Markus Veith
Mitglied
(...)
Der Herr mit dem langen Kerzenanzünder atmet tief aus und lässt Zeit verstreichen, so lange wie er es für nötig hält. Dann geht er zum Treppenabsatz vorm Altar, wendet sich aber der anderen Richtung zu. Hinter dem großen Fenster über dem Portal flimmert ein Wetterleuchten. Obwohl er leise spricht, klingt seine Stimme voll und laut: "Du hättest dein Leben nicht so leben müssen, Agatha."
Die Frau hat sich auf der Kniebank niedergelassen. Gekrümmt wie sie da hockt, ihre Arme um die Knie geschlungen, wirkt sie zerbrechlich, und so furchtsam wie ein kleines Kind. Sie antwortet nicht.
"Wer trägt die Schuld daran, dass alles so kam?" fragt der Herr.
Ihre Worte kommen zögerlich. "Ich ... ich habe sie mir gegeben. Immer. Aber ..."
"Aber", wiederholt er, als sie innehält. "Das war deine Brücke über die Spalten, habe ich recht? Zwischen Zweifel und Ahnen, zwischen Glauben und Hoffen. Ein ewiges Aber." Er nickt nachdenklich. "Du hast ein Leben vernichtet, aber ein weiteres erschaffen, um auch deines zu erhalten. Deine Sünden waren Trotz, aber zur Sühne warst du bereit. Du bist eine Agatha, die der Versuchung verfiel, wurdest aber eine heilige Monika, die andere im Glauben bestärkte." Er lässt sein weißhaariges Haupt sinken. "Du hast dein Vertrauen in Gott verloren, ... aber das war nicht deine Schuld. - Das hätte nicht geschehen müssen."
Sorgenfalten haben sich in das Gesicht der alten Frau gegraben. "Was wird jetzt mit mir geschehen?"
Das Wetterleuchten wird heftiger, zu einem stetigen, lebendigen Licht hinter dem gläsernen Abbild der heiligen Agatha. Der Küster hebt den Blick. "Du bist hier, wo alles begann. Du sollst die Kerze zurückerhalten, wie es dir versprochen wurde. Du hast für sie bezahlt." Er nickt zu dem Kirchenfenster hinauf. Die Frau folgt seiner Geste - und entdeckt das Attribut in den Händen der Heiligen. Schwarz und unförmig, noch nicht entflammt.
Sie wird blass, frische Tränen lösen sich und rinnen über die Wangen.
"Ja, wasche deine Augen." Seine Miene zeigt weder Mitleid, noch Missbilligung. Er bemerkt ihren fragenden Blick. "Was war dein Leben? Der Glaube an eine Kerze, die Gott für dich war. Sie hat dich dein Leben lang begleitet, hat deine Leiden miterlebt und deine Freuden, seien sie auch gering gewesen. Es ist Zeit, ihre Dankbarkeit zu entzünden."
Er rafft seinen Mantel und steigt die Stufen empor, geht zu dem Triptychonaltar in der Mitte des Chorraums. Nacheinander klappt er die mächtigen Wände auseinander. Die Innenseiten sind mit weißen Laken verhangen. Dann kommt er zu ihr zurück, geleitet sie zu der vordersten Kirchenbank.
Ihre Tränen sind versiegt, benetzte Stellen auf ihrem Kragen. "Was wird geschehen, wenn sie brennt?!" fragt sie ihn leise.
Den langen Anzünder immer noch in der Hand, steht er vor ihr. Über ihren Kopf hinweg sagt er: "Diese Kerze ist schwarz, weil sie Zeiten beleuchten kann, die in Finsternis geblieben sind. Es hängt von dir ab, wie sie belebt werden. - Welche Zeit deines Lebens willst du in ihr Licht setzen."
"Das ist eine Gnade" flüstert sie. Der Küster geht nicht darauf ein. Nach einigem Überlegen erhellt ein Lächeln ihr Gesicht. "Der Wolfgang war immer nett zu mir. Ich hätte ihn nicht so barsch behandeln müssen." Ihr Blick gleitet zum aufgeklappten Triptychon. "Der Wolfgang", wiederholt sie bestimmt. "Vielleicht wäre alles anders geworden mit ihm."
Der Mann nickt einverstanden. Dann holt er eine Streichholzpackung aus der Tasche seines Mantels und reicht sie ihr. Ohne ein weiteres Wort entflammt sie eines der Hölzer. Er hält ihr das Ende des Anzünders entgegen, um das die Wachsschnur gewickelt ist. Eine Flamme wächst golden empor.
