Matthias Kohm
Mitglied
DIE LIEBE, EIN NISCHENPRODUKT
´Die wirklich großen Erfolge verdanken sich nicht großen Anstrengungen, sondern der bedingungslosen Hingabe an die vorgezeichnete Lebensbahn.`
Diese schöne Sentenz formt sich in meinem Köpfchen, während ich ihn aus dem Bühnenaufgang heraus recke. Ich werfe einen ersten Blick in die Stätte meines baldigen Triumphes – der Maestro und ich planen für heute eine Welturaufführung, nichts weniger, als die Geburt einer neuen Kunstform – und mache einen formvollendeten Diener. Schon diese kleine Aktion wird mit aufrauschendem Beifall im noch spärlich gefüllten Saale der Berliner Philharmonie belohnt! Das lässt vieles hoffen.
Eigentlich wollte ich nur kurz sehen, ob SIE und ER auch heute wieder in der fünften Reihe säßen wie bei meinen letzten Auftritten – doch dann lockt mich der Beifall und ich bleibe länger auf der Bühne, um den Applaus zu genießen. Und wie ich die Reihen der spendenfreudigen Seelentröster mustere, durchzuckt mich ein Schreck: Nicht nur, dass SIE und ER wieder einen Platz eingenommen haben – nein, die beiden scheinen sich vervielfältigt zu haben: In jedem Block sehe ich schier identische Pärchen sitzen, Mütter und Söhne, sehr, sehr ehrgeizige Mütter und sehr, sehr knetbare Söhne, die sicher nicht nur des zu erwartenden Kunstgenusses wegens hier sitzen. Die frenetisch applaudierenden Haus-frauen, die gleichmäßig verteilt um die Bühne herum sitzen, die mich von hinten, von oben, von vorne, von der Seite aus betrachten – sie denken an ihre eigenen Söhne, während sie mich beklatschen. Ihr Beifall mag mir gelten, ihre Herzen jedoch schwärmen in der Zukunft ihrer eigenen Bälger herum; an meine Stelle wünschen sie sich ihre Knaben: Das sehe ich mit einem Blick.
´Nun gut`, denke ich, ´so etwas nennt man gemeinhin eine Aufgabe! Muss ich ihnen halt zeigen, wo die Musik spielt! In zwei Stunden werden diese Mütter mitleidig auf ihre Söhne blicken und werden kleinere Zukunftshoffnungsbrötchen backen!
Gestärkt verlasse ich die Bühne. Ich liebe zyklische Formen, allein deshalb recke ich beim Abtritt meinen Kopf aus dem Bühnenaufgang heraus wie beim Auftritt, eine Geste, die etwas Niedliches und Gewinnendes an sich haben muss – so schließe ich wenigstens aus dem Gelächter, ein wärmender Hintergrund für mein Interesse, das sich nun ganz auf SIE und IHN fixiert.
Wenn Gefahr droht, dann von diesen beiden. Die meinen es ernst. Das sind keine Eintagesträumer. Bei denen ist der Traum chronisch geworden und hat sich zum Plan verfestigt. Das machte sie zu langfristig planenden Strategen. Während das eigentliche Galapublikum sich noch mit einem Gläschen Sekt auf die kommende geistige Anstrengung vorbereitet, saugt ER, ein zugegeben süßer Knopf mit Fliege und Blazer, tief die Atmosphäre des Raumes in sich hinein, hat SIE wieder das „Große Buch“ auf ihrem Schoß liegen, eine große Kladde, ein schmuckloses Haushaltsbuch, worin sie die Begleitumstände meiner Auftritte detailgenau vermerkt. Auf der linken Seite stehen die Kosten für Eier, Milch und Stopfgarn, rechts die für Eintrittsgelder, Garderobe und Programm.
Ob die beiden schon beim dritten oder erst beim achten meiner Auftritte die Zahl meiner Zuschauer vermehrten, kann ich nicht sagen. Sicher ist: Nachdem ich sie das erste Mal wahrgenommen hatte, entdeckte ich sie bei allen folgenden Auftritten. Sehr viele waren es noch nicht; meine Karriere besitzt ein ungeheures Tempo – auch in dieser Hinsicht empfinde ich mich als überaus zeitgemäß. Wie immer führt ihr Versuch, sich dem Anlass gemäß zu kleiden zu den komischsten Ergebnissen; ihr Reservoir an diesbezüglichen Peinlichkeiten scheint unausschöpflich. Heute trägt SIE in Erwartung der Nerzkragen der Westberliner High Society eine Pelzstola, der klobige Kopf eines aus der Entfernung nicht erkennbaren Tieres baumelt über ihrer mächtigen Brust, ´vielleicht sogar Ratte`, denke ich, schaudere und verlasse die Bühne.
«Kannst es gar nicht erwarten, die Katakomben zu verlassen!»
Ein junger Mann ist es, der mich so von hinten anspricht. Ich wende mich um und sehe in das Gesicht eines Menschen, der glaubt, gerade witzig gewesen zu sein. Ich schenke ihm das müde Lächeln, das er sich ehrlich verdiente.
Es ist ein geliehener Geiger, ein langer Schlaks, einer von der nervösen Sorte mit Pickeln im Gesicht, der heute die zweiten Geigen verstärken darf am letzten Pult. Auch Aushilfen haben ihre Sternstunden, die machen nervös und die Nervosität will er nun überspielen mit faden Witzchen. Nicht mit mir Freundchen! Der Backstage-Bereich von Scharouns Prachtbau hat nichts gemein mit Katakomben. Es sind durchaus nüchterne, beinahe schäbige Räume, denen alles Weihe - oder Geheimnisvolle abgeht.
