Die Katzenfrau

nemo

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Die alte Frau lachte und Dejan hatte für einen Augenblick das Gefühl, er blicke in den Eingang einer Höhle, in der ihn ein geschupptes Ungeheuer erwarten würde. Umringt von zwei unregelmäßigen Zahnreihen, die immer wieder große Lücken aufwiesen, kam aus diesem dunklen Schlund ein scheußlicher Geruch, bei dem Dejan sich der Magen umdrehte.
Er versuchte sich die Abscheu nicht anmerken zu lassen, immerhin hatte die alte Vettel ihm ja Obdach geboten und ihn sogar auf dem Dachboden des brüchigen Hauses versteckt, als sich vor ein paar Minuten eine Motorradeinheit der Deutschen laut knatternd den Berg hoch gequält hatte. Angehalten hatten sie nicht. Das bedeutete wahrscheinlich, dass sie ihn nicht suchten; das hoffte Dejan zumindest. Er hatte Belgrad verlassen, um sich den Partisanen anzuschließen, die sich in den westlichen Ausläufern des Balkangebirges versteckt hielten und ihr Bestes taten, um den Deutschen ihre Besatzung so unangenehm wie möglich zu machen.
Manchmal aber hatte Dejan das Gefühl, dass ihre Aktionen in etwa die Auswirkungen von Nadelstichen in den Hintern eines Braunbären hatten. Aber aufgeben kam nicht in Frage.
Das Krächzen der alten Frau ebbte ab und damit auch der unangenehme Duft, der aus ihrem Rachen kam. Sie wand sich um und begann an einem Holztisch Kartoffel zu schälen. „Sie haben bestimmt Hunger, junger Mann“, hatte sie gesagt, „so ein kräftiger Kerl wie sie, der soll mir doch nicht vom Fleisch fallen“, dann hatte sie angefangen zu lachen.
Dejan war froh, dass die Frau ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn richtete, denn die Augen dieser kleinen gedrungenen Person hatten etwas beunruhigendes an sich. Er konnte nicht sagen, was genau es war, denn die Frau war bestimmt schon neunzig Jahre alt, und ihre ganze Erscheinung - die gebeugte Haltung, die Falten auf ihrer lederartigen Haut und ihr arthritischer Gang – war alles andere als bedrohlich. Trotzdem fühlte sich Dejan in ihrer Gegenwart unwohl. Er wischte dieses schwer zu fassende Gefühl beiseite und ließ seinen Blick durch die primitive Behausung der alten Hexe schweifen. Immerhin schien sie ja viel Wert auf Sauberkeit zu legen, denn obwohl überall im Haus Katzen herumliefen und die Fenster und die schweren Holzläden geschlossen waren - so das weder Tageslicht noch frische Luft ins Haus kam - roch Dejan nicht den typisch beißenden Geruch von Katzenpisse.
Seine Gedanken wanderten langsam wieder zu den Ereignissen des Vormittags, die er die letzten Stunden so erfolgreich verdrängt hatte; zurück zu den Leichen seiner Genossen, zurück zu dem Blut, den Gedärmen, den ohrenbetäubenden Schüssen.
Er war der einzige der überlebt hatte. Alle anderen waren von den Deutschen umgebracht worden. War das Schicksal? Glück?
Seine Finger fuhren unbewusst durch seinen dichten Bart.
„Machen Sie sich keine Sorgen, junger Mann. Hier sind Sie sicher.“
Dejan hatte nicht gemerkt, dass die alte Frau sich ihm wieder zugewandt hatte.
Dejan fasste einen Entschluss.
„Großmütterchen, ich bin dir für deine Hilfe sehr dankbar und möchte dir zum Beweis dafür, das hier schenken.“
Dejan holte einen Ring aus der Jackentasche - es war ein Siegelring aus Gold, den er einem deutschen Offizier abgenommen hatte, besser gesagt der Leiche eines deutschen Offiziers – und hielt ihn der Frau hin, die jetzt wieder mit dem Rücken zu ihm saß und weiter Kartoffeln schälte.