Draußen säuseln die Schatten lauter. Von dem Gesang einen Moment abgelenkt, trifft die Frau wieder auf seinen ernsten, ruhigen Blick. "Das Licht der Agatha dauert kein Leben lang", sagt der Küster. "Es leuchtet gut, vergeht aber auch schnell. Nutze es gewissenhaft." Dann geht er fort, in die Richtung, aus der die Schatten singen. Sie schaut nicht hinter ihm her.
Ein Strahl bunten Lichts schwillt an und webt sich durch die Kirche, trifft auf weiß behangene Altarpforten. Bilder trennen den Ablauf eines Lebens ...
Ein Liebender trifft ein Mädchen,
sündig in der And'ren Augen.
Er bittet sie zum Tanz,
verwandelt mit ihr die Lichternacht.
Ein Schwingen in Einheit!, Taumelnden Kopfes!,
spielt er an ihrem Feuer wie ein gebranntes Kind:
Nur noch ein Mal! Zagend kostend an dem süßen Brei.
So verlockend die Süßigkeit ist
- so auch seltsam fremd, zart verbittert in dieser Nacht.
Angstvoll ist ihr Blick der Zeit gerichtet
Und tief nach Nähe suchend dringt ihr zärtlich Mund in ihn:
"Lass uns gehn, mein Wolf!
Verweilen heißt: Ein Ende.
Vertilge meine schwarze Herde!
Dem Ewig möcht' ich singen, eh diese Nacht vorüber."
Kerzenschein erhellt das Dunkel
Sie scheut das Licht, doch lässt's geschehen
Flüchtet hilfesuchend in Umarmung
Und sündenlos wird alle Nähe!
Das Finster birgt ein Feuerwerk!
Wolken schwinden in Glückesflut!
Und des Leibes keim'de Frucht hält still den Atem
Das Herz schlägt doppelt in inn'ger Seele
Bittet als Kind einen Vater ums Geleit
Er schenkt es, freudig
Allzu gern erkoren
Und noch viel mehr dazu
Voll der Gnade
Der Herr war mit ihr
In Ewigkeit
Amen
W.B. 1961
Licht zerreißt. Farben schmelzen dahin und ertrinken. Die Bilder trennten den Ablauf eines Lebens, ... fügen sich nun ein, ... und werden Wirklichkeit.
Als die Frau das leise Klirren hinter sich hört, schließt sie die Augen. Das Geräusch zerknirscht und verebbt. Fahle Dunkelheit umhüllt den Altar.
Langsame Schritte über den Mittelgang. Neben ihr bleibt der Küster stehen und schaut zum Kreuz hinauf. Sein Gerät stellt er auf dem kleinen Blasebalg ab, hält es zwischen den Füßen wie einen Hirtenstab. Dünner Rauch nebelt aus der Löschtülle.
"Was ist passiert, ..." fragt sie kaum hörbar, "... danach?"
Eine Pause für wohl überlegte Worte. "Euer gemeinsames Leben verlief enthaltsam", sagt er fest. "Deine weiteren Affären waren für ihn nicht von Belang, und du kehrtest du ihm zurück. Für einige Zeit fanden seine Werke Beachtung, später arbeitete er in einem Verlagshaus. Er starb nach dreißig Jahre Ehe. Die letzten zehn hast du ihn gepflegt."
Sie nickt, holt tief Atem. "Unser Kind?"
"Er wurde ihm ein Vater. Dein Sohn studierte Informatik und siedelte später in die USA. Er heiratete und hatte zwei Kinder."
"Hatte?" Sorge umwölkt ihre Stirn.
Er zögert. "Sein Tod kam unerwartet. Und nicht aus ... heiterem Himmel. Du hast ihn am Bildschirm gesehen. Dein Herz war dem Schmerz nicht lange gewachsen."
Sie sinkt in sich zusammen. Tränen benetzen den Kragen ihres Kleides. Er lässt ihr viel Zeit. Irgendwann legt er ihr die Hand auf die Schulter. Die Frau hebt den Kopf und schaut zum Gekreuzigten hinauf. "Aber welches war nun mein Leben?"
"Du hast es verändert", antwortet der Küster.
"Aber warum habe ich keine Erinnerung daran."
Schulterzucken. "Dein Schock saß tief. Die Ärzte nannten den Nebel um dich eine Gnade." Er seufzt. "Du hättest eine Heilige sein können." Der Druck seiner Hand verstärkt sich. "Du musst gehen."
Sie nickt langsam. Unendlich müde sind ihre Bewegungen, als sie aufsteht und den Mittelgang entlang zum Portal geht. Der Küster begleitet sie. Schatten öffnen die Torflügel.
"Muss ich dankbar sein?" fragt sie.
Der Herr mit dem Kerzenlöscher antwortet nicht, und ebenso schweigend wendet sich die Frau den säuselnden Schatten zu.
