Die Jagd (Korrigierte Fassung)

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nemo

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Ein langer dunkler Schatten legte sich über das zerfurchte Tal. Der Gesang der Vögel verstummte. Sogar der Wind schien sich zu fürchten: Das Rascheln der Blätter hörte schlagartig auf. Eine riesige gefiederte Schlange schwebte geräuschlos über die Baumkronen. Ein ausgewachsenes Weibchen, dreißig Fuß lang, mit einem moosgrünen Federkleid, das sich durch die feuchte Tropenluft schlängelte, als befände es sich im Wasser. Ch’amak hockte in einem Gebüsch und beobachtete das fliegende Geschöpf. Ein dünner Schweißfilm lag auf seiner gebräunten, mit rituellen Tätowierungen übersäten Haut und verlieh ihr einen eigenartigen Glanz.

Ch’amak war ein ah chih - ein Jäger - und gehörte zum Stamm der Xpujil, der sich südlich des Tals niedergelassen hatte. Schon einmal, vor etwa zwanzig Mondphasen, hatte er einen Quetzacoatl - eine gefiederte Schlange - niedergestreckt, was ihm den Ruf einbracht hatte, ein mutiger und listiger ah chih zu sein. Jetzt spannte er seine Muskeln und nahm die Verfolgung auf. Wie ein Raubtier hastete er durch das Dickicht des Dschungels, den Blick immer wieder zum Himmel gerichtet, um die längliche Gestalt, die er durch die Baumwipfel erkennen konnte, nicht aus den Augen zu verlieren. Barfuß, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und bewaffnet mit einem Speer, dessen Spitze eine besondere Krümmung aufwies - eine Art Widerhacken - und an dem ein Seil befestigt war, sprang er über morsches Gehölz und kämpfte sich durch das üppige Pflanzengewirr. Äste und Blätter peitschten ihm ins Gesicht und hinterließen rote Kratzspuren. Doch Ch’amak war bereits dem Jagdrausch verfallen; ein Rausch der ihn den Schmerz und die Ermüdung seiner Glieder vergessen ließ.

Plötzlich hörte der Wald auf und vor Ch’amak ragte eine steile Felswand empor. Er sah noch die gefiederte Schlange über dem Fels verschwinden, befestigte hastig den Speer an einer Halterung an seinem Rücken und begann zu klettern. Es war dunkles und scharfkantiges Gestein, das zwar Halt bot aber Ch’amaks Hände und Füße zerschnitt. Plötzlich rollte ein tiefes donnerähnliches Grollen über das Tal. Ein Laut, der durch Ch’amaks Inneres fuhr und seine Knochen zum vibrieren brachte. Das Stück Fels, auf dem er stand, löste sich und fiel krachend zu Boden.
Mit einer blitzschnellen Reflexbewegung, bekam er noch ein Stück des Felsen zu fassen.
Eine kurzen Augenblick lang baumelte der ah chih in der Luft. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, als auf einmal sein ganzes Gewicht an seinen Händen hing und sie in die scharfen Kanten des Felsen gedrückt wurden. Er ruderte mit den Beinen, fand an einer Stelle Halt und blieb erst einmal bewegungslos stehen, um einige Male tief durchzuatmen. Sein Herz pochte wild gegen seine Brust, als wollte es aus seinem organischen Gefängnis ausbrechen.
Erneut war ein dröhnendes Geheul zu hören, es klang diesmal mehr wie ein Schrei oder ein Ruf. Ch’amak hatte eine Vermutung, was dieser Ton zu bedeuten hatte und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Unbehagen. Er musste jetzt schnell handeln. Er blickte nach oben und sah, dass ihn noch gut dreissig Fuß von der Stelle trennten, an der das dunkle Gestein und der Himmel sich trafen. Er fing wieder an zu klettern und erhöhte, trotz der brennenden Schmerzen in seinen Händen, das Tempo. Als er es endlich geschafft hatte, die Felswand zu bezwingen, brach er zusammen. Er blieb auf dem Boden liegen. Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch, während er nach Atem rang. Ein weiterer markerschütternder Schrei riss Ch’amak aus seiner Untätigkeit. Er raffte sich auf und marschierte in die Richtung, aus dem die Geräusche kamen. Er stieg einen steilen Abhang hinauf und blickte plötzlich in einen tiefen Krater hinunter. Es sah aus, als hätte die Faust eines Riesen, oder gar eines Gottes, auf dieses Stück Erde eingeschlagen. Im trichterförmigen Becken des Kraters hatte sich Wasser gesammelt und dort einen kleinen See gebildet. Knapp über dem grünlichen Wasser schwebte die gefiederte Schlange langsam im Kreis. Sie hatte ihr Federkleid aufgeplustert und stieß wieder einen ihrer gutturalen Laute aus. Ch’amak schlich sich näher, immer bedacht, dass der Wind ihm entgegen blies, damit die Schlange ihn nicht witterte.

