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.

Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr!

Ich picke dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.

Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.

Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.

Ja, das musst du! Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.

Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.

Versprichst du es mir?

Ich schwöre es bei Allah.

Dann sag jetzt Piep! Los, sag schon Piep!


Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Doch er pickte ihr nur wieder in die Hand.


Der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Sofa fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber aus Sanas festem Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir überall hinterher laufen.“
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, fragte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.


Martina, ihr könnt hier nicht mehr wohnen!

Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?

Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos. Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.

Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?

Ja, ich werde auf dich aufpassen.

Und auch auf Riko?

Sogar auf Riko.

Sana küsste das Küken auf den Kopf.


Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber: Vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Menschen und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana auch Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene wurde finster. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“
Auch er schaute nun ernst. „Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel Ali, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann begrüßte er Baba und sie redeten miteinander.
Alles war wie immer: Menschen, die sich umarmten, streunende Hunde auf Futtersuche - eben der kleine, staubige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen. Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum Auto.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen, sie … sie werden bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du denn das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es soll sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten werden!“, sagte Sana.
„Dann musst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen!“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.


Wo wohnen eigentlich deine Mama und dein Baba?

In Hühnien.

Wo liegt denn Hühnien?

Weit weg, noch weiter wie das Meer.

Kommen die dann zu eurer Hochzeit?

Ja, aber wir müssen sie noch einladen.

Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?

Natürlich nicht, sie haben doch einen Hühnerbus.

Ach so. … Meine Eltern sind auch nicht hier.


Traurig steckte Sana die Finger durch die Maschen der Käfige im Hinterhof.


Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder schleckten vergnügt ihre Lollys. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab und rief ihre Namen. Keine Spur von ihnen.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als die Kinder ihre Suche aufgaben. Mit verheulten Augen folgte Sana ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Doch sie hatte keinen rechten Appetit. Zudem schmeckte die Suppe eigenartig. Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig und lieb zu ihr.
Noch im Bett dachte sie an ihre Hühner. Was, wenn sie ein Hund sie gebissen hatte?


Martina! Riko! Da seid ihr ja!

Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne dich gegangen sind.

Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!

Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.
Ohne mich?

Menschen sind dort nicht erlaubt. Und unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste alles ganz schnell gehen.

Und war es denn ein schönes Fest?

Sogar das schönste Fest aller Zeiten!
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach umrandete und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter. Sieben Stockwerke waren es bis ins Erdgeschoss und mit jeder Stufe würde es kühler. Bruder Din öffnete ihr die große, braune Wohnungstür. Sana vernahm Geräusche aus der Küche. Mutter hatte schon mit dem Kochen begonnen.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.


Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.

Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.

Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr!

Ich picke dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.

Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.

Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.

Ja, das musst du! Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.

Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.

Versprichst du es mir?

Ich schwöre es bei Allah.

Dann sag jetzt Piep! Los, sag schon Piep!


Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Doch er pickte ihr nur wieder in die Hand.


Der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Sofa fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber aus Sanas festem Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir überall hinterher laufen.“
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, fragte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.


Martina, ihr könnt hier nicht mehr wohnen!

Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?

Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos. Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.

Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?

Ja, ich werde auf dich aufpassen.

Und auch auf Riko?

Sogar auf Riko.


Sana küsste das Küken auf den Kopf.


Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber: Vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Menschen und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana auch Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene wurde finster. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“
Auch er schaute nun ernst. „Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel Ali, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann begrüßte er Baba und sie redeten miteinander.
Alles war wie immer: Menschen, die sich umarmten, streunende Hunde auf Futtersuche - eben der kleine, staubige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen. Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum Auto.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen, sie … sie werden bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du denn das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es soll sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten werden!“, sagte Sana.
„Dann musst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen!“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.


Wo wohnen eigentlich deine Mama und dein Baba?

In Hühnien.

Wo liegt denn Hühnien?

Weit weg, noch weiter wie das Meer.

Kommen die dann zu eurer Hochzeit?

Ja, aber wir müssen sie noch einladen.

Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?

Natürlich nicht, sie haben doch einen Hühnerbus.

Ach so. … Meine Eltern sind auch nicht hier.


Traurig steckte Sana die Finger durch die Maschen der Käfige im Hinterhof.


Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder schleckten vergnügt ihre Lollys. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab und rief ihre Namen. Keine Spur von ihnen.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als die Kinder ihre Suche aufgaben. Mit verheulten Augen folgte Sana ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Doch sie hatte keinen rechten Appetit. Zudem schmeckte die Suppe eigenartig. Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig und lieb zu ihr.
Noch im Bett dachte sie an ihre Hühner. Was, wenn sie ein Hund sie gebissen hatte?


Martina! Riko! Da seid ihr ja!

Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne dich gegangen sind.

Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!

Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.
Ohne mich?

Menschen sind dort nicht erlaubt. Und unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste alles ganz schnell gehen.

