Die Insel der Dawoda

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Rainer Lieser

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Die Insel der Dawoda

Der Stammesälteste hockte im Gras und sah den Jungen an seiner Seite nicht an. Die Augen des Alten blickten tief in den Wald. Die paar Spinnen, die er gegessen hatte lagen ihm schwer im Magen. Er fühlte sich alt und schwach, weil er alt und schwach war. Die Erinnerung an den heldenhaften Häuptling verblasste inzwischen selbst vor seinen eigenen Augen. Die Frage, ob es besser gewesen wäre einen Nachfolger heranzuziehen, ging ihm immer öfter durch den Kopf. Doch es hatte nie einen gegeben, dem er diese Rolle hätte anvertrauen wollen. Alle möglichen Anwärter waren einzig auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen. Keinem war etwas an dem Gemeinwohl gelegen. Keiner hatte einen Blick für die Zukunft. Diesen Emporkömlingen hatte er sein Volk nicht anvertrauen wollen. Nicht anvertrauen können. Also war er der einzige Häuptling der Dawoda geblieben. Stammesgründer, Stammeshäuptling und heute auch noch Stammesältester. Wobei der Titel des Stammesältesten der einzige war, den er sich nicht hatte erkämpfen und verteidigen müssen. Vielleicht war ihm dieser Titel deshalb so verhasst. War er am Ende selbst schuld daran, wie alles gekommen war?

Mit einem kräftigen Atemzug verwarf er die störenden Gedanken. Es galt eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Rolle zu spielen. SEINE heutige Rolle. Die Rolle, die es ihm für ein paar wenige Stunden halbwegs erträglich machte, der Stammesälteste zu sein. Er musste nur noch etwas Kraft sammeln. Im nächsten Jahr würde er an diesem Tag ein paar Früchte mitnehmen. Die dünnen Spinnen allein reichten offensichtlich nicht mehr aus, um seinen Körper mit der notwendigen Energie zu versorgen.

Der Kleine, dessen Name Anatol lautete, wartete angespannt auf das, was kommen würde. Irgendwann musste schließlich irgendetwas geschehen. Alle Erwachsenen hatten ihm immer wieder erzählt, dass dies einer der wichtigsten Tage in seinem gesamten Leben sein werde. Etwas mehr sollte der Stammesälteste da schon tun, als einfach nur ins Grüne zu starren.
Der Junge dachte kurz an Fräulein Gonzales. Sollte sie am Ende recht behalten – und das alles nichts weiter als Humbug sein, wie sie all den Schülern stets aufs Neue einzureden versuchte.
Aber da waren auch noch seine Eltern. Für sie wog das Wort des Stammesältesten hundertfach mehr, als das Wort eines anderen Stammesmitgliedes – und tausendfach mehr als das Wort von Fräulein Gonzales.
Anatol war absolut sicher, irgendetwas besonderes würde heute noch geschehen.
Langsam erhob sich der rechte Arm des alten Häuptlings und wies mit dem Zeigerfinger in die Luft. Der Junge sah ganz genau hin. Nun also ging es los.

»Was hörst Du, junger Dawotnik?« fragte der Alte, die Augen immer noch in die Ferne gerichtet.
Der Kleine sah den Mann verunsichert an. »Ich höre die Geräusche der Bäume, raschelndes Laub, zwitschernde Vögel, krabbelnde Käfer …«
»Das ist gut« unterbrach der Stammesälteste. »Doch hörst Du sonst nichts? Es gibt da noch vieles mehr.«
»Mehr? Was meint Ihr damit? Natürlich ist da noch Euere Stimme.«

Der Stammesälteste lächelte kurz und stand anschließend mühsam auf. Seine Knochen bereiteten ihm schon seit langem große Schmerzen. Doch so schlimm wie heute, waren sie noch nie gewesen. Er musste inne halten. Die Anstrengung war zu groß. Wie er das Alter hasste. Dann schaffte er es schließlich doch, zu dem nur wenige Fuß entfernten Baumstamm zu gelangen. Dort lagen zwei Kokosnussschalen. Der Stammesälteste nahm sie in die Hand. Dabei erkannte der Junge, dass die Hälften über einen dünnen Faden miteinander verbunden waren.