Der Leihgeiger wandelt dennoch ehrfürchtig durch die Gänge. Trotz meiner Jugend konnte ich schon feststellen, dass der mittelmäßig Begabte sich nur schwer mit der Geistlosigkeit und Profanität abfinden kann, die der Humus ist, aus dem die göttliche Gewalt der Tonkunst herauswächst. Mir ist gerade diese Verbindung heilig. Wenn die Posaunisten nach ihrem mauern - und seelensprengenden Einsatz ihre Instrumente umdrehen und den Speichel heraus schütteln, wenn sie danach säuisch routiniert die Spuckepfützen verwischen: dann wird für mich ihr gewaltiger Choral quasi nachträglich geheiligt. Transzendenz ohne Verbindung zur Materialität der Welt ist und bleibt doch ein blutleeres Unternehmen. Für mich wird folglich auch das Wirken unseres großen Meisters – ein wahrhaft angemessenes Wort, auch wenn er selbst mich nur um die Größe seines scharf gemeißelten Kopfes überragt – durch die Ferraris und den Sportflugzeugen, denen seine zweite Leidenschaft gilt, zusätzlich geadelt. Jeder Versuch, diese angeblich allzu materiellen Vorlieben des Meisters zu einem seine Künstlerernsthaftigkeit in Frage stellenden Verdacht aufzubauschen, stößt in mir auf einen erbitterten Widersacher.
Könnte ich das dem Leihgeiger vermitteln? Der was murmelt von „diesen heiligen Hallen?“ und dass er, nervositätsgeschüttelt und gerüttelt schon einmal an seinem Testament arbeite, seinem – tatsächlich! Musikerhumor! – „Heiligenstädter Testament“ ?
Ich glaube nicht.
Er fiedelt die unspielbare Stelle im dritten Satz von Mahlers Neunter im Stile von Etüden, er fiedelt sie sicherlich das hundertste Mal, Stunden härtester Körperknechtung bedurfte es, diese musikalisch unbedeutenden Girlanden den widerspenstigen Muskeln und Nerven einzubimsen. Nachher werden diese Bocksprünge und Teufelstriller untergehen im Blech, so, wie sein Beitrag untergehen wird im Tutti der zweiten Geigen. Was bleibt ihm, dem doppelt Verlorenen, also übrig, als die Göttlichkeit der Kunst anzurufen, wo doch sein weltlicher Beitrag unhörbar bleiben wird?
Ich lass´ ihn stehen. Ich muss mich in Ruhe vorbereiten.
„Die wirklich großen Erfolge verdanken sich nicht großen Anstrengungen, sondern der bedingungslosen Hingabe an die vorgezeichnete Lebensbahn“: Diesen Satz wahrhaft zu erfassen – das sind so die Etüden, die mir aufgegeben sind. Also denke ich an mich als noch kleineres Kind, in dem das alles anfing.
In Familien wie der unsrigen ist der Erstgeborene traditionell ein Fels in den Wirren des Lebens; ihm ist es aufgetragen, den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Der Zweitgeborene dagegen muss ein Findling sein, aufgestellt in einem Noch-Niemandsland, seine Einzigartigkeit ist sein größtes Startkapital. Vom ersten Tag an wurde mir also meine Einzigartigkeit eingebleut. Es durfte mich nicht oft geben. Nur so konnte ich platziert werden in einer exclusiven, gleichzeitig seriösen Branche. Eine Spinnerexistenz wie Vertrieb von Elektronengehirnen oder Tragbaren Telephonen war für mich nicht vorgesehen. Ich als Zweitgeborener war für Besseres bestimmt.
Juwelier. Rauchwaren. Vertragshändler von Porsche. Händler mit klassizistischen Möbeln aus der Goethezeit. Dies – grob umrissen – die Zukunftshoffnungen der Eltern. Mit wenigen Worten: Ich sollte vom Wesen her werden, was ich vom Pass her schon war: Ein Schweizer. Ich sollte unter den Menschen das sein, was die Schweiz unter den Staaten ist.
Mittendrin, aber außen vor.
Einzigartig, aber stinknormal
Teilnehmer, aber passiv
Neutral, aber eindeutig positioniert
Klein, aber oho!
Weltbürger, aber Spießbürger
Blitzsauber, aber Dreck am Stecken, dass es nur so kracht.
Die Eltern konnten es also nicht zulassen, dass man mich verwechseln könnte. Von früh auf wurden mir die Gefahren vor Augen geführt, die auf Kinder ohne Alleinstellungsmerkmal lauern. Hat man seine Einzigartigkeit verloren, greifen die Eltern ein falsches Kind aus dem Getümmel eines Kindergeburtstages und bemerken erst zu Hause das Missgeschick. Da würde ich dann schön blöd gucken, wenn sie den Michael nehmen würden statt mich! Wenn dann der Michael Papa sagen würde zu Papa und Mama zu Mama. Aber dann wär`s halt zu spät; dann könne man halt nichts mehr machen. Dann würde halt der Michael mit meinen Spielsachen spielen, dann würde halt der Michael meine Sammlung von Solitären – meine Brüder in der Welt der Dinge – pflegen, meine Blaue Mauritius bewundern, meinen Henrystutzen wienern, Dagoberts Glückstaler ins Samtkästchen legen.