Und war es denn ein schönes Fest?

Sogar das schönste Fest aller Zeiten!
 

Aligator

Mitglied
Sana streichelte mit geschlossenen Augen über den kleinen Körper. „Flauschig und warm“, dachte sie, hob das Küken zur Nase und sog langsam den Duft ein. Die kleinen Krallen piksten ihr in den Zeigefinger. „Piep“, meldete sich Martina. So hatte das fünfjährige Mädchen das eine genannt, Riko das andere. Und, was nur Sana wusste, die beiden waren verlobt. Die Sonne knallte auf den Beton. Sana saß im Schatten der Mauer, die das Dach umrandete und den Blick auf die Großstadt verdeckte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wackelte mit den Zehen, sang ein Lied und spielte mit ihren Küken.
Wenige Wolkenfetzen trotzten noch der Hitze. Man hätte meinen können, dem Himmel ganz nah zu sein, wären da nicht die Stimmen der Erwachsenen, Schreie der Kinder, das Tosen von hunderten Autos gewesen – oder gab es im Himmel vielleicht auch solchen Krach?
Sana setzte Martina vorsichtig in den kleinen Holzkäfig, schloss seine Tür, stand auf und ging die Treppen hinunter. Sieben Stockwerke waren es bis ins Erdgeschoss und mit jeder Stufe würde es kühler. Bruder Din öffnete ihr die große, braune Wohnungstür. Sana vernahm Geräusche aus der Küche. Mutter hatte schon mit dem Kochen begonnen.
„Sana, hilf mir mit den Karotten!“
Sie hatte schon oft Karotten geschält und war gut darin, vielleicht sogar die Beste, fand Mutter. Doch heute spürte sie dabei einen plötzlichen, heißen Schmerz. Und als sie den Finger drückte, wuchs an der Stelle eine dunkelrote Blase.


Du bist meine Freundin, meine beste Freundin.

Oh ja, du bist auch meine beste Freundin.

Aber du bist böse gewesen, Riko, dich mag ich überhaupt nicht mehr!

Ich picke dich gleich nochmal, wenn du so was sagst.

Wenn du das machst, dann geb‘ ich dich Mama und die macht Hühnersuppe aus dir.

Oh nein, bitte nicht, ich werde ab jetzt brav sein.

Ja, das musst du! Sonst schlägt sie dir den Kopf ab.

Oh bitte, bitte, ich werde es nicht wieder tun.

Versprichst du es mir?

Ich schwöre es bei Allah.

Dann sag jetzt Piep! Los, sag schon Piep!


Sana zog Riko am Bein, denn das hatte schon mal so funktioniert. Doch er pickte ihr nur wieder in die Hand.


Der Fernseher lief. Mutter räumte den großen Teller weg, aus dem sie zuvor alle gegessen hatten. Sana hatte Martina vom Dach geholt und lies sich aufs Sofa fallen. Das Küken war nun schon so groß, dass Sana es wie ein Baby tragen konnte. Die Brotkrümel auf dem Teppich weckten Martinas Fresstrieb. Beinahe wäre sie entwischt, aber aus Sanas festem Griff konnte sie nicht entkommen.
„Mein Schatz, die Hühner werden langsam zu groß für die Stadt. Es wäre besser, sie aufs Land zu bringen. Du weißt, Hühner haben hier sowieso nichts verloren.“
Sana blickte ihren Vater mit großen Augen an. „Aber wir haben doch genug Platz hier“, protestierte sie.
„Was, wenn sie weglaufen?“, meinte Mutter. „Sie werden immer schneller und du kannst nicht immer für sie da sein.“
„Und wie ich das kann! Außerdem weißt du doch, dass Martina und Riko mir überall hinterher laufen.“
„Und die vielen Mopeds und Autos?“, fragte Vater. „Es ist einfach zu gefährlich für ein Huhn. Du willst doch auch nicht, dass eines überfahren wird, oder?“
Nachdenklich betrachtete Sana ihr Küken auf dem Schoß.


Martina, ihr könnt hier nicht mehr wohnen!

Warum? Hast du mich nicht mehr lieb?

Doch, aber es ist zu gefährlich, wegen den Autos. Weißt du denn nicht, was mit Hamid, dem Nachbarsjungen, passiert ist? Das Auto hat ihn gerammt und er wär fast gestorben. Und der ist sogar größer als ich.

Oh nein! Jetzt hab ich Angst, wirst du auf mich aufpassen, damit das Auto mich nicht rammt?

Ja, ich werde auf dich aufpassen.

Und auch auf Riko?

Sogar auf Riko.


Sana küsste das Küken auf den Kopf.


