Die Kraft der Angst
Obwohl der Winter noch drei Wochen bis zu seinem legitimen Machtantritt warten muß, ist es ihm in der vergangenen Nacht gelungen, den schon etwas kränkelnden Herbst zu überrumpeln und mit grimmiger Kälte in die weite Havelniederung einzubrechen.
So findet der Morgen die Landschaft plötzlich in klirrendem Frost erstarrt. Die Bäume und Sträucher, die das Flußbett säumen, sind mit einer dünnen Kruste aus kristallin glänzendem Rauhreif überzogen. Nur der Fluß selbst gibt sich unbeeindruckt. Mit feinen Dunstschwaden, die er von seiner Oberfläche aufsteigen läßt, täuscht er eine nicht vorhandene Wärme vor. Nein - er scheint noch nicht bereit, sich von einem lästigen Eispanzer einengen zu lassen. Nur an den Ufern hat der Frost einige hauchdünne Eisscheiben plazieren können. Doch die schäumende Bugwelle eines soeben vorbeifahrenden Schiffes läßt sie mit feinem Klirren zerschellen.
Es ist schon eine eigenartige Flottille, die in dieser frühen Stunde flußabwärts strebt. Der kleine Schlepper hat ein schmuckes Wohnschiff mit hellen Aufbauten am Haken. Dahinter folgt eine bullige Bauschute, an deren zernarbten Bordwänden unzählige Rostflecken die einzigen Farbtupfer ausmachen. Den Abschluß bildet ein plumper Stahlkahn, dessen Deck kaum einen halben Meter aus dem Wasser ragt. Sein Rudergänger steht im Freien, schutzlos der beißenden Kälte und dem Fahrtwind ausgesetzt. Da helfen weder der weit hochgeschlagene Kragen, noch die tief ins Gesicht gezogene Pudelmütze. Längst hat sich der Frost auch durch die dicke Wattekombination und die klobigen Filzstiefel genagt. Dieser junge Mann, der so abscheulich frierend seit Stunden an der Ruderpinne ausharrt, bin ich.
Ich gehöre zu einer Gruppe von Wasserbaulehrlingen, die von der Oberhavel nach Potsdam unterwegs sind. Solche Schiffsreisen sind als willkommene Abwechslung zum Baustellenalltag äußerst beliebt. Aber auf ein solch frostiges Vergnügen hätte man auch gern verzichtet.
Der schmale Fluß weist viele enge Krümmungen auf. Es ist für mich nicht einfach, meinen Kahn stets brav in der Kiellinie der Schute zu halten, aber mein Freund Achim, der diesen Seelenverkäufer steuert, und ich - wir sind ein eingespieltes Team.
Vorn ertönt das langgezogene Tuten des Schleppers, und fast gleichzeitig verlieren wir an Fahrt. Wir erreichen eine Schleuse, doch deren Einfahrtssignal steht auf Rot. Unser kleiner Verband muß im Vorhafen warten.
Die Schleppleinen werden eingeholt. Die Fahrzeuge legen hintereinander an. Aber der Platz am Landungssteg reicht nicht für alle. Während mein Vordermann gerade noch einen Poller zum Festmachen findet, gehe ich leer aus. Um mich herum nur Wasser und die bedrohliche Nähe des Wehrgrabens.
"Komm längsseits!" ruft mir Achim zu.
Aber wie denn? Ich habe ja kaum mehr Fahrt! Das Ruder reagiert nur noch ganz träge. Plötzlich bemerke ich, wie das Heck meines Kahnes bereits in die reißende Strömung des Wehrgrabens gerät. Fluchend greife ich zum Staken und versuche damit, dem gefährlichen Sog zu entkommen. Ohne Erfolg!
"Warte ich werfe dir eine Leine herüber!" schreit Achim, der die Gefahr ebenfalls erkannt hat. Schon schwingt er das Wurfseil.
Um die Hände beim Auffangen frei zu haben, ramme ich den Staken schräg in den Grund und verankere ihn, indem ich mir sein Griffstück in die Magengrube klemme und mich mit der Last meines Körpers dagegen stemme.
Achim wirft gut - aber ich Dussel greife daneben. Ich versuche nachzufassen, beuge mich dabei ein wenig seitwärts und... schon rutscht der Staken weg. Mit wild rudernden Armen kämpfe ich um mein Gleichgewicht. Vergeblich! Der Sturz ist nicht mehr aufzuhalten. In letzter Sekunde drücke ich mich wenigstens noch kräftig am Schiffskörper ab und verwandle somit den unausweichlichen Fall in einen einigermaßen geglückten Kopfsprung. Sein Schwung, unterstützt von ein paar kräftigen Schwimmzügen, bringt mich aus dem Bereich der tückischen Strömung und an die Oberfläche.
Das eiskalte Wasser spüre ich kaum. Ich schaue mich kurz um und muß feststellen, daß mein Kahn unweigerlich abtreibt. Für mich gilt es daher, die Schute zu erreichen. Der Weg dorthin ist nur kurz, aber da merke ich entsetzt, wie sich die dicken Wattesachen immer stärker vollzusaugen beginnen. Nur mit größter Kraftanstrengung gelingt es mir, den Kopf noch über Wasser zu halten. Quälend langsam nähere ich mich der Schute.
