Die Kraft der Angst

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Kraft der Angst

Obwohl der Winter noch drei Wochen bis zu seinem legitimen Machtantritt warten muß, ist es ihm in der vergangenen Nacht gelungen, den schon etwas kränkelnden Herbst zu überrumpeln und mit grimmiger Kälte in die weite Havelniederung einzubrechen.
So findet der Morgen die Landschaft plötzlich in klirrendem Frost erstarrt. Die Bäume und Sträucher, die das Flußbett säumen, sind mit einer dünnen Kruste aus kristallin glänzendem Rauhreif überzogen. Nur der Fluß selbst gibt sich unbeeindruckt. Mit feinen Dunstschwaden, die er von seiner Oberfläche aufsteigen läßt, täuscht er eine nicht vorhandene Wärme vor. Nein - er scheint noch nicht bereit, sich von einem lästigen Eispanzer einengen zu lassen. Nur an den Ufern hat der Frost einige hauchdünne Eisscheiben plazieren können. Doch die schäumende Bugwelle eines soeben vorbeifahrenden Schiffes läßt sie mit feinem Klirren zerschellen.

Es ist schon eine eigenartige Flottille, die in dieser frühen Stunde flußabwärts strebt. Der kleine Schlepper hat ein schmuckes Wohnschiff mit hellen Aufbauten am Haken. Dahinter folgt eine bullige Bauschute, an deren zernarbten Bordwänden unzählige Rostflecken die einzigen Farbtupfer ausmachen. Den Abschluß bildet ein plumper Stahlkahn, dessen Deck kaum einen halben Meter aus dem Wasser ragt. Sein Rudergänger steht im Freien, schutzlos der beißenden Kälte und dem Fahrtwind ausgesetzt. Da helfen weder der weit hochgeschlagene Kragen, noch die tief ins Gesicht gezogene Pudelmütze. Längst hat sich der Frost auch durch die dicke Wattekombination und die klobigen Filzstiefel genagt. Dieser junge Mann, der so abscheulich frierend seit Stunden an der Ruderpinne ausharrt, bin ich.

Ich gehöre zu einer Gruppe von Wasserbaulehrlingen, die von der Oberhavel nach Potsdam unterwegs sind. Solche Schiffsreisen sind als willkommene Abwechslung zum Baustellenalltag äußerst beliebt. Aber auf ein solch frostiges Vergnügen hätte man auch gern verzichtet.

Der schmale Fluß weist viele enge Krümmungen auf. Es ist für mich nicht einfach, meinen Kahn stets brav in der Kiellinie der Schute zu halten, aber mein Freund Achim, der diesen Seelenverkäufer steuert, und ich - wir sind ein eingespieltes Team.