Eltern können ja nicht verhindern, dass ihre Kinder auch von anderen geliebt werden. Sie wollen es auch nicht verhindern, im Abglanz fällt ja auch Liebe auf sie zurück. Aber die anderen lieben immer etwas Falsches. Die Liebe der anderen zu mir fußte auf einem Irrtum, nur irrtümlich wurde ich geliebt; das war gar nicht wirklich ich, der da geliebt wurde. Das Deutungsmonopol auf ihre Kinder lassen rechte Eltern sich nicht nehmen. Nur als meine Fälschung ging ich in den Kindergarten, in die Schule, in die Welt. Mein echtes Ich blieb immer bei Mama. Ging Mama ins Geschäft, nahm sie mein echtes Ich mit, vermutlich in ihrer unbegreiflich großen Handtasche aus Kroko. Ich blieb als mein Doppelgänger zu Hause. Mama hatte mich immer bei sich – kein Wunder, dass sie es nie nötig hatte, jemals zu mir zu kommen.
Dies der Grund, weshalb ich auch heute, bei der großen Gala vergeblich nach meiner Mutter Ausschau halten werde. Ihr Sitz in Block A, eine Freikarte, die ich ihr zukommen ließ, wird frei bleiben. Der Verzicht auf ein gemeinsames Gläschen mit dem Regierenden Bürgermeister, den drei geladenen Alliierten Stadtkommandanten und besonders mit Curd Jürgens und Gunther Sachs muss ihr sauer werden – ´doch halt,` so fährt´s mir durch den Kopf, vermutlich wird sie genau darauf nicht verzichten! Vermutlich steht sie jetzt gerade im Foyer und wird ein Gläschen in froher Runde nehmen, um dann, während der Aufführung, fröhlich als Solistin weiter zu süffeln.`
Die Aufführung selbst wird auf ihr Beisein verzichten müssen. Sie findet mein Gehabe, das alle Welt so hinreißend findet, einfach nur äffisch und närrisch und kann es nicht mit ansehen. Sie wird den Büfettdamen Bilder von mir als sehr kleines Kind zeigen und wird sehnlichst die Pause erwarten, um dann im Tutti weiter zu trinken.
Nun, es wird keine Pause geben, lächle ich in mich hinein und widerstehe der Versuchung, schnell ins Foyer zu rennen, um meinen Verdacht zu erhärten. Ein Künstler muss sich kalt machen können. Der Künstler hat sich ja entschieden, eher von der Menschheit geliebt zu werden als von einzelnen Menschen. Ich muss mich auf Mahlers Neunte vorbereiten, die pausenlos auf die Fledermaus-Ouvertüre folgen wird. Danach werden pausenlos die Zugaben beginnen, worauf sich unsere Uraufführung anschließen wird. Dann wird Mutter sich zum großen Schlussbeifall in die erste Reihe schieben, um sich auf´s Pressephoto zu schmuggeln.
Den Beifall, den ich erhalte, ist das, was sie wirklich liebt an mir.
Im Gang laufe ich dem Leihgeiger in die Arme. Seine Akne blüht und es ist ganz offensichtlich, dass er nach Gelegenheiten sucht, seine Nervosität wegzuschwätzen.
Da bleibt nur Flucht. Ich öffne die Tür des Künstlerzimmers und werfe sie sofort hinter mir zu mit der mir eigenen lässigen Handbewegung, die mir schon den einen oder anderen Feind beschert hat.
Die Künstlerzimmer in der Philharmonie zeichnen sich durch dieselbe Sprödigkeit aus wie der gesamte Funktionsbereich in Karajans Wunderzirkus. Eine Couch, einen Flügel oder ein Klavier, schmucklosen Teppichboden, und einen großen Spiegel – mehr gibt es nicht.
Auf dem Notenpult liegt mein Arbeitsmaterial, ein Fläschchen Sinalco steht bereit, meine Abendgarderobe hängt frisch gebügelt auf dem Kleiderständer.
Ich schlage die Partitur von Mahlers Neunter auf – natürlich das Faksimile der Handschrift. Mit den handelsüblichen Materialien arbeite ich grundsätzlich nicht, muss man doch meine Kenntnisse der Notenschrift als rudimentär bezeichnen. Den Violinschlüssel beherrsche ich noch, doch schon beim Baßschlüssel wird es eng und Alt- und Tenorschlüssel und die Existenz transponierender Instrumente empfinde ich als die Zumutung, die sie bei Lichte gesehen doch auch sind. Nichts als der Versuch, ein Geheimwissen aufzubauen, Überbleibsel magischer Rituale, die nur Eingeweihten zugänglich sein sollen. Künstlich aufgebaute Hürden, durch die Sache kaum zu rechtfertigen – nein, sie zu überspringen ist meine Sache nicht. Ich geh um sie herum, schaue zu, wie andere sich recken und strecken und staune über den Schweiß, den sie dabei vergießen. Ich pflege lieber meine Begabung. Im Lesen der Handschriften, ach, was sag ich lesen, im Überfliegen, im Erschnuppern, im Erfühlen reicht mir keiner so schnell das Wasser. Jede kleinste modale Regung lese ich dem Geschmiere ab, jedes Sollen, Wollen, Müssen und Dürfen – ja ganz besonders das Dürfen, ganz besonders im Erkennen und Darstellen des Dürfens bin ich ein Meister; ich bin ein Spezialist für das Dürfen in der Musik.