"Du schaffst es nicht!" fährt es mir durch den Sinn. Die Filzstiefel scheinen mit Quecksilber gefüllt. Unweigerlich zieht es mich nach unten.
Und zum ersten Mal in meinem Leben überfällt mich Todesangst. Sie schleicht sich nicht leise an, wie andere Ängste, die sich zunächst nur in der Bauchgegend einnisten, um sich erst später beklemmend auf die Brust zu legen und gleichzeitig dieses unbehagliche Kribbeln in den Haarwurzeln auszulösen.
Nein - diese Angst schlägt blitzartig zu - hart, brutal und übermächtig. Sie überschwemmt meinen Körper, dringt bis in den letzte Winkel meines Bewußtseins - aber sie lähmt mich nicht, sondern mobilisiert die letzten Reserven. Ich schwimme mit diesem Ballast aus vollgesogener Watte plötzlich mit einer Kraft, die ich nie in mir vermutet hätte.
Irgendwie gelingt es mir, die Schute zu erreichen. Doch die Bordwand ist zu hoch, das Deck unerreichbar. Der Puls jagt, das Atmen schmerzt, und das Gewicht der Kleidung läßt die hektischen Schwimmbewegungen immer wirkungsloser werden. Schon schlägt das eiskalte Wasser über meinem Kopf zusammen. Aus!
Doch da ist sie wieder, die Todesangst, mächtiger als zuvor. Ich weiß nicht wie, aber sie reißt mich noch einmal nach oben. Fahrig gleiten meine Hände an der die Bordwand entlang und finden schließlich eine größere Rostbeule, in die sich die erstarrten Finger verkrallen können.
Sekunden vergehen, endlos lange Sekunden. Doch plötzlich sind da Arme, die sich mir helfend entgegen strecken. Endlich! Augenblicke später liege ich triefend an Deck, völlig ausgepumpt, vor Kälte schlotternd - aber gerettet.
Am Abend wird der glückliche Ausgang meines Mißgeschicks ausgiebig begossen. Es ist eine fröhlich lärmende Runde, die sich dazu in der Messe des Wohnschiffes versammelt hat. Ich sitze zwischen meinen Freunden und feiere kräftig mit. Äußerlich bin ich genauso ausgelassen wie sie, aber tief in mir drinnen ist es still - verdammt still.
Obwohl der Winter noch drei Wochen bis zu seinem legitimen Machtantritt warten muß, ist es ihm in der vergangenen Nacht gelungen, den schon etwas kränkelnden Herbst zu überrumpeln und mit grimmiger Kälte in die weite Havelniederung einzubrechen.
So findet der Morgen die Landschaft plötzlich in klirrendem Frost erstarrt. Die Bäume und Sträucher, die das Flußbett säumen, sind mit einer dünnen Kruste aus kristallin glänzendem Rauhreif überzogen. Nur der Fluß selbst gibt sich unbeeindruckt. Mit feinen Dunstschwaden, die er von seiner Oberfläche aufsteigen läßt, täuscht er eine nicht vorhandene Wärme vor. Nein - er scheint noch nicht bereit, sich von einem lästigen Eispanzer einengen zu lassen. Nur an den Ufern hat der Frost einige hauchdünne Eisscheiben plazieren können. Doch die schäumende Bugwelle eines soeben vorbeifahrenden Schiffes läßt sie mit feinem Klirren zerschellen.
Es ist schon eine eigenartige Flottille, die in dieser frühen Stunde flußabwärts strebt. Der kleine Schlepper hat ein schmuckes Wohnschiff mit hellen Aufbauten am Haken. Dahinter folgt eine bullige Bauschute, an deren zernarbten Bordwänden unzählige Rostflecken die einzigen Farbtupfer ausmachen. Den Abschluß bildet ein plumper Stahlkahn, dessen Deck kaum einen halben Meter aus dem Wasser ragt. Sein Rudergänger steht im Freien, schutzlos der beißenden Kälte und dem Fahrtwind ausgesetzt. Da helfen weder der weit hochgeschlagene Kragen, noch die tief ins Gesicht gezogene Pudelmütze. Längst hat sich der Frost auch durch die dicke Wattekombination und die klobigen Filzstiefel genagt. Dieser junge Mann, der so abscheulich frierend seit Stunden an der Ruderpinne ausharrt, bin ich.
Ich gehöre zu einer Gruppe von Wasserbaulehrlingen, die von der Oberhavel nach Potsdam unterwegs sind. Solche Schiffsreisen sind als willkommene Abwechslung zum Baustellenalltag äußerst beliebt. Aber auf ein solch frostiges Vergnügen hätte man auch gern verzichtet.
Der schmale Fluß weist viele enge Krümmungen auf. Es ist für mich nicht einfach, meinen Kahn stets brav in der Kiellinie der Schute zu halten, aber mein Freund Achim, der diesen Seelenverkäufer steuert, und ich - wir sind ein eingespieltes Team.
