Die Kopie

Marc Olivier

Mitglied
Schwirrende, irrsinnig schnell und parallel umherwirbelnde Lichter. Dann tosender Lärm. Kreischen, Poltern, Quietschen, Splittern, leiser werdend, bis endlose, leere, schwarze Stille erreicht war. Nichts mehr. Plötzlich grelles Licht, das ihm die Sehkraft nahm.

Nach einigen quälend langen Sekunden brutaler Schmerzen in seinen Augen gewöhnten sie sich an die Umgebung. Er stand inmitten eines großen, leeren Raums. Deshalb fielen ihm zuerst die fensterlosen, gelblich-grau gestrichenen Wände auf. Er sah nach rechts und nach links. Dann wieder nach vorn. Nichts. Rein gar nichts außer diese hässlichen Wände. Er kniff die Augen fest zusammen und schüttelte den Kopf, als wolle er diese verwirrenden Tatsachen aus seinem Gehirn schleudern. Aber es nutzte nichts. Wieder sah er zu beiden Seiten. Alles wie zuvor. Doch was war das? Hatte er im Augenwinkel etwas wahrgenommen? Erschrocken wirbelte er herum. Es war tatsächlich keine optische Täuschung gewesen. An den Ecken und Kanten eines quadratischen Monstrums, einem Schreibtisch in Bucheoptik, lugte der Pressspan hervor. Zumindest wirkte es monströs im Vergleich zu der zierlichen Person, die daran saß und verwirrt in einem Stapel Papier wühlte. Eine Frau – oder ein Mädchen? Sie war in ein mausgraues, maskulines Kostüm gekleidet, doch ihr Gesicht war kindlich und goldblonde Locken fielen wild über ihre Schultern und setzten sich auf ätzendste Art und Weise vom Kostüm ab. Er glaubte sogar zu erkennen, wie ihre Mähne diffuses Licht ausstrahlte. Was war das für ein absurder Ort? Unbewusst beschloss er, zu ihr zu gehen.

Der Schmerz begann an der rechten Stirn, breitete sich aber blitzartig im ganzen Kopf aus. Er stieß einen stummen Schrei, eher einen Seufzer, aus und sackte kurz zusammen. Wütend und ächzend hielt er sich den Schädel und schaute sich seine Umgebung noch mal genauer an. Was war das denn gewesen? Er sah nach oben. Die Decke war weiß, in regelmäßigen Abständen von Leuchtstoffröhren durchzogen, aber direkt über ihm befand sich ein kreisförmiges Loch, das in unergründlicher Schwärze endete. Um ihn herum und über ihm nahm er diffuse Spiegelungen der Lampen wahr. Wie zum Teufel war er hierher geraten? Er richtete seinen wirren Blick wieder auf die Mädchenfrau hinter dem Schreibtisch, die ihn nach wie vor nicht beachtete, sondern genervt in den Zetteln herumkramte.
„Hallo?“ brüllte er aus Leibeskräften. „Hallo! Wo bin ich hier? Hilfe! Ich bin verletzt!“ Das half, auch wenn es gelogen war, denn entgegen seiner Befürchtungen hatte er sich keine Platzwunde zugezogen. Zunächst legte sie ihre Stirn in Falten und schaute über die Schulter zurück. Schließlich wandte sie sich wieder ihrem Tisch zu und schüttelte verstört den Kopf. Er gestikulierte wild mit den Armen und da sah sie ihn. Erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen blickte sie ihn an. Ihr Mund formte ein „Oh!“, aber er konnte nichts hören. Sie fasste hinter die Tischplatte, und nun wurde ihm klar, was hier los war. Er hatte in einer Röhre aus Glas gestanden, die sich jetzt durch einen Knopfdruck der Frau in das Loch in der Decke zurückzog.
„Wie kommen sie denn hierher?“ fragte sie erstaunt.
Er sah sie verständnislos an. „Das frage ich sie“, antwortete er nicht minder verwundert.