Und mit überschießender Dankbarkeit denke ich an zu Hause, an meine Erziehung, an all die Maßnahmen der Eltern, denen ich mein Hiersein recht eigentlich verdanke.
Die wenigsten Eltern sind ja ihren Kindern gewachsen. Meine immerhin verzichteten weitgehend auf das Ausleben der Rachegefühle, die vom Spielen kleiner Kinder unweigerlich provoziert werden. Sie ließen mich wenigstens allein. Sie schlossen die Tür mit lässigen Handbewegungen und ließen mich spielen. Sie ersparten sich durch ständiges Arbeiten den Anblick des ständig spielenden Kindes. Nur verbal zerkleinerten sie meine Welt. Sie führten das Wörtchen „Nur“ in mein Leben ein, ein Wort, klein genug, um überall dabeizustehen und alles mit dem Geruch der Vorläufigkeit zu überziehen.
Ich spielte ja nur.
Ich tat ja nur so.
Ich weinte ja nur.
Ich übte doch nur, lernte doch nur, schwätzte doch nur. Ich deckte doch nur den Tisch und mein Gebet war nur ein Kindergebet und meine Liebe nur die Kinderliebe und Mama konnte selbst die Mutterliebe besser noch als ich.
Die Kindheit, ein Dauerprovisorium.
Nein, im Bereich der Vollverben war nichts zu finden, das dem Nur entkommen konnte, das dem Ernst sich näherte.
So wurde Platz geschaffen für das Reich der modalen Hilfsverben, in dem meine Erziehung sich wesentlich abspielte.
Gelernt habe ich nichts, nicht Fahrradflicken, nicht Schuhe binden und keine Hühner füttern. Doch im abstrakten Reich des Müssens, Wollens, Sollens, Dürfens, Könnens, Mögens, Lassens, Brauchens: Da herrsche ich wie kein Zweiter.
Bis heute kann ich nicht Auto fahren oder Steuern erklären, aber ich kann das Wollen sollen. Ich sollte wollen können. Sogar müssen dürfen beherrsche ich, und in guten Momenten kann ich sogar lieben modal gebrauchen, wie im poetischen alten Deutsch.
Ich lasse das Bild von Mahlers Rohschrift auf mich wirken, blättere die Seiten, staune über diese Unzahl an Noten, aber hüte mich vor jeder Vertiefung in den Gegenstand.
Ich bin zuständig für das, was man aus einem Meter Entfernung sieht: Für diesen doppelten Punkt, in dem vornehme Distanz und vornehme Nähe zusammenfallen bin ich zuständig.
Vor der Tür hat der Leihgeiger scheinbar Gesellschaft gefunden, eine zweite zweite Geige beweist mit ihm die Unspielbarkeit der schweren Stelle aus dem dritten Satz.
Was bin ich froh, dass eine Schallschutztür zwischen uns ist! Zwei Geiger, die dasselbe spielen, gibt es ja nicht, Geiger werden erst in größeren Gruppen wieder verträglich, wenn die Rechthaberei der einzelnen Stimmen sich zu dem Durchschnittsgemenge vermischt, den man in Musikerkreisen schmunzelnd Streicherglanz nennt.
Dann schweigen ehrfurchtsvoll zwei zweite Geigen vor der Tür.
Dann tritt er ein.
Dann schließt er die Tür mit einer lässigen Handbewegung und ich begrüße ihn, wie nur ich ihn begrüßen darf:
„Hallo Heribert“, sage ich und Heribert grüßt mit einem milden Lächeln zurück.
Karajan hatte ja frühzeitig erkannt, dass Heribert als Name dereinst in einer Reihe mit Emil, Erwin oder Otto stehen würde, Namen, tauglich nur für Witzfiguren. Unsentimental hatte er eingegriffen und das „i“ aus seinem Vornamen verbannt, genauso wie das „Riter“, das sein \"von\" noch auf der Geburtskunde aufwerten sollte. Ich jedoch darf, nein: soll ihn so nennen, wie seine Mutter ihn einst taufte.
Er selbst hatte sich mir unter diesem Namen vorgestellt, an jenem denkwürdigen Tag meiner Entdeckung, meiner zufälligen Entdeckung, wie die Neider sagen, die nicht wissen, dass Zufall in meiner Sprache Schicksal heißt.
Heriberts und meine Bekanntschaft rührte von einer Feier, zu der meine Familie geladen war in ein vornehmes Haus im vornehmen Teil von Thun. Der Jubilar, ein drahtig gebliebener weißhaariger Egomane, Architekt einer äußerst gemäßigten Moderne, hatte zu seinem Sechzigsten groß geladen. Die Gästeliste las sich wie ein Who is Who der Kantone Bern, Wallis und Oberwalden. Der Gastgeber hatte mit Karajan gemeinsam im Salzburger Konservatorium seine musikalische Grundausbildung erhalten, hatte dann auch mit ihm ein Semester Technik an der Alma mater zu Salzburg gehört und gleichzeitig mit Karajan hatte auch er den Entschluss gefasst, auf die künstlerische Seite der Welt zu wechseln. Nun besaß er alles, was man sich wünschen kann, ein gut gehendes Architekturbüro, eine Villa, eine junge Frau, blühende Kinder und als Zugabe des heutigen Abends eine Duzbekanntschaft mit dem großen Herbert von Karajan.