Mit zitternden Fingern stülpte der Alte die Hälften über die Ohren von Anatol. »Die Laute des Waldes und auch meine Stimme sollten nun deutlich leiser in Deinen Ohren klingen. Ist das so, junger Dawotnik?«
»Ja, so ist es« antwortete Anatol ehrfürchtig. Zum ersten Mal in seinem Leben trug er nun DIE Kokosnussschalen. Es gab keinen Zweifel mehr. Das war nun wirklich der wichtigste Tag in seinem gesamten Leben.
»Nun da die störenden Geräusche weniger geworden sind, solltest Du ganz schwach eine Dir bisher unbekannte Stimme vernehmen. Vielleicht auch nur etwas, dass sich wie ein Summen in weiter Ferne anhört. Achte darauf. Das ist sehr wichtig. Hörst Du etwas, junger Dawotnik?« fragte der Stammesälteste und drehte seinen Kopf zu dem Jungen, so das er ihm tief in die Augen blicken konnte. Diesen Teil mochte der alte Mann am liebsten. In diesem Augenblick verlor das Alter jeden Schrecken für ihn. In diesem Augenblick war er wieder der junge, kräftige Häuptling, der seinen Schutzbefohlenen den Weg aus der Verdammnis weist. Die Schmerzen waren weg. Seine Blicke drangen tief in das Innere des Jungen, dem der Schweiß auf die Stirn trat, so sehr strengte er sich an, um die neue Stimme oder zumindest ein zaghaftes Summen wahr zu nehmen. Ihm war bewusst, dass der Alte ihm die Kokosnussschalen wieder wegnehmen würde, wenn er nicht die Antwort erhielt, auf die er wartete – und das durfte unter keinen Umständen geschehen. Niemals! Anatol wollte nicht noch ein weiteres Jahr in der Schule vergeuden müssen. Schon gar nicht, als einer, der die Prüfung nicht bestanden hatte. Was aber sollte er tun. Er konnte den Stammesältesten doch nicht anlügen. Eine Lüge würde der doch sofort erkennen.

Der Alte sah, wie Anatol Höllenqualen durchlitt und genau so musste das auch sein. Gierig ergriff er eine Spinne, die über den Boden krabbelte und schluckte sie schmatzend hinunter. Der Junge sah es. Sein Herz raste nun noch schneller. Die Ohren horchten nun noch tiefer. Er musste jetzt etwas sagen. Er schloss die Augen. Da durchfuhr es ihn, wie ein Blitzschlag. »Ich höre etwas. Es ist sehr leise. Aber es ist da. Was ist das?«

Der alte Häuptling berührte mit dem Zeigerfinger der rechten Hand zärtlich die Stirn des Jungen. »Das ist die Stimme Deines Inneren. Du bist nun kein Kind mehr. In Zukunft wird es Deine oberste Pflicht sein, diese Stimme in Deinem Kopf lauter werden zu lassen, auf das Du besser auf sie hören kannst. Das ist die heilige Aufgabe eines jeden Erwachsenen unseres Stammes. Du bist jetzt kein junger Dawotnik mehr, sondern ein erwachsener Dawoda. Du hast die Prüfung bestanden. Gehe!«

Nachdem Anatol fort war, griff sich der Alte eine weitere Spinne und verspeiste sie. Ihm fiel auf, dass einige der Spinnen würziger als andere schmeckten. Das war in den vergangenen Jahren nicht so gewesen, soweit er sich erinnern konnte. Auch gab es diesmal so viele Spinnen wie noch nie. Oder sollte das Alter seine Sinne derart trügen. Er setzte sich wieder in das Gras. Richtete den Blick tief in den Wald.