Plötzlich verzog sich ihr Gesicht zu einer zornigen Grimasse. „Klappt denn hier auch gar nichts?“ fragte sie ungehalten in den Raum. Und dann wieder zu ihm: „Sie müssen entschuldigen, aber mit Ihnen haben wir hier nun wirklich noch nicht gerechnet. Hier ist noch lange nicht alles fertig. Wir haben schließlich erst vor nicht mal sechzig Jahren angefangen.“
„Ich hatte auch gar nicht vor, hier aufzutauchen und sie von der Arbeit abzuhalten“, erklärte er. „Das muss ein fürchterlicher Irrtum sein. Am besten, ich gehe einfach wieder.“ Aber ein kurzer Rundumblick zeigte ihm, dass dieses Vorhaben der pure Schwachsinn war. Hier gab es weder Fenster noch Türen. Er musste durch dieses Loch in der Decke gekommen sein. Wie er sich auf diese Art wieder vom Acker machen sollte, war ihm mehr als schleierhaft. Und da war noch etwas:
„Vor sechzig Jahren?“
„Immer langsam, junger Mann“, sagte die Frau unwirsch und sie machte ihm mit einer einzigen Handbewegung klar, dass er sich beruhigen und ihr nicht mit seiner hektischen Art auf die Nerven gehen solle. „So einfach geht das hier nicht“, bestätigte sie seine Erkenntnisse. „Sie nehmen jetzt erst mal Platz und warten ab, bis ich das hier geklärt habe.“
Wieder blickte er sich suchend um. „Hier ist kein Stuhl“, stellte er fest.
„Ach ja, natürlich“, erwiderte sie unpersönlich. „Wir waren noch nicht auf sie vorbereitet. Schließlich haben wir ja erst vor knapp.....“ Sie unterbrach sich selbst. „Aber das habe ich ihnen ja schon erklärt. Sie sind unser erster Kunde, wenn ich das so sagen darf. Na ja, dann warten sie eben im Stehen und ich kläre das.“
Sie griff zu ihrem antik wirkenden Scheibentelefon und wählte eine dreistellige Nummer.
„Was ist denn bei Ihnen da unten los?“ blökte sie nur wenig später in den Hörer und gab ihrem Gesprächspartner nur wenig Zeit für eine Antwort.
„Wieso? Wieso?“ äffte sie ihn offenbar nach. „Ich hab hier einen... einen...“ Sie begann zu stocken. „Was hab ich hier eigentlich? Moment, das haben wir gleich. Und bleiben Sie bloß dran!“ fuhr sie die Person am anderen Ende der Leitung an. Sie wandte sich wieder an den Neuankömmling.
„Bringen sie mir mal ihr Formular!“ befahl sie in nur wenig freundlicherem Ton.
„Welches Formular?“ fragte er. Wo zum Teufel war er? Dieser große, unwirkliche Raum mit der Kindfrau hinter einem schäbigen Schreibtisch glich nicht im Entferntesten irgendeinem Ort auf dieser Welt, den er je besucht hatte. Er hatte noch nie davon gehört, dass sich ein Mensch in einem fenster- und türenlosen Raum mit einem Loch in der Decke wiedergefunden hätte und von einer fremden Person dermaßen angepflaumt wurde.
„Sagen Sie bloß, sie haben keins“, fuhr sie ihn an. „Das kann nicht sein. Sie müssen eins haben. Durchsuchen Sie mal ihre Taschen“, wies sie ihn an und gestikulierte wild mit dem freien Arm, während sie ins Telefon brüllte, dass man sich gefälligst gedulden solle und dranzubleiben habe.
Er tastete seine Kleidung ab, und tatsächlich wurde er unter seinem Sakko, in der Brusttasche seines Hemdes, fündig. Es war ein säuberlich zugeklebter Briefumschlag, den er herausholte. Wie der dort hingekommen sein konnte, wusste er nicht. Er hatte noch nie einen Brief in seinem Hemd mit sich herumgetragen. Wofür hatte er denn einen Aktenkoffer? Schließlich hielt er den Umschlag hoch.