Der Abend nahm seinen vorhersehbaren Lauf, Reden, Büfett, Reden, Musik, Karajan in der Mitte des Geschehens, wo er sich sichtlich unwohl fühlte. Taktvoll umschwärmten ihn die Gäste. Ihre akute Eitelkeit wollte Nähe zu dem großen Mann, die chronische schrie nach eigener Größe. Es galt, die Berühmtheit zu ehren, ohne das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Bei diesem Balanceakt bemerkte früher oder später ein jeder, dass er doch auch Wer sei und je länger der Abend dauerte, desto deutlicher wurde es den versammelten Saarbrückener Wirtschaftsgrößen, dass doch eigentlich ihre Tätigkeit den ganzen Kulturladen am Laufen hielt.
Rosa, die Tochter des Gastgebers, hatte dann den Beweis anzutreten, dass auch inmitten der Menschen der Wirtschaft die Kultur gepflegt werde. Sie widmete ihrem Papa einen Walzer von Chopin.
Schon vor dem ersten Ton konnte Karajan am Sitz der jungen Dame erkennen, dass er, der unermüdliche Talentjäger, leer ausgehen würde. Nach drei Tönen stellte er sich auf ein akustisches Martyrium ein, nach drei Takten war ihm klar, dass die chopinsche Girlande in Takt zwölf sich in einen Fallstrick verwandeln wird, der die Pianistin niederwerfen und sie wehrlos den mächtigen Akkordblöcken in Takt 24 ausliefern wird.
Auch ich konnte das voraussehen, ich, der als Umblätterer engagiert worden war, was ich neben meiner Niedlichkeit meinen bescheidenen eigenen pianistischen Fähigkeiten verdankte. Zu der Zeit spielte ich den großen Richard Krentzlin rauf und runter, der „Brummkreisel“, der „Fröhliche Wandersmann“ und besonders „Großmütterchen erzählt“ gehörten zu den Glanzstücken meines Repertoires. Ich sah, der unmittelbaren Nähe zur bleichen Tochter wegen, als erster, wie ein feiner Bluttropfen sich aus der Nase des Kindes hervorwagte, eine Vorhut, die dann in der Folge des Taktes 24 eine gehörige Zahl an Nachfolger finden sollte.
Nun galt es, tapfer zu sein.
Ein Blick auf den in der ersten Reihe sitzenden Jubilar zeigte, dass dieser in den Bluttropfen, die von nun an in schönster Regelmäßigkeit aufs Elfenbein hernieder fielen, keinerlei Grund zur Aufgabe erkennen konnte, ja, ganz im Gegenteil, sein Gesicht zeigte eine Begeisterung, die kein Chopin´scher Walzer hätte hervorzaubern können. Die Opferung jungfräulichen Blutes zu Vaters Ehren kristallisierte sich als der übergeordnete Sinn der ganzen Veranstaltung heraus. Für den musikalischen Sinn musste mehr und mehr ich, der Umblätterer, die Verantwortung übernehmen.
Eisern befolgte Rosa jede Wiederholungvorschrift, so dass aus den drei Seiten gedruckter Noten ein sechsseitiges Opus entstand, noch nicht mitgerechnet die unfreiwilligen Repetitionen – Folge übersprungener Weichen harmonischer Art, die das Stückchen von einem Teil zum nächsten leiten sollten. So wühlten Rosas Finger weiter im Teil A, während ihre Augen im B-Teil, in dem sie sich hätte befinden müssen, aber leider nicht befand, nach Gebrauchsanleitungen suchte.
So hatte ich genügend Zeit, zu wirken.
Ich legte mich voll ins Zeug.
Die sehnsuchtsvollen Vorhalte, die Rosa nicht gelingen wollten – auf meinem Gesicht spiegelten sie sich wieder in einem bestürzten Stirnrunzeln, das sich beim Ausatmen auf der Drei wieder glättete, der jubelnde Aufschwung des B-Teils, in dem der rechten Hand unbegreifliche Dezimen-Sprünge abverlangt werden, riss mich regelrecht vom Hocker, was den Kontrast zum innigen, terzenseligen Teil C aufs Wirkungsvollste steigerte, der mich zu einem innigen Wiegen des ganzen Körpers veranlasste.
Jeder Schlussbeifall trägt ja janusköpfige Züge und nie ist man sich ganz sicher, ob statt der Leistung nicht deren Abschluss mit einem still geseufzten ´na endlich` beklatscht wird – der jetzt folgende Applaus speiste sich zweifellos aus beiden Quellen.
Damals floh ich noch den Beifall.
Ich floh zum einzigen Ort, wo das Alleinesein keine Rechtfertigung braucht. Hier stand die Kultur, sauber in Beutel gebannt und konnte wenig Schaden anrichten. Doch im Badezimmer stand ein grauer, aufgewühlter Karajan.
Er mich sehen und vor mir niederknien war eins.
„Geheimnis aller Kunst“, stammelte er und „..in Dir liegt es...das Seufzermotiv auf kindlich reiner Stirn...selbst Banausen zugänglich ...unschuldige Ekstasen... reines Extrakt der Emotionen... der Retter der Laien ... durch keine Handwerkseitelkeit beschmutzt ...lerne nichts, mein Junge, bleibe ...ach, das verlorene Reich der Interjektionen ... hui, da ist es.... ach, dein hoppla ...hoppla, dein juchheisasa ...juchhe, da schau... ogottogott , was kommt...“
Ich stand da, schwieg und sah Karajan seine Ausrufe mit Gesten begleiten, die ich später wieder erkannte als diejenigen, mit denen er seine Musiker zu Höchstleistungen anspornt.
