Die Katze ohne Namen

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Frieda

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Eine Katze ohne Namen

"Sie ist eine ganz gewöhnliche Hauskatze und braucht keinen Namen. Mäuse fangen soll sie, sonst nichts", sagte mein Vater als er eines Abends das getigerte Wollknäuel mitbrachte. Wir sollten das Tier nicht allzu lieb gewinnen, das Theater wollte er nicht noch einmal mitmachen. Erst ein paar Tage zuvor war unser Kaninchen Mucki gestorben. Dabei hatten wir drei Buben uns nicht viel anmerken lassen, aber unser Nesthäkchen, die vierjährige Hedi, hatte ein Mordsspektakel veranstaltet. Unsere ältere Schwester Tinka war damals vierzehn und für Hedi wie eine zweite Mutter, aber nicht einmal sie hatte die Kleine trösten können. Vater hatte also beschlossen, daß die Katze keinen Namen haben sollte, er selbst nannte sie einfach "Katz". Meine Mutter war da schon einfallsreicher, je nach Laune reichte ihr Spektrum von "Maunzerlein" bis "zum-Donnerwetter-du-blödes-Mistvieh". Oma meinte, alle Katzen müßten "Mietze" heißen. Weil die kleine Hedi das noch nicht aussprechen konnte, nannte sie die Katze "Miti". Ein richtiger Name war es zwar nicht, doch das Tierchen gewöhnte sich schnell daran und kam angelaufen, wenn man sie "Miti" rief.
Damals ahnte noch keiner, welches furchtbare Unglück uns bald nach Mitis Einzug treffen sollte. Die Katze konnte auch gar nichts dafür, sie hatte nur eine winzige Rolle in diesem Drama. Ihr Auftritt ganz am Schluß war kurz, ihr Text noch kürzer, er bestand aus zwei Worten: "mau" und "mau-mmmjau".

Es begann im Oktober 1929, kurz nach meinem elften Geburtstag. Meine Brüder und ich verbrachten die Herbstferien, zwei herrliche, sorglose Wochen, im Kinder-Erholungsheim auf Norderney. Am letzten Tag teilte uns die Heimleitung mit, daß wir nicht nach Hause fahren sollten, sondern daß unser Onkel Robert aus Wiesbaden käme, um uns mitzunehmen. Wir waren begeistert, denn wir mochten den lustigen Onkel, und eine Reise nach Wiesbaden verhieß ein neues Abenteuer. Unsere einzige Sorge war, ob wir dort wohl auch zur Schule gehen müßten. Noch während der Fahrt erklärte Onkel Robert uns den Grund dieser ungewöhnlichen Maßnahme. "Wißt ihr, Tinka ist krank geworden, sie braucht viel Ruhe. Da ist es besser, ihr drei wilden Burschen bleibt für eine Weile bei mir und Tante Lina." Das war uns natürlich mehr als recht, zumal als sich unsere Sorgen wegen der Schule als unbegründet erwiesen. Wir haben während unserer Zeit in Wiesbaden kein Klassenzimmer von innen gesehen.

Was während unserer Abwesenheit zu Hause geschah, hat mir meine Mutter später in allen Einzelheiten berichtet. Sie hat es mir immer und immer wieder erzählt, so daß ich schon bald jedes Wort auswendig kannte. "Du bist mein Großer", pflegte sie dann zu sagen. "Die Kleinen verstehen es noch nicht, aber du weißt, wovon ich rede." Trotzdem habe ich bis heute noch so ein dunkles Gefühl der Unwirklichkeit, so als sei alles nicht wahr, obwohl ich es inzwischen besser weiß.
Nur die kleine Hedi war damals mit den Eltern daheimgeblieben, Tinka hatte die Ferien mit ihrer Mädchen-Pfadfindergruppe in einem Zeltlager verbracht. Drei Tage vor ihrer geplanten Heimkehr war sie zurückgeschickt worden, da sie über Halsschmerzen klagte und leichtes Fieber hatte. Meine Mutter vermutete eine Grippe. Sie machte Tinka einen Halswickel, gab ihr Tee zu trinken und steckte sie ins Bett. "Tinka, tut dir der Hans weh?", fragte Hedi immer wieder und sorgte damit für Heiterkeit, sie konnte das "L" nicht richtig aussprechen. Hedi und Tinka waren schon immer unzertrennlich gewesen. Und jetzt wo Tinka krank war, kümmerte sich die Kleine rührend um ihre Schwester. Am folgenden Tag ging es Tinka etwas besser, das Fieber war verschwunden, allerdings war der Rachen stark geschwollen und zeigte einen graugelben Belag. "Ach du liebe Güte, das Kind hat eine Mandelentzündung. Wenn es morgen nicht besser wird müssen wir Doktor Weingärtner holen", meinte meine Mutter besorgt. "Ich muß morgen sowieso in die Gegend, da schaue ich mal bei ihm vorbei. Nur zur Sicherheit, weißt du", beruhigte sie mein Vater.