„Sag ich’s doch“, meckerte die Frau. „Los, her damit!“ Er tat, wie ihm geheißen und ging dann wieder völlig verunsichert zurück unter das Loch.
„Sind sie noch da?“ widmete sie sich wieder dem Telefon. „Ihr Glück! Also ich hab hier einen deutschen Staatsbürger, 38 Jahre alt, heißt Wolfgang Müller, aus München. Ein kleines Licht. Hat in einer Unternehmensberatung gearbeitet! Autounfall..... Haben Sie Ihren Ausweis dabei?“ fragte sie ihn plötzlich.
„Ehm...“, begann er zu stottern. „Ja, hab ich. Aber wieso Autounfall?“ Die Daten, die sie vorgelesen hatte, waren alle korrekt. Aber wieso Autounfall? Angst überkam ihn.
Sie überhörte seine Frage. „Ja, hat er.... Ja, das wäre wirklich zu freundlich von Ihnen!“ fauchte sie sarkastisch in den Hörer und pfefferte ihn zurück auf die Gabel.
„Mein Kollege wird in fünfzehn Sekunden hier sein und dann schaffen wir hier mal Klarheit. Das ist ja wirklich unglaublich!“ verlieh sie ihrer Entrüstung Nachdruck.
„Wieso Autounfall?“, fragte er erneut und seine Stimme war zerbrechlich und zittrig geworden.
„Immer langsam, junger Mann. Hab ich Ihnen schon mal gesagt. Sie müssen sich schon etwas gedulden. Wir müssen erst mal Licht ins Dunkel bringen. Sie kommen wirklich äußerst ungelegen. Außerdem sehen sie doch, was ich für einen Haufen Arbeit vor mir liegen habe.“ Sie wies auf den Stapel Papiere. „Und treten Sie ein Stück unter dem Loch hervor. Es sei denn, sie wollen zusammen mit meinem Kollegen in Ihre Atome zerlegt werden. Nicht, dass es mir um ihn Leid tun würde. Aber Sie kenne ich noch nicht lange genug.“
Mit einem Riesensatz sprang er ein Stück nach vorn, gerade noch rechtzeitig, um der elektrisierenden Wucht der Blitze zu entkommen, die urplötzlich aus dem Loch zu Boden schossen. Darin festigte sich langsam die Kontur eines Menschen. Und als sich das Gewitter wieder in das Loch zurückgezogen hatte, stand ein hagerer, blasser Mann mit langen schwarzen Haaren vor ihm, den ein bis zum Boden reichender dunkler Mantel umwehte. Er musterte Wolfgang kurz und eilte dann zu der blonden Kindfrau.
„Was soll denn das? Das nächste mal in höflicherem Ton, wenn ich bitten darf. Ich kann schließlich auch nichts dafür!“ brüllte er sie an.
„Wie bitte?“ rief sie empört. „Sind Sie der Abteilungsleiter oder nicht?“ Es entbrannte ein heftiger Streit.