Ich wollte mal ein Rappele machen und bat um Distanz.
Kleines Geschäft.
Ich ließ mir Zeit wie für ein Großes.
Ich kam zurück und Karajan hatte sich wieder gefangen.
„Ich bin der Heribert. Du wirst von mir hören.“
Heute sind wir Kollegen, sitzen im Künstlerzimmer und bereiten uns auf die Gala zum Gedenken an die Mauertoten vor.
Karajan beginnt mit seinen Yogaübungen, die letzte Phase unserer gemeinsamen Konzertvorbereitungen.
Während er versinkt, ziehe ich mich um, schaue mich gründlich an im Spiegel und probe das JA, ICH MUSS was mir so schwer fällt, der Schwachpunkt in meinem Repertoire.
Da klopft schon der Pedell. Wir betreten die Bühne.
Karajan, der alte Fuchs, dirigiert die Fledermausouvertüre auswendig. Entgegen allen Absprachen kehrt Karajan zurück zu seiner jahrelang gepflegten Praxis, nimmt damit in Kauf, dass ihn die große Kränkung des Dirigentendaseins wieder einholt. Seitdem vor 100 Jahren der Dirigent im emphatischen Sinne erfunden wurde, leidet dieser Berufsstand daran, sein Bestes zu verschwenden und nur mit dem Rücken zum Publikum zu stehen und die Konvulsionen seines Körpers, die Ausdrucksexplosionen in Gestik und Mimik an Musiker zu verschwenden, die oft genug in rein dienstlicher Angelegenheit unterwegs sind.
Was hat gerade Karajan nicht alles versucht, um diesen Missstand zu beheben!
Erinnert sei nur an seine (gescheiterten) Spiegelexperimente, an seinen Einsatz für Scharouns einmalige Idee, dem Publikum Plätze im Angesicht des Dirigenten zu bieten, oder an die schier lückenlose Dokumentation seines Wirkens auf Video.
Nun hat er mich also auf die Bühne gelockt und lässt mich dort ohne Aufgabe allein. Vor unserem großen Duett will er noch einmal die Rangordnung zwischen uns klarstellen, will noch einmal zeigen, dass es auch ohne mich geht, dass ich selbst eine Zugabe bin – ach, in solchen Momenten bin ich ganz gerührt von dem alten Mann! Wie wenig er versteht! Geprägt von harten Kriegs- und Nachkriegszeiten kann er nicht verstehen, dass genau diese Zugabenexistenz, zu der er mich zu degradieren glaubt, das innerste Verlangen meiner ganzen Generation darstellt, dass das, was er als in die Grenzen weisen versteht, letztlich das ist, was nachher den Jubel erst entfachen wird.
Genau, weil ich überflüssig und dennoch da bin, werde ich geliebt!
Die Liebe, ein Luxusprodukt.
Ich sitze beschäftigungslos zu seinen Füßen, kauere am Rand des Dirigentenpodiums und wiege mich sanft im Rhythmus der Walzerklänge. Mein kleiner Möchtegernnachfolger in Block A imitiert auch das. Von ihm droht doch keine Gefahr; das wird mir mit verschleiertem Blick klar. In seiner Mutter erkenne ich slawische Gesichtszüge, kleinbürgerliche Herkunft, dazu Kulturbeflissenheit, all dies gepaart mit Aufsteigersehnsucht: Sicherlich traktiert der Sohn täglich stundenlang die Instrumente. „Den musst du zu verdrängen versuchen, doch nicht mich“ rufe ich leise und denke dabei an den Maestro selbst, dessen spindeldürre Beinchen auf meiner Augenhöhe schon zu zittern beginnen, „Du wirst Dir Fähigkeiten erwerben, du wirst Klavier und Geige spielen lernen, du wirst dirigieren. Träume doch nicht von mir: ich kann nichts, das aber besser als jeder andere.“
Plötzlich nehme ich eine Woge von Frohsinn im Publikum wahr und finde: Ich sitze nicht mehr zusammengekauert zu Karajans Füßen, nein, ich finde mich am Podiumsrand sitzend, die Beine baumeln in den Zuschauerraum hinein, die Arme rudern in unmöglichen, aber desto süßeren Dirigentenbewegungen, und wenn ich mich nicht täusche, höre ich noch den Nachhall einiger gepfiffener Töne, die meinem Mund entfahren waren in selbstvergessener Entzückung.
Ach, die Fledermaus, das Fest des Dürfens, Lassens, des Mögens!
Ich mache sie glücklich, denke ich, sehe das Strahlen in den ersten Reihen und verschenke ein kurzes Zahnlückenlächeln.
Dann schon sind wir in Mahlers Neunter.
Ich stehe bei Karajan und bin sein getreues Spiegelbild, und doch viel mehr, denn keinerlei pragmatische Zwänge schränken meinen Ausdruckswillen ein. Der Maestro muss Menschen führen, den Musikerhaufen in die Einheit eines Klangkörpers pressen – ich muss gar nichts. Ich darf nur, das aber reichlich. Dass ich ihm umblättere, als Zugabe sozusagen, denn in die Partitur schaut er kaum einmal hinein, ist der letzte Rest von Notwendigkeit, an dem fest zu halten mir von mal zu mal mehr als Feigheit erscheint.