Als er den Blick zum Himmel erhob, wurde seine Vermutung über den Sinn der sich wiederholenden Laute bestätigt. Das Weibchen signalisierte mit ihren Rufen ihre Paarungsbereitschaft.
Am blauen Firmament zeichneten sich die Umrisse eines weitere Quetzacoatl ab und Ch’amak hatte kaum noch Zweifel, dass es sich da um ein männliches Exemplar handeln würde.
Der Kampf mit einer gefiederten Schlange barg schon genug Risiken; sich mit zweien anzulegen war Selbstmord. Ch’amak hockte sich hinter einen großen Stein und beobachtete die sich nähernde Kreatur. Sie war größer als das Weibchen und ihre Federn hatte eine blaurote Färbung. Sie umkreiste einige Male den Krater in schwindelerregender Höhe und gab ein melodischen Pfeifton von sich, der so laut war, dass es sich anhörte, als würden zweihundert Vögel auf einmal das gleiche Lied anstimmen. Plötzlich schossen beide Geschöpfe aufeinander los. Nur knapp verfehlten sie sich und blieben einige Meter voneinander in der Luft stehen.
Sie verhielten sich wie zwei kämpfende Raubkatzen, die auf den richtigen Moment für einen Angriff warten. Die männliche Schlange unterbrach ihren Gesang und für einen kurzen Augenblick schien die Zeit still zu stehen. Ganz behutsam näherten sie sich, umeinander kreisend.
Ihre Schweife berührten sich und langsam - von unten nach oben, wie in einer Spirale – drehten sich die beiden Kreaturen ineinander, bis sie scheinbar zu einem einzelnen Wesen verschmolzen.
Ch’amak - der das, was sich vor seinen Augen abspielte, immer noch fasziniert verfolgte - wurde plötzlich bewusst, dass der Tag sich dem Ende neigte. Er war hin und her gerissen zwischen diesem Schauspiel, dem seines Wissens noch nie ein Mensch beigewohnt hatte, und dem Erkenntnis, dass der Abstieg bei Nacht äußerst gefährlich werden würde. Die Vernunft siegte über die Neugier und Ch’amak verließ sein Versteck. Er schlich leise davon, ohne noch einmal zurück zu blicken. Es dämmerte bereits. Der Himmel ähnelte einem ruhigen türkisfarbenem Meer, auf dem vereinzelt blasse Wolken schwammen. Während die Sonne, wie ein blutroter Edelstein, langsam dem Horizont entgegen sank, kletterte Ch’amak vorsichtig den steilen Fels hinunter.

Als der Tag gewichen war und die Nacht den Dschungel in vollkommener Dunkelheit getaucht hatte, lag Ch’amak auf den breiten Ast eines Baums und dachte über das nach, was ihm heute widerfahren war. Es hatte ihn auf seltsame Weise berührt, hatte etwas in ihm verändert.
Es war ein neues Gefühl.
Ein Gefühl, das er bisher noch nie gespürt hatte.
Er fühlte sich einsam.

Dank an Jon :)

Nemo
 



 
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