„Das bin ich, zugegeben. Aber da unten herrscht Chaos, genauso wie hier. Ich habe keine Ahnung, wer diesen Mist zu verantworten hat!“
„Und was machen wir nun mit dem Autounfall? Wo soll ich ihn denn hinstecken? Wir haben hier nicht einmal die Spur einer Infrastruktur. Wenn er Beamter gewesen wäre, wäre ja alles halb so schlimm. Aber wie bitteschön soll er hier Unternehmen beraten, wenn es noch gar keine gibt?“
„Ich weiß, ich weiß. Die Situation kommt mehr als ungelegen. Aber es bringt nichts, wenn wir hier rumbrüllen. Davon wird es nicht besser.“
„Das mag sein! Aber soll ich etwa sagen: „Alles nicht so schlimm! Herzlich willkommen, Herr Müller! So, dann wollen wir mal sehen, dass wir ein lauschiges Plätzchen für sie finden!“ ? Schwachsinn! Das geht vielleicht in zehn Jahren! Aber im Moment nicht! Schauen Sie sich mal hier um! Ich warte schon seit sieben Jahren auf meine blechernen Aktenschränke! Pustekuchen bisher! Ich kann mit dem Kerl nichts anfangen!“
„Ok, ok!“ Der Mann senkte seine Stimme und machte eine beschwichtigende Handbewegung. „So kommen wir ja nicht weiter. Ich übernehme die Verantwortung und bringe ihn runter in meine Abteilung und kümmere mich um ihn. Ist Ihnen das recht?“
„Sehr recht sogar! Dann kann ich mich endlich wieder meinen Akten widmen! Sie sehen ja, was ich für einen Haufen Arbeit vor mir liegen habe!“
„Na dann mal los“, sagte der Mann, wandte sich an Wolfgang, packte ihn sanft am Arm und zog ihn unter das Loch. „Kommen Sie mit. Das kriegen wir schon.“
Kaum stand er mit seinem neuen Begleiter unter dem Loch, breiteten sich um sie herum mit ohrenbetäubendem Getöse die Blitze aus und bald darauf spürte Wolfgang einen starken Sog, der ihn letztlich durch das Loch riss. Nach einer Sekunde Finsternis manifestierte sich um sie herum ein weiteres Büro, das dem der Kindsfrau bis aufs Haar glich, nur dass eben diese nicht mehr hinter dem Schreibtisch saß.
„Dies hier ist mein Reich!“, sagte der Schwarze, als sich der Lärm endlich gelegt hatte. „Sieht genauso aus wie das andere. Das wird auch so bleiben. Bis auf die Türen und Fenster, die hier noch eingebaut werden. Aber das machen wir zu allerletzt. Wir brauchen die ja nicht.“ Er stieß schallendes Gelächter aus. Offenbar hatte er soeben einen Witz gemacht.
Mit einer Mischung aus nicht weniger gewordener Verwunderung und einer gehörigen Portion entsetzter Angst blickte Wolfgang ihn an. War er etwa tot?
„Wer sind sie?“ fragte er.
Die Miene des Mannes wurde plötzlich bierernst.
„Sagen Sie bloß, das hat Ihnen die Alte nicht erklärt.“ Wolfgang erwiderte nichts.
„Na super. Das Weib ist dermaßen verbittert. Das dürfen sie ihr nicht übel nehmen. Aber eigentlich ist genau dieses Verhalten ihre Aufgabe. Paradox, nicht wahr?“
Wolfgang war weiterhin sprachlos. In seinem Kopf echote immer wieder das Wort „Autounfall“.
„Sie wissen anscheinend überhaupt nichts von dem, was hier vor sich geht.“ Der Schwarze Mann ging um seinen Schreibtisch. „Nehmen Sie Platz. Ich werde Sie jetzt einweihen.“
Wolfgang sah sich um.
„Hier ist kein Stuhl!“ stellte er fest und langsam keimte in ihm eine diffuse Wut, denn diesen Satz hatte er hier schon einmal fallen lassen müssen.
„Ach ja. Sehen Sie mir das nach“, kam die Entschuldigung, diesmal aber weniger unpersönlich. „Sie müssen wissen, wir haben erst vor nicht mal sechzig Jahren angefangen. Kommen Sie herum, wir setzen uns auf die Tischkante.“
Wolfgang folgte grimmig.
„Dies“, begann der Mann, „ist ein Ort, an dem vor Ihnen noch nie ein Mensch gewesen ist.“
„Und was sind sie?“ schoss es aus Wolfgang heraus. „Ein Rabe?“
Der Mann begann zu lachen. „Nein, bin ich nicht. Ich bin kein Tier. Meinen Chef könnte man im weitesten Sinne als Huftier bezeichnen. Aber ich bezweifle, dass sie Kenntnisse in mystischer Symbolik besitzen.“
„Da könnten Sie recht haben“, antwortete er umgehend und es kostete ihn eine Menge Kraft, nicht zu aggressiv zu klingen. Seine Ungeduld steigerte sich im Sekundentakt. Er wollte wissen, was hier gespielt wurde, doch gleichzeitig ließ ihn seine Angst nicht los, die ihn zwang, seinen Gegenüber nicht gegen ihn aufzubringen.