Mitten in der Nacht wurden sie durch Hedis lautes Weinen geweckt. Sie hatten sie vorsorglich ins Bubenzimmer ausquartiert, damit sie ihre kranke Schwester nicht störte. "Tinkaaaa, Tinka is nich daaa!", heulte Hedi mit seltsam heiserer Stimme. Die Eltern beeilten sich, zu ihr zu kommen. "Pst, Tinka schläft nebenan, du weckst sie ja auf mit deinem Geschrei", meine Mutter wollte schon schimpfen, dann aber sah sie, in welchem jämmerlichen Zustand Hedi war, und die Worte blieben ihr im Halse stecken. Ihr kleines Mädchen war hochrot und rang nach Luft. "Oh Gott, jetzt ist sie auch noch krank", ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, daß auch Hedis Hals stark geschwollen war. "Merkwürdig, sie hat gar kein Fieber," meinte die Mutter. "Komm Mäuslein, morgen holt Vati den Doktor und inzwischen macht dir Mutti einen schönen Wickel-Wackel für deinen armen Hals." Sie nahm ihr Töchterchen in den Arm und wiegte es. Zum Glück beruhigte Hedi sich langsam, schließlich schlief sie ein. Vater war inzwischen zu Tinka ins Mädchenzimmer gegangen, um nachzusehen, ob sie wach geworden war. Er war sich nicht sicher, ob sie schlief oder ob sie ohnmächtig war, so schlaff und unbeweglich lag sie in den Kissen. Wenigstens atmete sie gleichmäßig, und so beschloß er, sie nicht zu wecken. In dieser Nacht gab es keine Ruhe für die Eltern. Jeder bewachte den Schlaf eines der beiden Mädchen. Ein schrecklicher Schlaf, von bellendem Husten und mühsamem nach-Luft-ringen unterbrochen. Früh am nächsten Morgen brach der Vater auf, um den Arzt zu holen.

"Diphterie", sagte Doktor Weingärtner mit ernstem Gesicht. "Sehr gefährlich und hochansteckend. Das Haus steht ab sofort unter Quarantäne, ich werde alles Nötige veranlassen." Er hatte beide Kinder sorgfältig untersucht und ihnen eine Spritze gegeben. "Eigentlich müßten sie sofort ins Krankenhaus, allerdings hat unser Kreiskrankenhaus keine Isolierstation, wir könnten sie höchstens nach Hamburg bringen. Im Moment ist der Transport aber zu riskant."
"Um Gottes Willen, Herr Doktor, sie werden doch wieder gesund?", meine Mutter konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. "Aber bitte, beruhigen Sie sich doch", antwortete Doktor Weingärtner. "Die Kinder brauchen Sie jetzt. Wenn sie nur nicht so schwach wären. Im Moment können wir wirklich nur hoffen, daß die Medikamente anschlagen und daß sie bald wieder zu Kräften kommen. Ich komme heute abend nochmal vorbei und gebe ihnen eine Spritze für die Nacht. Ihre Söhne sind bei Verwandten, sagten Sie? Das ist gut, lassen Sie sie erst zurückkommen, wenn keine Ansteckungsgefahr mehr besteht." Am Abend hatte sich die Situation kaum verändert. Die Mädchen lagen die meiste Zeit matt und teilnahmlos in ihren Betten, sie schienen aber schon etwas leichter zu atmen, und die quälenden Hustenanfälle waren weniger geworden. "Wenn sie morgen transportfähig sind, können wir es wagen", meinte der Doktor. Aber sein Gesicht war ganz grau als er das sagte, er sah meine Mutter nicht an.

Wieder folgte eine schlaflose Nacht. Mutter hatte sich ihr Nachtlager an der Durchgangstür zwischen den Kinderzimmern aufgeschlagen, damit sie gleich da wäre, wenn eines der Mädchen etwas brauchte. Ängstlich lauschte sie auf den rasselnden Atem, auf das Husten und Stöhnen ihrer Töchter. Gegen Morgen fing Hedi wieder an zu weinen. Sie wollte etwas sagen, konnte aber kaum einen Ton herausbringen, nur ein schreckliches Schnappen und Würgen war zu hören. Hedi wollte unbedingt zu ihrer Schwester, das war alles was Mutter herausbekam. Da sich die Kleine gar nicht beruhigen ließ, schob man ihr Kinderbettchen an die Verbindungstür und half ihr, sich aufzurichten. Tinka sah still zu ihr herüber. "Wein doch nicht, Hedimaus." Jedes Wort bereitete ihr unsägliche Mühe. "Jetzt werden wir wieder gesund, nich?", krächzte Hedi. "Ja, aber nun sei brav und schlaf schön. Morgen kommst du wieder zu mir, dann spielen wir zusammen". Nach diesen Worten sank Tinka erschöpft zurück in die Kissen. Hedi aber ließ sich widerstandlos mit ihrem Bettchen zurückrollen. Zufrieden ließ sie sich zudecken und von der Mutter die Tränchen aus dem Gesicht wischen. Sie schlief sofort ein, mühsam atmend aber glücklich lächelnd. Kurz darauf starb Tinka und wenig später auch Hedi.