Vorn ertönt das langgezogene Tuten des Schleppers, und fast gleichzeitig verlieren wir an Fahrt. Wir erreichen eine Schleuse, doch deren Einfahrtssignal steht auf Rot. Unser kleiner Verband muß im Vorhafen warten.
Die Schleppleinen werden eingeholt. Die Fahrzeuge legen hintereinander an. Aber der Platz am Landungssteg reicht nicht für alle. Während mein Vordermann gerade noch einen Poller zum Festmachen findet, gehe ich leer aus. Um mich herum nur Wasser und die bedrohliche Nähe des Wehrgrabens.
"Komm längsseits!" ruft mir Achim zu.
Aber wie denn? Ich habe ja kaum mehr Fahrt! Das Ruder reagiert nur noch ganz träge. Plötzlich bemerke ich, wie das Heck meines Kahnes bereits in die reißende Strömung des Wehrgrabens gerät. Fluchend greife ich zum Staken und versuche damit, dem gefährlichen Sog zu entkommen. Ohne Erfolg!
"Warte ich werfe dir eine Leine herüber!" schreit Achim, der die Gefahr ebenfalls erkannt hat. Schon schwingt er das Wurfseil.
Um die Hände beim Auffangen frei zu haben, ramme ich den Staken schräg in den Grund und verankere ihn, indem ich mir sein Griffstück in die Magengrube klemme und mich mit der Last meines Körpers dagegen stemme.
Achim wirft gut - aber ich Dussel greife daneben. Ich versuche nachzufassen, beuge mich dabei ein wenig seitwärts und... schon rutscht der Staken weg. Mit wild rudernden Armen kämpfe ich um mein Gleichgewicht. Vergeblich! Der Sturz ist nicht mehr aufzuhalten. In letzter Sekunde drücke ich mich wenigstens noch kräftig am Schiffskörper ab und verwandle somit den unausweichlichen Fall in einen einigermaßen geglückten Kopfsprung. Sein Schwung, unterstützt von ein paar kräftigen Schwimmzügen, bringt mich aus dem Bereich der tückischen Strömung und an die Oberfläche.
Das eiskalte Wasser spüre ich kaum. Ich schaue mich kurz um und muß feststellen, daß mein Kahn unweigerlich abtreibt. Für mich gilt es daher, die Schute zu erreichen. Der Weg dorthin ist nur kurz, aber da merke ich entsetzt, wie sich die dicken Wattesachen immer stärker vollzusaugen beginnen. Nur mit größter Kraftanstrengung gelingt es mir, den Kopf noch über Wasser zu halten. Quälend langsam nähere ich mich der Schute.

"Du schaffst es nicht!" fährt es mir durch den Sinn. Die Filzstiefel scheinen mit Quecksilber gefüllt. Unweigerlich zieht es mich nach unten.
Und zum ersten Mal in meinem Leben überfällt mich Todesangst. Sie schleicht sich nicht leise an, wie andere Ängste, die sich zunächst nur in der Bauchgegend einnisten, um sich erst später beklemmend auf die Brust zu legen und gleichzeitig dieses unbehagliche Kribbeln in den Haarwurzeln auszulösen.
Nein - diese Angst schlägt blitzartig zu - hart, brutal und übermächtig. Sie überschwemmt meinen Körper, dringt bis in den letzte Winkel meines Bewußtseins - aber sie lähmt mich nicht, sondern mobilisiert die letzten Reserven. Ich schwimme mit diesem Ballast aus vollgesogener Watte plötzlich mit einer Kraft, die ich nie in mir vermutet hätte.

Irgendwie gelingt es mir, die Schute zu erreichen. Doch die Bordwand ist zu hoch, das Deck unerreichbar. Der Puls jagt, das Atmen schmerzt, und das Gewicht der Kleidung läßt die hektischen Schwimmbewegungen immer wirkungsloser werden. Schon schlägt das eiskalte Wasser über meinem Kopf zusammen. Aus!
Doch da ist sie wieder, die Todesangst, mächtiger als zuvor. Ich weiß nicht wie, aber sie reißt mich noch einmal nach oben. Fahrig gleiten meine Hände an der die Bordwand entlang und finden schließlich eine größere Rostbeule, in die sich die erstarrten Finger verkrallen können.
Sekunden vergehen, endlos lange Sekunden. Doch plötzlich sind da Arme, die sich mir helfend entgegen strecken. Endlich! Augenblicke später liege ich triefend an Deck, völlig ausgepumpt, vor Kälte schlotternd - aber gerettet.

Am Abend wird der glückliche Ausgang meines Mißgeschicks ausgiebig begossen. Es ist eine fröhlich lärmende Runde, die sich dazu in der Messe des Wohnschiffes versammelt hat. Ich sitze zwischen meinen Freunden und feiere kräftig mit. Äußerlich bin ich genauso ausgelassen wie sie, aber tief in mir drinnen ist es still - verdammt still.
 

Oktober

Mitglied
Schulaufsatz

Hallo Ralph!
Liest sich ganz gut, diese Geschichte. Stilistisch ganz in Ordnung. Zumindest kann man es lesen, ohne zu stolpern.
Allerdings: Irgendwie riecht das alles nach dem guten alten Aufsatzthema: "Ein aufregendes Ferienerlebnis."
Es wird nichts beschrieben, was den Leser richtig fesseln könnte. Alles nur lauwarm - sozusagen.