„Nun gut, fangen wir ganz von vorne an. Und gleich zu Beginn habe ich eine schlechte Nachricht für sie. Sie sind tot!“
Wolfgangs Kinnlade klappte herunter und seine Lippen begannen zu beben. „Ich bin... ich bin.... tot?“ wisperte er schockiert, auch wenn er mit diesem Gedanken vorher schon gespielt hatte.
„Ja. Tut mir leid“, bekräftigte der andere und legte Wolfgang die Hand auf die Schulter. „Damit müssen sie jetzt leben.“
Er fuhr mit seiner Erklärung fort. „Die schicksalhafte Wendung in der Geschichte der Menschheit war die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts – die Industrialisierung. Oder lassen sie es mich Deindividualisierung nennen. Wir in Himmel und Hölle hätten nie damit gerechnet, dass dieses Prinzip sich durchsetzen würde, aber in der Folge – das brauche ich ja nicht weiter zu erläutern – entstanden immer größere Fabriken, in denen immer weniger Leute einander kannten, was zur Folge hatte, dass profillose, unscheinbare Arbeitskräfte regelrecht gezüchtet wurden. Immer höhere Geldbeträge wurden umgesetzt und dadurch wurde das zugegebenermaßen bewundernswert ausgeklügelte Bankwesen nötig und all die anderen neuen Berufsbilder wie Unternehmensberater und so weiter. Sie wissen schon, all die englisch betitelten Berufe, die so schön wichtig klingen. Aber das für uns alle Verwunderlichste war, dass alle in Anzügen rumliefen. Niemals hätten wir gedacht, dass die Menschheit das mitmachen würde. Sicher, das Streben nach Sicherheit und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe war schon immer eine Charaktereigenschaft des Menschen. Aber dass sie alle in denselben Anzügen – und sie sehen alle gleich aus, kommen sie mir ja nicht damit, dass es verschiedene Marken, äh, Entschuldigung, Labels gibt – in ausschließlich trostlosen Farben herumlaufen und das auch noch akzeptieren würden, hätten wir uns beileibe nicht träumen lassen. Und genau diese Spezies Mensch machte uns in zunehmendem Maße Probleme hier in Himmel und Hölle.“
Der Mann rückte etwas näher und senkte seine Stimme. „Nehmen Sie das bitte nicht persönlich, aber kennen sie den Begriff „Graue Maus“?“ fragte er sanft.
Wolfgang zuckte zusammen und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, in denen mittlerweile Tränen funkelten. Natürlich kannte er diesen Ausdruck. Wieder legte ihm sein Gegenüber die Hand auf die Schulter.
„Ich weiß, dass das eine beleidigende Bezeichnung ist, aber leider trifft sie den Kern der Sache. Jedes Mal lassen sich diese Menschen für ein paar Stunden am Tag in den Zustand der Grauen Maus fallen, in dem sie von anderen kaum zu unterscheiden sind und in denen sie starren Ritualen und Vorschriften Folge leisten. Sie sind das vorläufige Ergebnis der Entwicklungen, die ich anfangs kurz erläutert habe. Das hier“, er machte eine raumgreifende Bewegung, „war ursprünglich für die Fabrikarbeiter gedacht, aber was sich danach entwickelte, zwang uns, uns den Grauen Mäusen zuzuwenden, und so leid es mir auch tut, Ihnen das sagen zu müssen, sie sind eine davon.“
Die Tränen glitzerten nicht mehr, aber Wolfgang war immer noch außer Stande, dem etwas zu entgegnen.
„Sie sind Teil einer neuen Spezies Mensch, mit der weder Gott noch Teufel etwas anzufangen wissen. Wie kann ich Ihnen das am Einfachsten erklären?“ sagte der Mann, nachdem er festgestellt hatte, dass sich Wolfgangs verständnislose Miene immer noch nicht entspannt hatte.