Dann Adagio. Tief im Blechbläserpianissimograu schleichen Töne einsam umher. Selbstvergessene hohe Streicher, die doch nur mal ausprobieren wollen, wie es sich blind auf Reisen anfühlt, trudeln herum. Eine Geige schwebt alleine durch den Tuttiklang, eine Irrläuferin unter lauter Blindgängern. Sie erschreckt die ungelenken blechernen Riesen schier zu Tode: Die verstummen, oder spielen weiter in ihrem Reich der unerhörten Geräusche, doch nun mit von uns dummen Hörern abgewandtem Gesicht und ohne Ohrenzeugen. Ihr Lebtag lang sind diese Tubenpfürze nicht auf die Idee gekommen, dass es noch andere ihresgleichen geben könnte – von diesem Schock werden sie sich heute nicht mehr erholen.
Man muss dabei gewesen sein, man muss gesehen haben, wie meine kindliche Urverwandtschaft zu den hunderten Ausrufewörtern unserer Sprache sich paarte mit meiner frühreifen Kenntnis des Sollens und des Müssens und des Dürfens, wie sich paarten Ausdruck und Konstruktion in unschuldigem Kindergesicht.
Da reißt der Jubel mich heraus aus Gedanken und versetzt mich in tosende Gegenwart.
Der Maestro schließt mich in seine Arme. Wäre er noch in der Blüte seiner Jahre, würde er mich nun hochnehmen, doch selbst meine 27 Kilo sind heutzutage zu viel für ihn. Er muss darauf verzichten, sich mit mir auf dem Arm ablichten zu lassen von den bereitstehenden Fotographen, was einem Manne wie ihm, der aus jedem Ereignis den größtmöglichen Erfolg herauszupressen weiß, äußerst schwerfallen muß.
Deshalb geht er in die Knie vor mir und beugt sich zu mir hinab.
Nun sehe ich das verschwitzte Gesicht aus nächster Nähe – es ist kaum noch menschlich zu nennen. Genau wie ich gibt der Maestro immer alles. Er murmelt Worte, nach deren Bedeutung ich am nächsten Tag von der heldengierigen Berliner Boulevard - Presse mehrfach befragt werde. Man nimmt dort an, dass bedeutende Männer Bedeutendes sagen – ein Irrtum aus meiner Sicht. Doch ich wäre der letzte, der die Journalistenmeute mit missionarischem Eifer zu bekehren versuchen würde. Ich hüllte mich in beredtes Schweigen, ein Ausdruck, der mir in seiner Blödigkeit sehr angemessen vorkommt. Schon während des ganzen letzten todestrunkenen Satzes von Mahlers Neunter hatte er nur noch „Wasser, Wasser“ gemurmelt, so dassich nun nicht überrascht bin, das es dieselben Worte sind, die er mir nun ins Gesicht stammelt. Immerhin verleiht die Summe der Eindrücke, also die brüchige Stimme, das ausgezehrte Gesicht, der tote Eindruck, den seine Hand in meiner hinterlässt, diesen Worten etwas von den hohen Weihen, nach denen die Journalisten so begehren. Vermutlich hätten sie, nach einem kurzen Moment der Enttäuschung sogleich verstanden, dass dieses „Wasser, Wasser“ beim Leser mehr Eindruck hinterlassen hätte als das erhoffte „Muß es sein.“ Elemente einer Blut, Schweiß und Tränen-Rede hinein zu schmuggeln in einen Bericht über die seelenzerfetzende Wirkung von Karajans Dirigat – könnte man sich etwas aus denken, was besser zum Anlass der heutigen Gala, dem Gedenken an die Mauertoten, passen würde?
Karajan tritt ab.
Dann beginnt das Warten auf die Zugaben an, ein wahrhaft festlicher Moment. Bei Zugaben kann nichts mehr schiefgehen, über die Zugabe kann sich niemand beschweren, der lauteren Gemütes ist. Sie sind der Höhepunkt eines jeden Konzertes. Hier herrscht Freiheit, bei der Zugabe ist Platz für Glück und Spontanität, bei der Zugabe entlässt der Markt die Kunst in die ersehnte Freiheit – vorher ist alles Gegenleistung für das Eintrittsgeld.
Gleich mir ist die Zugabe ein reines Geschenk.
In welch Höhen wird sich dieses Geschenk erst schwingen, wenn der Höhepunkt des Abends, die zweite Zugabe, von der noch niemand etwas ahnt - nur Elstermann, der Konzertmeister der Philharmoniker, weiß von unseren Plänen und hat sie missmutigst „zur Kenntnis genommen“ – das Publikum verzaubern wird.
Der Maestro kommt wieder. An seinem Gebiss erkenne ich sofort, was er heute spielen wird. Sein Mahler-Gebiss, nicht mehr als ein Zungengatter, das verhindern soll, dass dieses läppische Organ wieder unkontrolliert umherbaumelt wie damals in Tokyo (was den Maestro Unsummen für aufzukaufende Negative gekostet hatte) ist ausgetauscht gegen eines, das die Wangen aufmöbelt und seinen Zügen das Höchstmögliche an Lebenslust abzutrotzen vermag, das aus ihnen noch herauszukitzeln ist.
Auch das bewundere ich an Heribert. Nichts überlässt er dem Zufall. Er ist ein Meister der sublimen Publikumsmanipulation.