„Nimm ihn als Dank für mein Leben, Mütterchen und lass mich weiterziehen, denn ich muss zu den Meinen zurück.“
Mit einer entschlossenen Handbewegung jagte sie einen feisten, gestreiften Kater vom Tisch, der das mit einem entnervten Fauchen quittierte.
„Aber ich wollte dir doch gerade Kartoffeln machen. Du wirst doch nicht mit leeren Magen durch die Berge ziehen wollen. Außerdem wird es gerade Nacht, da ist es dort draußen zu gefährlich. Setz dich hin, ich mache dir einen Tee, du isst ein bisschen was und dann kannst du dich immer noch entscheiden zu gehen.“, sagte sie sanft aber bestimmt.
„Danke Mütterchen, aber ... „, setzte Dejan an.
„Jetzt setz dich hin!“, unterbrach ihn die Frau harsch und irgendetwas stimmte mit ihrer Stimme nicht. Wie ein Gift war sie in seinem Geist eingedrungen und er spürte, wie er einen Schritt nach vorne in Richtung des leeren Küchenstuhls machte, ohne das zu wollen. Er schüttelte sich und blieb schwankend stehen.
Mütterchen hatte sich inzwischen in seine Richtung gedreht und sie wirkte alles andere als mütterlich. Ihr Gesicht war hassverzerrt, fratzenhaft, nur noch ein bösartiger Schemen seiner selbst. „Ich habe gesagt, du bleibst zum Essen!“, kreischte sie, und ihre Stimme ließ einen Schauer über Dejans Rückrat wandern. Ein schwarzer Schatten fiel wie ein Vorhang aus Tinte über ihre Augen uns sie zog ihre Lippen hoch, wie ein Wolf seine Lefzen, entblößte dabei zwei Reihen scharfer Zähne, gekrönt von vier Schneidezähnen, die nun fast die Länge eines kleinen Fingers hatten. Dejan schossen Kindheitserinnerungen durch den Kopf. Erinnerungen an die Geschichten von blutsaugenden Ungeheuer, die angeblich in Rumänien ihr Unwesen trieben. Wampyre. Fabelwesen, die dazu dienten Kindern Angst einzujagen. Legenden. Märchen. Lügen.
Der Schreck hatte sich fest in Dejans Brust gekrallt, lähmte seine Beine und ließ ihn nur zögernd rückwärts taumeln, anstatt zu laufen, was die Stiefel hergaben.
Dann sprang das Ding ihn an, traf ihn mit der Wucht einer fahrenden Straßenbahn und riss ihn zu Boden. Doch Dejan war stark. Schon als Kind hatte er in einer Belgrader Eisenhütte geschuftet und die Arbeit dort hatte seinen Körper sprichwörtlich gestählt.
Das Alte-Frau-Wesen lag jetzt auf ihm und griff gierig mit ihren faltigen Händen nach seinem Hals. Dejan, der die längeren Arme besaß, hielt sie so gut es ging von sich fern. Aus ihrem Maul hingen zähflüssige Speichelfäden, die etwas von einem Spinnenetz hatten. Dejan hasste Spinnen.
Seine Arme schmerzten und trotz seiner Kraft, würde er dem Ding nicht mehr lange standhalten können. Dejan hatte Angst, Angst, wie er sie noch nie gespürt hatte, und er hatte in seinem Leben schon viele Gelegenheiten gehabt sich zu fürchten.

Er gab dem Wesen ein Stückweit nach, beugte seine Arme, die vor Anstrengung zitterten und kurz bevor er glaubte die Fingernägel des Wampyrs an seinem Hals zu spüren, schrie er und stieß sie mit aller Kraft von sich. Es war ein wuchtiger Stoß und die alte Frau flog in einem hohen Bogen und knallte krachend auf den Küchentisch. Knochen knackten, Kartoffeln fielen zu Boden, Katzen flüchteten. Dejan sprang auf, griff sich einen Stuhl und zertrümmerte ihn mit aller Kraft auf den gebrechlichen Körper der alten Frau. Die Vettel blieb unbeeindruckt, richtete sich lächelnd wieder auf. Dejan hatte seine ganze Wut und die Trauer über den Tod seiner Kameraden in den Schlag gelegt und das Ding verhöhnte ihn sogar noch. Die Panik überkam ihn wie eine Sturmböe.