„Sehen Sie,“ startete er einen Versuch. „Jede Art von Güte oder Bosheit setzt ein gewisses Maß an Individualität voraus. Und dieses Maß wird bei Ihnen nicht erreicht.“
Doch der Versuch schlug fehl und der Schwarze Mann fuhr enttäuscht fort.
„Nun will ich Ihnen noch erklären, warum sie dieses Chaos vorgefunden haben. Gott und Teufel haben ein Abkommen getroffen, das besagt, dass für all die toten Grauen Mäuse eine dritte Welt neben Himmel und Hölle geschaffen wird, und in deren Ämtern und öffentlichen Einrichtungen Engel und Dämonen als Beamte arbeiten werden. In dieser Welt wird alles so sein wie in der Welt, aus der sie durch Ihr Ableben herausgerissen wurden. Hier soll übrigens das einzige Amt entstehen, dass es in Ihrer bisherigen Welt nicht gegeben hat, das Amt für Frischverblichene. Aber selbst hier, so haben sie ja schon festgestellt, gibt es Formulare und Ausweise. Es wird Ihnen also alles vertraut vorkommen. Leider sind Sie durch einen bedauerlichen Formfehler viel zu früh hierher geraten. Eigentlich wären sie noch in Himmel und Hölle gekommen. Wohin genau, weiß ich jetzt nicht, dazu fehlen mir die Informationen über Ihr Leben, sie werden das verstehen. Unglücklicherweise haben wir auch unser Aussehen noch nicht dahingehend ändern können, sodass sie sich von Anfang an heimisch fühlen. Die Frau, die sie empfangen hat, ist im Übrigen ein Engel und ich bin ein Dämon, aber das dürfte ja offensichtlich sein. Sie macht ihre Aufgabe mittlerweile schon ganz gut, auch wenn sie die Verbittertheit und die unfreundlichen Umgangsformen zuweilen etwas übertreibt. Ihre Frisur wird noch geändert, glatt, mit grauen Strähnen und mit Haarnadeln und so. Aber das könnte sich noch zu einem massiven Problem auswachsen. Finden Sie mal einen Friseur oder eine Friseurin, äh, Entschuldigung, einen Hairstylisten oder eine Hairstylistin, die als Graue Maus durchgeht. Und wenn der- oder diejenige nicht rechtzeitig stirbt, dann ist hier die Kacke am Dampfen. Dann werden wir zu unserem Bedauern nachhelfen müssen. Sie sehen also, es geht drunter und drüber. Diese Probleme haben wir hier haufenweise.“
Er lächelte und wartete auf eine Antwort von Wolfgang. Es vergingen mehrere Minuten betretenen Schweigens, in denen dieser fassungslos die Wand anstarrte.
„Was geschieht nun mit mir?“ fragte er schließlich mit leiser, brüchiger Fistelstimme.
„Darüber habe ich auch gerade nachgedacht und sie werden einsehen, dass wir improvisieren müssen und Ihnen nicht den Platz in der Gesellschaft anbieten können, den sie aus Ihrem Leben gewohnt sind. Allein schon deswegen, weil es noch überhaupt keine Gesellschaft gibt. Ich habe hin- und herüberlegt, aber es bleibt nur eines für Sie übrig. Sie werden hier den Laufburschen machen müssen.“
„Wie bitte?“ Wolfgangs Stimme war nicht sicherer geworden.
„Ich sagte ja bereits, das ist nicht das, was sie gewohnt sind, aber es bleibt Ihnen und mir keine andere Wahl. Ich werde veranlassen, dass hier extra für sie möglichst bald Türen und Treppen eingebaut werden, damit sie Ihrer Aufgabe nachkommen können. Solange müssten Sie aber in meinem Büro wohnen. Ich werde mich um ein Schlaflager für Sie kümmern.“
„Und wie lange wird das dauern?“ fragte Wolfgang gerade noch rechtzeitig, bevor ihn die Depression in ihre Arme schloss und die letzte Kraft zum Sprechen raubte.
„Ach, nicht lange. Höchstens siebzig, achtzig Jahre.“
 



 
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