Oktober
 

Andrea

Mitglied
5 von 10 Punkten

Gutes Mittelmaß, aber leider nicht mehr. Die Beschreibungen am Anfang sind m.E. etwas zu lang geraten. Wenn du erst eine Seite lang einen Ort beschreibst, der eigentlich nur fürs Vorüberziehen gut ist, nimmt das die Spannung weg. In einer Kurzgeschichte solltest du besser gleich mit deiner Hauptfigur anfangen, denn du hast nicht endlos Zeit.

Wenn du dann den Todeskampf beschreibst - irgendwie muß ich dabei an einen x-beliebigen Actionfilm aus den USA denken, an diess Stellen, wenn der Held kurz vor Petrus Pforte steht und ihm dennoch ein ungemein cooler Spruch einfällt. (Das Beispiel ist ein bißchen krumm, zugegeben.) In solchen Situationen frage ich mich immer: wie kommt der da ausgerechnet jetzt drauf? Hat sein Hirn nicht was Besseres zu tun?
Du schreibst im Präsens. Es soll also Unmittelbarkeit herrschen. Dann aber formuliert dein Held so schöne ausgeprägte Sätze - das nehme ich ihm einfach nicht ab. Entweder solltest du Elipsen einfließen lassen, seine Gedanken direkter bannen, das Tempus ändern (aber das würde den noch vorhandenen Schwung aus dem Text nehmen) oder aber in der dritten Person schreiben (was ich nicht empfehlen würde). Also doch Elipsen.
 

urte

Mitglied
Kraft

Hallo, Ralph,
Ich kann zu der Schreibweise gar nichts groß sagen, ich finde die bisherige Kritik aber reichlich hart. Ich habe jedenfalls ganz gebannt von Anfang bis Ende gelesen und war selber halb ertrunken und vereist. Abstrakt gesagt: Ich fand das Erlebnis sehr authentisch geschildert. (Diesmal konnte ich als Leserin nicht umhin, mich zu fragen, ob nicht der Ich-Erzähler mit dem Autor identisch ist, denn bei Deinem Beruf könnte man es fast glauben - und in diesem Fall wäre die nahegelegte Interpretation wohl auch nicht peinlich für Dich). Was ist ein Wehrgraben?
Viele Grüße, Urte
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo ihr Drei,
erst mal vielen Dank für eure Reaktion auf meine - ich gebe es zu - völlig authentische Geschichte, in der natürlich der Autor mit dem Protagonisten identisch ist. Es handelt sich hier zwar um kein Ferien- aber um ein etwas ungewöhnliches Arbeitserlebnis.
Was die Länge des Anfangs angeht, da hast Du, Andrea, sicherlich recht. Er eignet sich wohl eher für eine etwas breiter angelegte Erzählung, doch für eine solche war der Stoff dann wohl zu dürftig. Weiter schreibst Du über die schönen ausgeprägten Sätze, die dem Unglücksraben ausgerechnet in dieser Situation einfallen. Der Vergleich mit der Ausdrucksweise eines USA-Action-Film-Helden hat mich - zugegeben - mächtig gewurmt, weil mir deren coolen Sprüche auch auf die Nerven fallen. Nun - dessen war ich mir beim Schreiben nicht bewußt. Natürlich ist mir, während ich in der kalten Brühe herum gepaddelt bin, nie der Unterschied zwischen "normalen Ängsten" und der erstmals unmittelbar erlebten Todesangst eingefallen. Das kam erst später. Vielleicht hätte ich im Präteritum schreiben sollen? Ich werde aber an der Geschichte nicht mehr herum doktern. So wichtig ist sie mir nun auch wieder nicht. Ich werde aber in Zukunft auf solche Dinge achten. Das Stichwort "konstruktive Kritik" taucht immer wieder in der Leselupe auf - hier hat sie stattgefunden. Danke.
Nun zu Urtes Frage: "Was ist ein Wehrgraben?"
Flüsse werden häufig durch Wehre abschnittsweise angestaut. Ein Grund dafür (es kann deren viele geben) liegt darin, für die Schiffahrt ausreichende Fahrwassertiefen (Tauchtiefen) zu erreichen. Da ein solches Wehr natürlich gleichzeitig ein unüberwindbares Hindernis darstellt, muß stets eine Schleuse mit vorhanden sein. Bei kleinen Flüssen (z.B dem Oberlauf der Havel) hat man die Schleusen oft direkt in das Flußbett hinein gebaut. Da das ankommende Flußwasser nicht über die Schleuse abgeleitet werden kann, wird es in diesen Fällen um diese herum geführt. Diesen Umleiter, in dem auch das Stauwehr steht, nennt man häufig Wehrgraben. Er liegt sozusagen im Nebenschluß des eigentlichen Flußverlaufes und besitzt oft eine starke Strömung. Bei größeren Flüssen bzw. Strömen (z.B. Mosel, Weser, Donau usw.) werden andere Bauweisen angewendet.
Ich glaube, das war lang und hoffentlich auch verständlich genug.