Für ihn zählte nur noch das Überleben.
Ohne weiter auf das Wesen zu achten, lief Dejan in Richtung der Ausgangstür. Doch er kam nicht weit, den er wurde plötzlich von hinten zu Boden gerissen. Sein Kopf prallte gegen einen Holzeimer und für einen Moment tanzten Lichter vor seinen Augen. Die Fingernägel, die sich in das Fleisch seines Rückens bohrten, ließen die Lichter noch heller leuchten und Dejan schrie auf. Völlig panisch versuchte er das Ding von seinem Rücken weg zu bekommen, doch die alte Frau hatte sich festgekrallt und jede seiner Bewegungen zog eine Woge des Schmerzens nach sich. Dejan richtete sich brüllend auf und lief rückwärts gegen eine Küchenkommode. Es krachte und schepperte, doch das Alte-Frau-Wesen lachte nur, keifte und kreischte, als würde sie auf einem Jahrmarktsfuhrgeschäft fahren. Dejan sah sein Gewehr am Bogen der Eingangstür lehnen. Es waren noch gut vier Meter bis dorthin. Dejan kam es vor, wie ein Kilometer. Noch immer hing dieses Furiending an ihm und er spürte warmes Blut seinen Rücken hinunterlaufen, roch ihren stinkenden Atem in seinem Nacken. In einer ruckartigen Bewegung, warf er seinen Oberkörper nach vorne. Das Wesen flog mit einem überraschten Kreischen über seinen Kopf und krachte vor ihm auf. Ihre Krallen hatten tiefe, brennende Risse in seinem Rücken hinterlassen und er sank benommen auf die Knie. Langsam hob er den Blick und sah, dass die alte Vettel keinen Meter vor ihm auf dem Boden lag. Aus ihrem Hals ragte ein spitzes Stück Holz. Ein röchelndes Gurgeln verriet ihm, dass sie noch atmete. Dejan stützte sich mit beiden Händen auf den Boden, während der Schmerz nach und nach zu einem dumpfen Gefühl im Hintergrund wurde. Auf allen vieren kroch er neben die alte Frau, dessen Augen ihm trotz ihrer Lage wachsam folgten. Jetzt sah er, dass sie sich auf den Überresten eines Holzstuhls aufgespießt hatte. Seine Hand glitt zitternd am Boden entlang, bis er ein zerbrochenes Stuhlbein fand.
In den Gruselgeschichten seiner Kindheit war immer davon die Rede, dass man Wampyre mit einem Pflock im Herzen tötete. Dejan betete dafür, dass es stimmte.
Immer noch kniend, richtete er sich auf. Das Stuhlbein in beiden Händen haltend, holte er aus und stieß zu.
Das Holz knirschte als es sich durch zwei Rippen schob und landete mit einem fleischigen Schmatzen in dem Herz der alten Hexe, die ihr Schicksal ohne einen Ton über sich ergehen ließ.
Ihr Körper zuckte zweimal, dann erschlaffte er.
Dejan ließ sich auf die Seite sinken, rollte sich zusammen und brach in Tränen aus.
Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen und geweint hatte, doch irgendwann gingen ihm die Tränen aus. Langsam setzte er sich auf und sah, dass überall Katzen waren. Es mussten Hunderte sein. Sie hockten auf dem Tisch, auf den Schränken, einfach überall. Einige von ihnen leckten die Blutflecken auf dem Boden ab, doch die meisten Tiere fixierten ihn, starrten ihn an.
Dann hörte er eine leise Stimme, als würde ihm jemand etwas ins Ohr flüstern. Die Stimme kam von überall und nirgendwo zugleich. „Du hast unseren Ernährer umgebracht. Du wirst seine Stelle einnehmen müssen.“
Es waren mehr Bilder als Worte, mehr Gefühle als Sätze.
Als die Katzen langsam auf ihn zukamen und dabei ihre ungewöhnlich langen Schneidezähne präsentierten, verstand Dejan.
 



 
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