Die Kaffeetasse

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Andrea

Mitglied
Der Kaffeelöffel rutschte aus seiner Hand und fiel mit metallischem Klirren auf die Untertasse. Ariane, den Korb mit den letzten Krümeln der Brötchen noch in der Hand, wandte sich erstaunt dem Küchentisch zu, an dem Paul saß und sie anblickte, ein Flehen in den Augen, daß sie vermutlich weder verstand noch verstehen wollte.
„Ich kann nicht mehr“, sagte er leise und ließ den Kopf hängen.
„Du kannst nicht mehr?“ Ariane stellte den Korb zurück auf den Tisch und ließ sich wieder auf ihren Stuhl nieder. „Was...“
„Laß mich bitte ausreden“, unterbrach Paul sie und hob eine Hand. „Ich habe lange nach den richtigen Worten gesucht, aber gerade eben ist mir klar geworden, daß es die richtigen Worte dafür nicht gibt. Also werde ich die benutzen müssen, die ich kenne.“ Obwohl er nicht hinsah, wußte Paul, daß Ariane jetzt die Augenbrauen hochzog, den Ellenbogen auf die Tischplatte stützte und ihr Kinn auf der Faust ablegte, während sie ihn fragend musterte – und während er abwechselnd auf seine Schuhe, seine Knie und seine Kaffeetasse blickte.
„Ich habe es satt“, begann er rasch. Er mußte sich keine Sorgen und keine Hoffnungen machen, daß sie ihn unterbrechen würde. Was immer er nun auch sagte, Ariane würde still zuhören. Danach, daran zweifelte Paul keineswegs, würde sie in Tränen ausbrechen, ihn mit Schimpfworten überhäufen und, sollte es ganz hart kommen, seinen Koffer auffordernd aufs Bett legen. Aber wenn er es nicht sagte, würde er an den Worten ersticken. „Ich habe es satt“, wiederholte er, „dieses tägliche Einerlei. Ich kann nicht mehr aufstehen und mit dir am Tisch sitzen, kann nicht mehr die Zeitung lesen und so tun, als interessiere mich, was draußen in der Welt vor sich geht.
Ich habe es satt, nur daß zu tun, was jeder von mir erwartet. Ich habe es satt, Wege zu begehen, auf denen sich meine Fußstapfen bereits in den härtesten Beton gedrückt haben. Ich habe es satt, wenn ich im Bett liege, was ich den ganzen Tag eigentlich getrieben habe und ob daß das Leben ist, das ich mir als Junge erträumt habe. Das ist es nämlich nicht, aber das muß es ja auch nicht sein. Von allen Träumen ist höchstens eine Handvoll Glanz geblieben, und alle Pläne sind am Reißbrett hängengeblieben.
‚Du mußt einen Schritt nach dem anderen machen‘, hat mein Vater immer gesagt, ‚kleine Schritte zunächst. Die Sprünge kann man erst wagen, wenn man sich eine gesunde Basis geschaffen hat.‘
Ja, kleine Schritte. Das klingt vernünftig, so verdammt vernünftig. Es i s t vernünftig, ich weiß! Aber muß ich denn vernünftig sein?“
Er wagte es, kurz aufzublicken. Ariane sah ihn nicht mehr an. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt, so daß sie ihr Mienenspiel wie eine Maske verdeckten. Doch Paul konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie sich fühlte. Bestimmt rechnete sie im Kopf schon aus, wie teuer der Umzug werden würde. Ob sie zurück zu ihren Eltern ging? Ihre Mutter hatte ihn noch nie gemocht, er war ihr zu unbeständig gewesen. Nun, Mütter hatten ja immer recht, und auch Arianes Mutter würde in den Genuß kommen, sich diesen süßen Geschmack auf der Zunge zergehen lassen zu können.
„Die Vernunft“, fuhr Paul vor und senkte den Blick wieder auf die Kaffeetasse, „ist wie ein Mieder, Ariane. Sie gibt dir Schutz und Halt – aber wenn du nicht aufpaßt, schnürt sie dir die Luft ab und du erstickst Stück für Stück. Genauso fühle ich mich. Als würde ich ersticken.
Dieser Job erstickt mich. Jeden Tag dieselben Handgriffe, dieselben Floskeln, dieselben Masken. Ich ertrage das nicht, Ariane, ich ertrage es einfach nicht. Wenn ich nach Hause komme, dann geht es, dann weiß ich, daß ich nur auf dich warten muß, bis du zurückkommst, damit ich ein Gesicht sehen kann, eine Stimme hören und einen Menschen berühren kann. Aber die Minuten und Stunden, bis du endlich da bist, flüstern mir ständig zu, wieviel Zeit verrinnt, in der ich nichts, aber auch gar nichts erreiche.
Ich weiß, ich muß nichts erreichen, um dir zu beweisen, wie viel du mir bedeutest. Ich weiß, ich muß dir kein Schloß bauen und ich muß für dich keinen Drachen bezwingen und dir nicht den Kopf eines fremden Königs vor die Füße werfen. Aber ich muß mich doch selbst ertragen, und das kann ich nicht.
Ich kann es einfach nicht“, flüsterte er heiser.
Vom anderen Ende des Tisches drang kein Laut. Paul strich sanft über den Kaffeelöffel und stellte sich vor, es sei Arianes Hand. So hatte er sie gestreichelt, als sie sich kennen lernten – bald würde ein anderer es an seiner Stelle tun.
„Ich werde gehen, Ariane.“ Jetzt war es heraus. Noch immer kein Wort, nicht einmal ein Schluchzen. „Ich werde aufstehen, und dann werde ich losziehen und kündigen. Ich weiß nicht, was ich danach tun werde, aber ich lasse mich nicht mehr einsperren.“ Sie würde ihn hassen. Sie würde ihn gehen lassen, und sie würde ihn hassen, weil er sie dazu zwang, ihn gehen zu lassen. Ihr blieb ja keine andere Wahl. „Ich gehe“, sagte Paul, lauter als er eigentlich wollte. Seine Stimme schwoll von alleine an, und seine Hand glitt über den Löffel hinweg und umschloß die Tasse. „Ich werde gehen, ehe ich hier elendig krepiere“ – und dich mit mir reiße, dachte Paul, doch es kam ihm nicht über die Lippen. „Denn krepieren werde ich – nicht heute, nicht morgen, nicht einmal in einem Monat. Ich habe ja nicht, und das macht mich stark und läßt mir ein bißchen Luft zum atmen. Aber alles andere – der Alltag, die Erwartungen, die verlorenen Träume – wird mich einschnüren, zerdrücken, bis.. bis..“
Er sprang auf, stieß den Stuhl zurück und warf die Kaffeetasse voller Wut und Hilflosigkeit gegen die Wand. Paul stand da, noch immer erstaunt über sein eigenes Handeln, und sah dabei zu, wie kleine braune Tropfen zu Nasen wurden und die Wand herab liefen. Sie würde die Wand neu streichen müssen, wenn sie ihn erst herausgeworfen hatte, schoß es ihm durch den Kopf, und beschämt, weil er ihr selbst damit noch Ärger bereiten würde, ließ er den Kopf sinken.
Vom Küchentisch drang leises Schniefen, als Ariane die Nase hochzog. Sie weinte. Natürlich weinte sie. Weil er rücksichtslos war und egoistisch und dumm genug, ihr Glück für das seine zu opfern. Paul haßte sich selbst für das, was er ihr antat, aber würde sie glücklich werden, wenn sie dabei zusah, wie er abstumpfte und sich Stück um Stück verlor? Bis auch er nur noch aus einem Haufen Scherben und ein paar Flecken an der Wand bestand?
Er hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, und jetzt konnte er deutlich ein Schluchzen hören. Was hatte er ihr nur angetan? Wie würde er ihr je wieder in die Augen blicken können, jetzt, wo er ihr Leben ruiniert hatte und..
Mit lautem Klirren zerbarst eine Tasse an der Wand. Der Kaffee, der sie noch zur Hälfte gefüllt hatte, folgte ihr wie der Schweif eines Kometen, ehe er herabregnen und häßliche Flecken auf Tischtuch und Boden hinterlassen würde.
Paul starrte perplex auf die Wand, unfähig zu begreifen, was da gerade an seinem Blickfeld vorbeigesegelt war. Dann, als zöge jemand an einem unsichtbaren Faden, der an seiner Nase befestigt war, drehte er sich um.
Ariane stand noch immer an derselben Stelle, von wo aus sie die Tasse geworfen hatte. Tränen rannen über ihre Wangen, ihre Nase lief und ihre Augen waren rot, doch ihr Gesicht war hinter all dem ein einziges Lächeln.
„Endlich“, sagte sie und breitete die Arme aus.
 