Der Herr mit dem langen Kerzenanzünder atmet tief aus und lässt Zeit verstreichen, so lange wie er es für nötig hält. Dann geht er zum Treppenabsatz vorm Altar, wendet sich aber der anderen Richtung zu. Hinter dem großen Fenster über dem Portal flimmert ein Wetterleuchten. Obwohl er leise spricht, klingt seine Stimme voll und laut: "Du hättest dein Leben nicht so leben müssen, Agatha."
Die Frau hat sich auf der Kniebank niedergelassen. Gekrümmt wie sie da hockt, ihre Arme um die Knie geschlungen, wirkt sie zerbrechlich, und so furchtsam wie ein kleines Kind. Sie antwortet nicht.
"Wer trägt die Schuld daran, dass alles so kam?" fragt der Herr.
Ihre Worte kommen zögerlich. "Ich ... ich habe sie mir gegeben. Immer. Aber ..."
"Aber", wiederholt er, als sie innehält. "Das war deine Brücke über die Spalten, habe ich recht? Zwischen Zweifel und Ahnen, zwischen Glauben und Hoffen. Ein ewiges Aber." Er nickt nachdenklich. "Du hast ein Leben vernichtet, aber ein weiteres erschaffen, um auch deines zu erhalten. Deine Sünden waren Trotz, aber zur Sühne warst du bereit. Du bist eine Agatha, die der Versuchung verfiel, wurdest aber eine heilige Monika, die andere im Glauben bestärkte." Er lässt sein weißhaariges Haupt sinken. "Du hast dein Vertrauen in Gott verloren, ... aber das war nicht deine Schuld. - Das hätte nicht geschehen müssen."
Sorgenfalten haben sich in das Gesicht der alten Frau gegraben. "Was wird jetzt mit mir geschehen?"
Das Wetterleuchten wird heftiger, zu einem stetigen, lebendigen Licht hinter dem gläsernen Abbild der heiligen Agatha. Der Küster hebt den Blick. "Du bist hier, wo alles begann. Du sollst die Kerze zurückerhalten, wie es dir versprochen wurde. Du hast für sie bezahlt." Er nickt zu dem Kirchenfenster hinauf. Die Frau folgt seiner Geste - und entdeckt das Attribut in den Händen der Heiligen. Schwarz und unförmig, noch nicht entflammt.
Sie wird blass, frische Tränen lösen sich und rinnen über die Wangen.
"Ja, wasche deine Augen." Seine Miene zeigt weder Mitleid, noch Missbilligung. Er bemerkt ihren fragenden Blick. "Was war dein Leben? Der Glaube an eine Kerze, die Gott für dich war. Sie hat dich dein Leben lang begleitet, hat deine Leiden miterlebt und deine Freuden, seien sie auch gering gewesen. Es ist Zeit, ihre Dankbarkeit zu entzünden."
Er rafft seinen Mantel und steigt die Stufen empor, geht zu dem Triptychonaltar in der Mitte des Chorraums. Nacheinander klappt er die mächtigen Wände auseinander. Die Innenseiten sind mit weißen Laken verhangen. Dann kommt er zu ihr zurück, geleitet sie zu der vordersten Kirchenbank.
Ihre Tränen sind versiegt, benetzte Stellen auf ihrem Kragen. "Was wird geschehen, wenn sie brennt?!" fragt sie ihn leise.
Den langen Anzünder immer noch in der Hand, steht er vor ihr. Über ihren Kopf hinweg sagt er: "Diese Kerze ist schwarz, weil sie Zeiten beleuchten kann, die in Finsternis geblieben sind. Es hängt von dir ab, wie sie belebt werden. - Welche Zeit deines Lebens willst du in ihr Licht setzen."
"Das ist eine Gnade" flüstert sie. Der Küster geht nicht darauf ein. Nach einigem Überlegen erhellt ein Lächeln ihr Gesicht. "Der Wolfgang war immer nett zu mir. Ich hätte ihn nicht so barsch behandeln müssen." Ihr Blick gleitet zum aufgeklappten Triptychon. "Der Wolfgang", wiederholt sie bestimmt. "Vielleicht wäre alles anders geworden mit ihm."
Der Mann nickt einverstanden. Dann holt er eine Streichholzpackung aus der Tasche seines Mantels und reicht sie ihr. Ohne ein weiteres Wort entflammt sie eines der Hölzer. Er hält ihr das Ende des Anzünders entgegen, um das die Wachsschnur gewickelt ist. Eine Flamme wächst golden empor.
