Die Kartenspieler

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Die Kartenspieler

Hätte sie es nicht mit eigenen Augen gesehen, sie hätte es nicht geglaubt. Aber sie hat es gesehen. Sie traute ihren Augen nicht, aber er war es. Wenn sie von ihrer Arbeit in der Neustadt kam, ging sie immer diesen Weg zum U - Bahnhof Rödingsmarkt, diesen Weg vorbei an den großen, eindrucksvollen Gebäude, vor dem ein Posten stand, vor dem die dunklen Wagen vorfuhren, in dem immer Männer mit langen Ledermänteln ein- und ausgingen. Da drin saßen sie, das war das Zentrum des Spinnennetzes, das war das Spinnenhirn. Sie blieb immer auf ihrer Straßenseite, ging nie hinüber, nahe an dem Gebäude vorbei, als wäre die Fahrbahn ein Strom, und sie wäre am sicheren Ufer. Natürlich war das albern, sie wußte es, aber es gab ein Gefühl der Sicherheit, die Fahrbahn zwischen sich und diesem Haus zu wissen. Ginge sie an dem großmächtigen Portal vorüber, dann hätte sie eine unbestimmte, würgende Furcht, aus dem großen Tor könnten Hände nach ihr greifen, der Posten könnte sich ihr in den Weg stellen und alles wäre aus. Sie senkte auch jedesmal den Kopf, wenn sie an diesem Gebäude vorüberging, als könnte schon ein Blickkontakt mit einem dieser Menschen, die dort eilfertig hineingingen oder herauskamen, sie festnageln.
Aber sie hat ihn gesehen, sie konnte ihren Augen trauen. Der Feuerwehrwagen mit seiner klirrenden Klingel hatte ihren Kopf hochgerissen, und sie hatte ihn gesehen. Diese roten Wagen hatten sie schon immer fasziniert, wäre sie ein Junge gewesen, sie wäre zur Feuerwehr gegangen. Sie schaute dem rasenden Wagen nach, dachte noch, es ist doch gar kein Alarm, was da wohl nur passiert ist, und da sah sie ihn. Er hatte seinen Hut tief in die Stirn gedrückt, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände tief in den Manteltaschen, aber kein Zweifel, er war es. Im gleichen Augenblick aber wußte sie auch, was er dort gemacht hatte. Es war vorbei. Nun waren sie schon in die Köpfe der Besten eingedrungen, hatten ihr Gift dort hinterlassen, und es wirkte.
Schade. Nun war es also aus. Sie konnten nichts mehr tun. Sie mußte nun schnell nach Hause, die Fahrkarten und die Ausweise verbrennen. Vielleicht konnte sie noch die Löwenthals erreichen, die beiden Brüder warteten schon so lange, und in ihren Keller stand das Wasser knöcheltief, vielleicht konnte sie die beiden noch auf den Weg schicken, Anzüge, Mäntel und Koffer waren auf dem Boden, die nötigen Scheine waren vorbereitet. Zwei Ingenieure in kriegswichtigem Auftrag nach Waldshut unterwegs. Dort warteten die Freunde darauf, über den Rhein zu gehen, in das Schokoladenland des Friedens. Einmal war sie dort gewesen, an der Brücke hatte sie gestanden, und sie hatte nicht verstehen können, daß es ein solches Land auf dieser Erde noch geben konnte, ein Land, so nahe und doch ein Land, in dem Frieden war, in dem Menschen frei atmen konnten. Sie fröstelte im Aprilschauer, der plötzlich einsetzte, kalt lief es ihr über den Rücken, sie merkte, wie ihr Magen revoltierte. Und dann wußte sie, was sie tun würde.
Sie stieg also nicht die Treppen zur U - Bahn hinauf, sondern ging weiter zum Großen Burstah. In der Weinhandlung sog sie tief den säuerlichen Duft ein, den sie schon immer gemocht hatte. In ihr wallte ein Hochgefühl auf, das in krassem Gegensatz zu ihrer Situation stand. Aber sie genoß es. Obwohl es kühl im Laden war, fror sie nicht mehr. Der alte Herr mit seiner Lesebrille sah sie lange an, als sie nach Rotwein fragte, nach einem guten Tropfen. Aber dann war es, als hätte er sie verstanden, als wäre er ein Mitverschwörer, ein kleines, ernstes Lächeln huschte über seine Mundwinkel, und als wäre er müde vom Kopfschütteln drehte er sich um, ging mit schlurfenden Schritten nach hinten und kam nach einer Weile zurück mit drei Flaschen im Arm. Er sagte nichts, nahm nur ihre Scheine und zählte ihr das Kleingeld auf den Geldteller. Er sagte nicht: „...weil Sie es sind, junge Frau!“, aber seine Bewegungen waren so, als täte er etwas ganz Wichtiges, Notwendiges. Er wünschte ihr nicht ein fröhliches Fest, als sie den Laden verließ, so als wüßte er genau, worum es ging, blieb er stumm und sah ihr hinterher. Sein Mund zuckte, als würde er weinen.