Übrigens bin ich sehr froh, daß Du nicht wirklich ertrunken bist. Und sollte dir tatsächlich kalt geworden sein, dann hast du dich vielleicht bei einer Tasse Tee (aus Brunos Samowar?) längst wieder aufwärmen können. ;-)

Gruß Ralph.
 
M

MaConrath

Gast
Ich fand die Geschichte vom Plott her spannend, weil sie authentisch wirkt. Das hast du ja bestätigt. Meine Kritik setzt bei den Stilmitteln an. Ich hätte mir gewünscht, dass du die anfängliche Perspektive beibehältst. Die Magie, die du in den ersten beiden Absätzen aufbaust, wird zerstört, in dem du dich zu erkennen gibst. Ab dem Moment fällst du stilistisch stark ab - und die Magie ist dahin. Dennoch war der Spannungsbogen für mich noch stark genug, um bis zum Ende zu lesen. Wichtig für mich: Du erklärst, dass du Todesangst hast, due erzählst es nicht!!!
Diese Geschichte verdient eine (mehrere) Überarbeitungen!! "Kraft der Angst" kann richtig gut werden. Wenn dich Vorschläge meinerseits interessieren - sag einfach Bescheid.


Viele Grüße und gutes Schreiben

Martin Conrath
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Martin,
danke für Deine hilfreiche Kritik und Dein Angebot. Ich habe mal länger darüber nachgedacht. Es gibt nach der Einleitung tatsächlich einen Bruch. Ich überlege, ob ich es nicht mal versuche, das Ganze in der 3. Person zu schreiben. Das wirkt dann zwar nicht mehr so authentisch, aber mal sehen , was dabei heraus kommt. Solltest Du noch andere Vorschläge haben, wäre ich Dir natürlich sehr dankbar.
Gruß Ralph
 

urte

Mitglied
Angst

Hallo Ralph, leider habe ich Deine Antwort erst mit dreieinhalbtätiger Verspätung hier gefunden. Danke, auch für die Erklärung. Ja, Samowar. Und gut, daß nicht Du damals ertrunken bist!! Ich kannte "Wehrgraben" nur als stehendes Gewässer um Wasserburgen herum. Im Prinzip hatte ich aber richtig verstanden, da die Schilderung ja sehr genau ist. (Man sollte ja nicht soviel auf das Inhaltliche eingehen, aber demnächst mal wieder anders).
Herzliche Grüße, auch an den Spreewald. Urte
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ralph,

die ersten beiden Absätze sind sehr gut. Es stimmt schon, dass sie mit ihrer Ausführlichkeit dem Leser einen andere Gangart erwarten lassen, aber als Abschnitt in Deiner Biographie ist dieses Textlein ganz bestimmt ein spannender Bereich.
Neben den restlichen grandiosen Erlenbnissen Deines Lebens natürlich!

cu
lap
 



 
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