Vorn ertönt das langgezogene Tuten des Schleppers, und fast gleichzeitig verlieren wir an Fahrt. Wir erreichen eine Schleuse, doch deren Einfahrtssignal steht auf Rot. Unser kleiner Verband muß im Vorhafen warten.
Die Schleppleinen werden eingeholt. Die Fahrzeuge legen hintereinander an. Aber der Platz am Landungssteg reicht nicht für alle. Während mein Vordermann gerade noch einen Poller zum Festmachen findet, gehe ich leer aus. Um mich herum nur Wasser und die bedrohliche Nähe des Wehrgrabens.
"Komm längsseits!" ruft mir Achim zu.
Aber wie denn? Ich habe ja kaum mehr Fahrt! Das Ruder reagiert nur noch ganz träge. Plötzlich bemerke ich, wie das Heck meines Kahnes bereits in die reißende Strömung des Wehrgrabens gerät. Fluchend greife ich zum Staken und versuche damit, dem gefährlichen Sog zu entkommen. Ohne Erfolg!
"Warte ich werfe dir eine Leine herüber!" schreit Achim, der die Gefahr ebenfalls erkannt hat. Schon schwingt er das Wurfseil.
Um die Hände beim Auffangen frei zu haben, ramme ich den Staken schräg in den Grund und verankere ihn, indem ich mir sein Griffstück in die Magengrube klemme und mich mit der Last meines Körpers dagegen stemme.
Achim wirft gut - aber ich Dussel greife daneben. Ich versuche nachzufassen, beuge mich dabei ein wenig seitwärts und... schon rutscht der Staken weg. Mit wild rudernden Armen kämpfe ich um mein Gleichgewicht. Vergeblich! Der Sturz ist nicht mehr aufzuhalten. In letzter Sekunde drücke ich mich wenigstens noch kräftig am Schiffskörper ab und verwandle somit den unausweichlichen Fall in einen einigermaßen geglückten Kopfsprung. Sein Schwung, unterstützt von ein paar kräftigen Schwimmzügen, bringt mich aus dem Bereich der tückischen Strömung und an die Oberfläche.
Das eiskalte Wasser spüre ich kaum. Ich schaue mich kurz um und muß feststellen, daß mein Kahn unweigerlich abtreibt. Für mich gilt es daher, die Schute zu erreichen. Der Weg dorthin ist nur kurz, aber da merke ich entsetzt, wie sich die dicken Wattesachen immer stärker vollzusaugen beginnen. Nur mit größter Kraftanstrengung gelingt es mir, den Kopf noch über Wasser zu halten. Quälend langsam nähere ich mich der Schute.
"Du schaffst es nicht!" fährt es mir durch den Sinn. Die Filzstiefel scheinen mit Quecksilber gefüllt. Unweigerlich zieht es mich nach unten.
Und zum ersten Mal in meinem Leben überfällt mich Todesangst. Sie schleicht sich nicht leise an, wie andere Ängste, die sich zunächst nur in der Bauchgegend einnisten, um sich erst später beklemmend auf die Brust zu legen und gleichzeitig dieses unbehagliche Kribbeln in den Haarwurzeln auszulösen.
Nein - diese Angst schlägt blitzartig zu - hart, brutal und übermächtig. Sie überschwemmt meinen Körper, dringt bis in den letzte Winkel meines Bewußtseins - aber sie lähmt mich nicht, sondern mobilisiert die letzten Reserven. Ich schwimme mit diesem Ballast aus vollgesogener Watte plötzlich mit einer Kraft, die ich nie in mir vermutet hätte.
Irgendwie gelingt es mir, die Schute zu erreichen. Doch die Bordwand ist zu hoch, das Deck unerreichbar. Der Puls jagt, das Atmen schmerzt, und das Gewicht der Kleidung läßt die hektischen Schwimmbewegungen immer wirkungsloser werden. Schon schlägt das eiskalte Wasser über meinem Kopf zusammen. Aus!
Doch da ist sie wieder, die Todesangst, mächtiger als zuvor. Ich weiß nicht wie, aber sie reißt mich noch einmal nach oben. Fahrig gleiten meine Hände an der die Bordwand entlang und finden schließlich eine größere Rostbeule, in die sich die erstarrten Finger verkrallen können.
Sekunden vergehen, endlos lange Sekunden. Doch plötzlich sind da Arme, die sich mir helfend entgegen strecken. Endlich! Augenblicke später liege ich triefend an Deck, völlig ausgepumpt, vor Kälte schlotternd - aber gerettet.
Am Abend wird der glückliche Ausgang meines Mißgeschicks ausgiebig begossen. Es ist eine fröhlich lärmende Runde, die sich dazu in der Messe des Wohnschiffes versammelt hat. Ich sitze zwischen meinen Freunden und feiere kräftig mit. Äußerlich bin ich genauso ausgelassen wie sie, aber tief in mir drinnen ist es still - verdammt still.