Anatol schickte den nächsten Jungen zu dem Stammesältesten. Anschließend hüpfte der frisch gebackene Dawoda überglücklich zurück in sein Dorf.
Mit spöttischem Blick lief er am Unterrichtsraum der zweiten Klasse vorbei. Fräulein Gonzales sprach wohl gerade über die Grundlagen der Kernphysik, wie Anatol aus den Grafiken an den Wänden schloß. Die beiden sahen sich für einen kurzen Moment unmittelbar ins Gesicht. Da streckte er ihr die Zunge raus. Niemals wieder würde er sich ihre dummen Worte anhören müssen. Die Worte einer Frau, die keine Kokosnussschalen auf den Ohren trug und nicht nur in der Nuklearbiologie eine absolute Null war. Wie so eine Frau hier Unterricht halten durfte, hatte Anatol nie verstanden.

Fräulein Gonzales spürte einen tiefen Schmerz in der Brust. Wieder hatte sie einen jungen Menschen an den alten Glauben verloren. Wieder zweifelte sie daran, ob es richtig gewesen war auf die Insel zu kommen. Einst hatte sie geglaubt hier Veränderungen durchsetzen zu können. Doch das Gesicht des jungen Anatol bewies gerade das Gegenteil. Sie durfte zwar die Kinder in den ersten 9 Lebensjahren unterrichten und ihnen von dem Leben in den großen Städten erzählen, doch tatsächlich bewirkt, hatte sie damit bislang nichts. Keines der Kinder war von dem Stamm weggegangen, um den Menschen dort draussen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen.
Sie sah in die Gesichter der Kinder in dem Unterrichtsraum. Wenn sie doch nur EINES der Kinder davon überzeugen könnte, hier weg zu gehen. Dieses eine schon würde ausreichen, um die drohende Verelendung des größten Teils der menschlichen Rasse zu verhindern. Dessen war Fräulein Gonzales sicher. Sie drückte einen Knopf. Die Fenster verdunkelten sich. Knallbunte Videos wurden abgespielt. Aus den Lautsprechern an den Wänden drangen Unmengen von Stimmen und Geräuschen in die Ohren der Kinder.

Der Stammesälteste wusste, dass Fräulein Gonzales auch an diesem Tag unbewusst für ihn das Feld bestellte. In dem zwanghaften Wahn, ihm die Kinder entfremden zu müssen, trieb sie sie ihm regelrecht in die Arme.
Vor einigen Jahren hatten ein paar Stammesmitglieder begonnen, seine Entscheidungen in Frage zu stellen. Es war angeregt worden, zukünftig verstärkt Kontakt mit der Welt außerhalb der Insel aufzunehmen. Mit einer Welt von der man durch Besucher erfahren hatte. Der alte Häuptling beschloss daraufhin eine Schule einzurichten, in welcher die Kinder der Dawoda von dieser fernen Welt mehr erfahren sollten. Man bat einen Besucher nach einem möglichen Lehrer oder einer Lehrerin Ausschau zu halten. Aus einer langen Reihe von Kandidaten war schließlich Fräulein Gonzales ausgewählt worden.

Natürlich lag dem alten Häuptling absolut nichts daran, den Kontakt zu der Welt da draussen auszuweiten. Ganz im Gegenteil. Er hoffte, dass die Kinder durch den Unterricht von Fräulein Gonzales das Interesse an dieser fernen Welt verlieren würden. Und mit jedem Jungen, der ihn mit zwei Kokosnusshälften auf dem Kopf verließ, sah er sich diesem Ziel einen großen Schritt näher. Bald würden die Dawoda ihren alten Frieden wieder finden und die Welt da draussen mit Verachtung und Ignoranz strafen, ganz so wie sie es verdient hatte. Dazu benötigte der alte Häuptling nur noch ein bisschen mehr Zeit. Nur ein paar Lebensjahre mehr noch.

Was der Stammesälteste nicht wusste: heute morgen waren von Fräulein Gonzales ein paar ganz besondere Spinnen im Wald ausgesetzt worden. Spinnen, denen sie eine für Menschen hochgiftige Substanz aufgesprüht hatte.
 



 
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