"Großer Gott, zwei Kinder an einem Tag!" Tante Lina ließ entsetzt den Hörer fallen, bevor sie laut schluchzend auf dem Stuhl zusammenbrach. Ich wußte gar nicht, was ich davon halten sollte und nahm den Hörer auf. "Hallo", rief ich hinein, "hallo, wer ist denn da?" Schweigen, ich hörte förmlich das Schweigen am anderen Ende, schließlich wurde aufgelegt. "Tante", langsam wurde mir mulmig, "liebes Tantchen, wein doch nicht. Was hast du denn?" Statt einer Antwort schlang die Tante ihre Arme um mich und weinte nur noch heftiger. Keiner konnte mir jemals nachsagen, ich sei ein Angsthase gewesen, er brauchte nur meine Brüder zu fragen. Immerhin war ich älter und stärker als sie, das haben sie mehr als einmal zu spüren bekommen. Und wenn Vater nicht da war, dann war ich der Mann im Haus. Aber jetzt packte mich doch eine lähmende Angst, ich hatte noch nie einen Erwachsenen derart weinen sehen. "Tante, hör auf, du tust mir ja weh! Hilfe! Onkel Robert!" Erst als der Onkel dazukam gewann sie ihre Fassung zurück. Jetzt gelang es mir auch, mich aus ihrer Umklammerung zu befreien. "Beide?", fragte Onkel Robert, dann schickte er mich hinaus. "Ruf deine Brüder, wir müssen euch etwas sagen."

Drei Tage nach der Beerdigung brachten Onkel und Tante uns nach Hause. Man zeigte uns Fotos, zwei weiße Särge, eine Menge Blumen und Kränze, aber ich wußte nicht, was das mit unseren Schwestern zu tun hatte. 'Sie vergraben zwei Särge aber doch nicht zwei Kinder', dachte ich. 'Na und? Vielleicht ist ja gar nichts passiert. Und wenn schon, als Mucki gestorben ist war es jedenfalls viel schlimmer.' Zu Hause ging ich durch die leeren Kinderzimmer. Meine Eltern hatten alles ausgeräumt und desinfiziert. Das waren nicht mehr unsere Zimmer, Möbel, Spielsachen, Schulbücher, alles war fort, nicht einmal Gardinen gab es mehr vor den Fenstern. Fremd und unheilvoll hing der Geruch des Desinfektionsmittels in den Räumen. Keine Erinnerung mehr an die ehemaligen Bewohner, nicht eine Spur von ihnen war geblieben. Die Verbindungstür zwischen den Zimmern stand offen, und auf der Schwelle saß Miti, die Katze ohne Namen. Offensichtlich hatte ich sie beim Putzen überrascht. Sie saß da, die linke Vorderpfote angehoben und die Zunge ein wenig herausgestreckt, mitten in der Bewegung erstarrt. "Es ist niemand mehr da, Miti", sagte ich mehr zu mir selbst. "Mau", antwortete die Katze, kein Zweifel, sie hatte mich verstanden. Mit einem eleganten Schwung sprang sie aufs Fensterbrett und sah mich von dort mit unergründlichen Augen an. "Sie irren sich! Ja, sie müssen sich alle irren, Kinder sterben doch nicht!" Ich hatte mich vor das Fenster auf den Boden gehockt. Bisher war ich der Zweitgeborene gewesen, der zweite von fünf Geschwistern, und jetzt sollte ich der Älteste von dreien sein. "Mau-mmmjau", sagte Miti nach einigem Zögern. Ich hatte nicht das Gefühl mit einer Katze zu sprechen. Nein, ich spürte ein Wesen, das ich vorher nicht wahrgenommen, von dessen Existenz ich nichts gewußt hatte, und das doch so seltsam eng mit mir verbunden war. Noch heute ist mir nicht klar, was damals genau in mir vorging, es hatte wohl etwas mit Erwachsenwerden zu tun.
Schließlich sprang Miti von ihrem Fenstersitz herab, schmiegte sich mit ihrem ganzen Körper an mich, strich ein paarmal mit ihrer rauhen Zunge über meine nackten Beine bevor sie diskret hinausging.
 

Frieda

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Hallo Rainer,

danke für deine Rückmeldung. Was die Person des Jungen angeht hast du tatsächlich recht, da muß ich noch etwas nachbessern, habe ich mir fest vorgenommen.
Bei dem letzten Satz finde ich das Wort "diskret" eigentlich nicht unpassend. Die ganze Sache ist aus der Sicht des Jungen erzählt, er empfindet die Katze als diskret, daß heißt nicht, daß sie diskret ist. Vielleicht ist ihr einfach nur langweilig oder es ist Essenszeit oder sonst was. Normalerweise könnte ich auch nicht schreiben "die Katze sagte", Katzen sagen nicht. Der Junge hat das Gefühl, daß die Katze ihn versteht, daß sie ihm in wohlüberlegten Worten antwortet und ihn dann diskret allein läßt. Aber du hast mich auf einen Gedanken gebracht, ich werde an dem Absatz noch ein bißchen herumfeilen.

Liebe Grüße
von Frieda
(Katzenfreundin ja, aber nicht bedingungslos)
 



 
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