Sie holte Brot und freute sich, daß sie noch Marken hatte. Weißbrot sollte es sein, Weißbrot. Aber das dunkle Brot, das Vollkornbrot, sättigt viel besser, sagte die Verkäuferin, „Aber Sie brauchen ja nicht so viel, so schlank wie Sie sind!“ Sie lachte noch, als sie das „Heil Hitler!“ sagte. Sie hatte ihre Lektion gelernt, die Reichsvollkornbrotkampagne hatte bei ihr das gesetzte Ziel erreicht. Sie besorgte noch alles, was es zu einem guten Abendmahl braucht. Beim Rathaus stieg sie in die U - Bahn.
Daheim angekommen, war er schon da. Sie sagte nichts zu ihm. Sie deckte nur schweigend den Tisch im Wohnzimmer, legte die weiße Decke auf, nahm das gute Geschirr aus dem Vertiko, die Kristallgläser. Zwölf Gedecke waren es, als dreizehntes nahm sie das Ungeblümte aus der Küche. Sie putzte das alte Silber und legte es auf. Auch davon hatte sie nur zwölf und mußte es mit dem Aluminiumbesteck aus der Küche ergänzen. Er sah ihr verwundert zu. „Was ist los?“ fragte er. „Essen wir nicht in der Küche?“ „Nein“, antwortete sie so kurz, daß er nicht weiter fragte. Er hatte auch nicht gefragt, warum sie so spät käme. Sie mußte ja noch bei allen vorbeigehen, um sie zusammenzurufen. Allem Verwundern und Erstaunen begegnete sie nur mit den Worten: „Ich lade euch ein zu einem Fest, mehr nicht.“
Es war gegen acht, als die ersten kamen. Er schrak zusammen, als die Glocke schellte. Aber er sagte nichts. Als sie alle beisammen waren, sah sie, wie er stumm die Plätze zählte. Dreizehn waren es, und sie meinte zu erkennen, wie er blaß wurde. Verbissen kniff er die Lippen zusammen, als sie ihm die Flasche Rotwein aus der Hand nahm. Er hatte einschenken wollen, wie es sich für den Hausherrn gehört. Aber diesmal wollte sie es tun. Sie ging um den Tisch und füllte die Gläser. Bisher hatte niemand gefragt, und niemand hatte die Sache angesprochen, die sie alle miteinander verband. Es war aber spürbar, wie alle auf sie schauten und darauf warteten, daß sie etwas sagte. Und da sagte sie etwas. „Wir müssen aufhören“, sagte sie. „Es ist vorbei. Sie wissen es jetzt.“
Es gab keinen Aufruhr, wie sie befürchtet hatte. Sie sahen sich nur untereinander an. Es war der Triumph des Bösen. In diesen Zeiten war alles möglich, und sie wußten es. Jeder mißtraute dem anderen. Menschen sind so, dachte sie. Auch er sagte nichts. Er war schon immer ein guter Schauspieler gewesen. Sie hatte gespürt, wenn sie des Nachts neben ihm lag, wie er vor Angst zitterte, wie sich sein Körper zusammenkrampfte, aber morgens war ihm dann nichts mehr anzumerken gewesen. Manchmal war er der Mutigste von allen, nahm das größte Wagnis auf sich. Und abends im Bett kam dann das Zittern.
„Sie werden kommen“, sagte sie noch, „Wir dürfen uns nicht mehr treffen. Wir haben immer nur Karten gespielt, nichts anderes.“ Alle hingen sichtbar ihren Gedanken nach. Sie hatten die Köpfe gesenkt, und die Angst war wie eine eisige Wand zwischen ihnen. Jetzt war jeder für sich allein. Sie spürte, daß sie noch etwas sagen müßte. Sie überlegte es sich genau. „Laßt sie nicht gewinnen“, sagte sie dann leise. „Laßt sie nicht gewinnen. Wir haben Karten gespielt, nichts anderes. Es muß immer wieder Menschen geben, die Karten spielen, sonst gehört ihnen die Welt. Heute sind es die Kommunisten und die Juden, morgen sind es andere. Es gibt immer Jäger und Gejagte. Nur wir, wir dürfen nie zu den Jägern gehören. Wenn sie das große Halali blasen, dann gehören wir vielleicht selbst zu der Strecke, aber das ist immer noch ein besserer Platz als der in der Reihe Jäger oder Treiber. Vergeßt das nicht, auch nicht, wenn sie kommen.“ Sie schwieg.
Es ging eine leichte Unruhe durch die Tischgemeinschaft, sie merkte es. Mit einem Male hatten sie es alle verstanden. Sie wußten nun, warum sie hier saßen, essen und trinken sollten. Es war, als wären sie alle aufgewacht. Der Schlosser, den sie schon immer spöttisch den „Pastor“ genannt hatten, weil er zu jeder Situation einen Bibelspruch wußte, sagte mit seinem typischen trockenen Witz: „Solches tut, so oft ihr’s trinket, zu meinem Gedächtnis“, und er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Einige lachten.
Da rückte sie ihren Stuhl zurück, stand auf, holte die Karten aus der Schublade des Vertikos. „Laßt uns jetzt wirklich Karten spielen,“ sagte sie und mischte den Stapel. „Wenn ihr einmal Kinder habt, dann müssen sie es von euch lernen, unser Kartenspiel...“
 



 
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