Die Landschaft zog hinter dem Zugfenster vorüber: Vielbefahrene Brücken, Haltestellen mit wartenden Menschen und graue, hässliche Häuserschluchten. Später entdeckte Sana auch Kakteenfelder, herrenlose Esel und einsame Landarbeiter, die mit Fahrrädern unterwegs waren oder einfach nur zurück guckten. Die Fahrt aufs Land dauerte zweieinhalb Stunden. Sana freute sich schon auf ihre Cousine, mit denen sie die ganzen Ferien über spielen würde. Der Käfig mit den zwei Hühnern hatte Vater im Gepäckfach verstaut. Er hatte sein blaues Galeba an, das mit dem kuscheligen Stoff. Morgen wollte er wieder zurückfahren und Sana wusste jetzt schon, dass sie ihn vermissen würde.
„Kannst du nicht länger bleiben?“, fragte sie mit glasigen Augen.
„Und wer soll dann für mich Arbeiten? Dein Bruder Din?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, freute sie sich.
Er lächelte. „Aber das war doch nur ein Scherz, der ist doch noch viel zu klein!“
Ihre Miene wurde finster. „Darüber macht man keinen Scherz, Baba.“
Auch er schaute nun ernst. „Wir sind gleich da, nimm deine Tasche!“
Die Bremsen quietschten und ein Ruck ging durch den Zug. Sana lief Baba hinterher, stieg vorsichtig die steilen Stufen auf den Bahnsteig herab. Hannah rannte auf sie zu. Ihr Vater, Sanas Onkel Ali, schrie: „Pass auf, sonst fällst du auf die Gleise!“ Dann begrüßte er Baba und sie redeten miteinander.
Alles war wie immer: Menschen, die sich umarmten, streunende Hunde auf Futtersuche - eben der kleine, staubige Bahnhof mit dem Gras auf den Geleisen. Sana und ihre Cousine nahmen sich an der Hand und hopsten vergnügt zum Auto.

Beim Abendessen sagte Onkel Ali irgendwann: „Die Hühner kommen hinten in den Stall zu den anderen.“
Sana runzelte die Stirn. „Aber sie sind ganz besondere Küken. Sie sind schlau und hören auf mich. Sie sind nicht, wie die anderen, sie … sie werden bald heiraten.“
Er lachte. „So, so! Wirst du denn das Fest für sie machen?“
„Natürlich! Es soll sogar das größte und schönste Fest aller Zeiten werden!“, sagte Sana.
„Dann musst du auch ihre Eltern, ihre Onkeln, Tanten und den Rest der Verwandtschaft einladen!“
Sana dachte nach. Sie kannte die ja alle gar nicht und wusste auch nicht, wo sie wohnten.
Trotzdem nickte sie.


Wo wohnen eigentlich deine Mama und dein Baba?

In Hühnien.

Wo liegt denn Hühnien?

Weit weg, noch weiter wie das Meer.

Kommen die dann zu eurer Hochzeit?

Ja, aber wir müssen sie noch einladen.

Und wie kommen die dann her, mit dem Zug?

Natürlich nicht, sie haben doch einen Hühnerbus.

Ach so. … Meine Eltern sind auch nicht hier.


Traurig steckte Sana die Finger durch die Maschen der Käfige im Hinterhof.


Sana kam zusammen mit Hannah und ihrer Tante zurück vom Markt. Die Kinder schleckten vergnügt ihre Lollys. Sana hatte für Martina Petersilie mitgebracht und rannte nach hinten zu den Käfigen. Doch was war das? Die Tür von Martina und Riko stand offen. Sana durchwühlte das Heu, suchte alle Ecken des Hofes ab und rief ihre Namen. Keine Spur von ihnen.
„Tante, Tante, die Küken sind weggelaufen“, rief sie. „Wir müssen sie suchen!“
„Die kommen bestimmt wieder“, beruhigte sie die Tante. „Die gehen nur spazieren.“
„Vielleicht hab ich den Käfig nicht richtig zugemacht“, meinte Hannah.

Die Sonne stand rot über dem Horizont, als die Kinder ihre Suche aufgaben. Mit verheulten Augen folgte Sana ihrer Tante zum Abendessen ins Haus. Doch sie hatte keinen rechten Appetit. Zudem schmeckte die Suppe eigenartig. Wenigstens brachte sie ihr Onkel zum Lachen. Er war heute Abend besonders lustig und lieb zu ihr.
Noch im Bett dachte sie an ihre Hühner. Was, wenn sie ein Hund sie gebissen hatte?


Martina! Riko! Da seid ihr ja!

Hallo Sana, entschuldige, dass wir ohne dich gegangen sind.

Hauptsache, ihr seid wieder da. Wo ward ihr denn? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!

Wir sind nach Hühnien gefahren und haben geheiratet.

Ohne mich?

Menschen sind dort nicht erlaubt. Und unsere Eltern und die Onkel, Tanten und Verwandten haben schon gewartet. Es musste alles ganz schnell gehen.

Und war es denn ein schönes Fest?

Sogar das schönste Fest aller Zeiten!
 



 
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