Draußen säuseln die Schatten lauter. Von dem Gesang einen Moment abgelenkt, trifft die Frau wieder auf seinen ernsten, ruhigen Blick. "Das Licht der Agatha dauert kein Leben lang", sagt der Küster. "Es leuchtet gut, vergeht aber auch schnell. Nutze es gewissenhaft." Dann geht er fort, in die Richtung, aus der die Schatten singen. Sie schaut nicht hinter ihm her.
Ein Strahl bunten Lichts schwillt an und webt sich durch die Kirche, trifft auf weiß behangene Altarpforten. Bilder trennen den Ablauf eines Lebens ...
Ein Liebender trifft ein Mädchen,
sündig in der And'ren Augen.
Er bittet sie zum Tanz,
verwandelt mit ihr die Lichternacht.
Ein Schwingen in Einheit!, Taumelnden Kopfes!,
spielt er an ihrem Feuer wie ein gebranntes Kind:
Nur noch ein Mal! Zagend kostend an dem süßen Brei.
So verlockend die Süßigkeit ist
- so auch seltsam fremd, zart verbittert in dieser Nacht.
Angstvoll ist ihr Blick der Zeit gerichtet
Und tief nach Nähe suchend dringt ihr zärtlich Mund in ihn:
"Lass uns gehn, mein Wolf!
Verweilen heißt: Ein Ende.
Vertilge meine schwarze Herde!
Dem Ewig möcht' ich singen, eh diese Nacht vorüber."
Kerzenschein erhellt das Dunkel
Sie scheut das Licht, doch lässt's geschehen
Flüchtet hilfesuchend in Umarmung
Und sündenlos wird alle Nähe!
Das Finster birgt ein Feuerwerk!
Wolken schwinden in Glückesflut!
Und des Leibes keim'de Frucht hält still den Atem
Das Herz schlägt doppelt in inn'ger Seele
Bittet als Kind einen Vater ums Geleit
Er schenkt es, freudig
Allzu gern erkoren
Und noch viel mehr dazu
Voll der Gnade
Der Herr war mit ihr
In Ewigkeit
Amen
W.B. 1961
Licht zerreißt. Farben schmelzen dahin und ertrinken. Die Bilder trennten den Ablauf eines Lebens, ... fügen sich nun ein, ... und werden Wirklichkeit.
Als die Frau das leise Klirren hinter sich hört, schließt sie die Augen. Das Geräusch zerknirscht und verebbt. Fahle Dunkelheit umhüllt den Altar.
Langsame Schritte über den Mittelgang. Neben ihr bleibt der Küster stehen und schaut zum Kreuz hinauf. Sein Gerät stellt er auf dem kleinen Blasebalg ab, hält es zwischen den Füßen wie einen Hirtenstab. Dünner Rauch nebelt aus der Löschtülle.
"Was ist passiert, ..." fragt sie kaum hörbar, "... danach?"
Eine Pause für wohl überlegte Worte. "Euer gemeinsames Leben verlief enthaltsam", sagt er fest. "Deine weiteren Affären waren für ihn nicht von Belang, und du kehrtest du ihm zurück. Für einige Zeit fanden seine Werke Beachtung, später arbeitete er in einem Verlagshaus. Er starb nach dreißig Jahre Ehe. Die letzten zehn hast du ihn gepflegt."
Sie nickt, holt tief Atem. "Unser Kind?"
"Er wurde ihm ein Vater. Dein Sohn studierte Informatik und siedelte später in die USA. Er heiratete und hatte zwei Kinder."
"Hatte?" Sorge umwölkt ihre Stirn.
Er zögert. "Sein Tod kam unerwartet. Und nicht aus ... heiterem Himmel. Du hast ihn am Bildschirm gesehen. Dein Herz war dem Schmerz nicht lange gewachsen."
Sie sinkt in sich zusammen. Tränen benetzen den Kragen ihres Kleides. Er lässt ihr viel Zeit. Irgendwann legt er ihr die Hand auf die Schulter. Die Frau hebt den Kopf und schaut zum Gekreuzigten hinauf. "Aber welches war nun mein Leben?"
"Du hast es verändert", antwortet der Küster.
"Aber warum habe ich keine Erinnerung daran."
Schulterzucken. "Dein Schock saß tief. Die Ärzte nannten den Nebel um dich eine Gnade." Er seufzt. "Du hättest eine Heilige sein können." Der Druck seiner Hand verstärkt sich. "Du musst gehen."
Sie nickt langsam. Unendlich müde sind ihre Bewegungen, als sie aufsteht und den Mittelgang entlang zum Portal geht. Der Küster begleitet sie. Schatten öffnen die Torflügel.
"Muss ich dankbar sein?" fragt sie.
Der Herr mit dem Kerzenlöscher antwortet nicht, und ebenso schweigend wendet sich die Frau den säuselnden Schatten zu.