M

Monfou

Gast
Dass das Leid, das das Das und das Dass verursacht, nie endet.

Liebe Andrea,

deine Kurzgeschichte hat ihre Qualitäten, auch wenn die Schlusspointe ab Mitte des Textes vorhersehbar ist. Also die Hindehnung, die recht klaren So-wird-es-Enden-Gedanken des Protagonisten, lassen den Leser, mich jedenfalls, ein wenig die Konstruktion spüren, also das Gewollte, es soll eine dann zu enttäuschende Erwartung aufgebaut werden. Es ist gewiss gut, dass Ort, Zeit, Handlung eine stringente Einheitlichkeit bilden. Also eine kleine Theaterszene. Vielleicht muss man nicht ganz so offensiv auf die Pointe hinarbeiten und der Geschichte auch in sich eine Wirkung geben. Denn jeder Satz soll ja nicht nur auf den Zweck einer Überraschung hingeschrieben sein, sondern - an und für sich - wirken.

Aber ich bin hier nicht, um zu kritisieren, und denke, dass dein Text gute Voraussetzungen zeigt. Dennoch bin ich durch eine Kritik von dir auf diesen Text aufmerksam geworden.

Legte ich strenge sprachliche Kriterien an, müsste ich zunächst sagen - beschränken wir uns auf ein Beispiel -, dass dir die Unterscheidung zwischen "dass" als Konjunktion und "das" als Pronomen nicht immer gelingt - aber vermutlich sind es auch Tippfehler, also entschuldige.
"...ein Flehen in den Augen, das..."
"...und ob das das Leben ist, das ich mir als Junge erträumt habe. Das ist es nämlich nicht..."
Auch im zweiten korrigierten Beispiel etwas viel "das". Dass das Das, das so häufig ist, kein Wohlklang ist, das ist klar. Aber tragisch ist es auch nicht.

Liebe Grüße
Monfou
PS: Der Konf.hat mir gefallen!
 



 
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