Auch der Ungarische Tanz geht vorbei.
Es folgt ein müder, pflichtbewusster Beifall für Lothar Elstermann, den in Fachkreisen hoch angesehenen Konzertmeister der Philharmoniker. Elstermann, der Tonleiterkönig, wie er halb bewundert, halb belächelt genannt wird, Elstermann, der alle denkbaren Tonleitern, in Terzen, Sexten und Oktaven schneller und sauberer spielt als jeder andere – Elstermann steht kurz auf, der Maestro drückt ihm kurz die Hand und dann versinkt er wieder in der Anonymität des Orchestertuttis, ein namenloser Weltmeister, der mit fünf Jahren begann, die Erfolgsleiter hoch zu klimmen, deren oberste Sprosse er nun erreicht hat - nur um festzustellen, dass die Aussicht kaum besser ist als im Orchestergraben zu Ulm, wo er einst als Aushilfe erste Erfahrungen gesammelt hatte.
Das ist das Schicksal kleinerer Geister, mühsam klettern sie nach oben; letztlich nichts als eine Fleißarbeit.
Es folgt der Höhepunkt des Abends.
Mit brüchiger Stimme kündigt Karajan an, was nun kommen wird: Das erste der drei Orchesterstücke opus 6 von Alban Berg in einer Fassung für Dirigenten und Umblätterer allein.
O, welch eine Stille hier im großen Saal!
Das Publikum kann`s nicht fassen, kann`s nicht glauben.
Wir lehren sie gründlich das Wundern.
Wir lassen sie im Unklaren über den Beginn der Aufführung, ganz im Geiste des Werkes, das ja bekanntlich mit einem geräuschhaften Schlagwerkrascheln beginnt, ein Anfang, den wir ausdehnen, denn wir sind uns einig, dass es Berg etwas zu kurz geraten ist.
Noch habe ich die Augen geschlossen und lausche dem zweitausendköpfigen Schweigen. Dann vernehme ich nach kurzer Zeit das Poltern der Pauken, allmählicher Übergang ins Reich der Töne. Langsam öffne ich die Augen gemeinsam mit dem ersten richtigen Klang, einem Ach- Darf? der Holzbläser, das sich in ein Ja, ich darf verwandelt beim dritten Versuch.
Und mit einer wahren Gewaltanstrengung reiße ich die Augen schreckensweit auf beim brutalen ´ Hinweg` des Blechs, einer reinen Interjektion ohne modale Beigabe.
Und blicke IHR direkt ins Auge.
Die Pelzstola hat sie in den Händen, ´wahrscheinlich Eichhorn` denke ich noch, ´das Eichhorn ist doch der Nerz des kleinen Mannes,` da steht sie schon auf, schwingt den Pelz um ihren Kopf, ´es ist doch Ratte` sehe ich nun an den gebleckten Zähnen und schon fliegt die Stola durch die Luft, schon dreht sie sich in turbulenter Hast, schon bin ich getroffen mitten auf der Stirn.
Ich wanke, doch ich falle nicht.
Doch ist es nicht das Bewusstsein, das mich auf den Beinen hält.
Bis zum tosenden Schluss setzt mein Bewusstsein aus. Ich erinnere nicht aus eigener Kraft den Schreckensschrei des Publikums, als die Ratte mich mitten auf die Stirn getroffen, ich erinnere nicht den zweiten Schrei, als das Blut aus meiner Stirn zu sickern begann und ich erinnere nicht das ungläubige Staunen des Publikums, darüber, dass ich einfach weitermache. Ja, Karajan und ich machen einfach weiter bis Bergs opus 6, Nr. 1 wieder im Geräuschhaften versinkt, aus dem es kürzlich erst entstiegen war.
Ich habe es nicht gehört, das gesammelte, atemstarre, zweitausendköpfige Schweigen im Publikum!
Diesem unerhörten Schweigen gegenüber verblassen alle anderen Nichterinnungen zu Marginalien: der Fastzusammenbruch Karajans, das Blumen-und Teddybärmeer, in dem ich irgendwann stand wie der erste Mensch. Selbst die Rebellion der nun doppelt in den Hintergrund gerückten Musiker erinnere ich nicht - angezettelt übrigens von den zweiten Geigen. Vom letzten Pult aus, von den Leihgeigern aus, war die Rebellion vorgedrungen und hatte sich zum Exzess ausgebreitet, der, laut Zeitungs- und Augenzeugenberichten, darin gipfelte, dass Elstermann, ausgerechnet Elstermann, der farblose Tonleiterkönig, sich aufs Podium schwang, den Dirigentenstab ergriff und das Zuchtgerät zerbrach in einer vielfach dokumentierten Aktion, in unerträglich lächerlicher, theatralischer Pose.
Man hat mir einen Stuhl untergeschoben.
Elstermann wird gerade abgeführt.
Ich lächle ins Publikum hinein.
Verdient wird immer nur am Mangel; am Glück hat noch keiner auch nur einen Pfennig verdient, ein unhaltbarer Zustand demzufolge – das muss man mir als Kaufmannskind nun wahrlich nicht erzählen.
Warum ausgerechnet dieser Satz es als erster in mein Bewußtsein schafft, kann ich nun wirklich nicht sagen. Ich lächle SIE an, die, von Polizisten umringt, in der fünften Reihe steht und IHN beschützend umarmt. Ach, wie dankbar bin ich IHR! Sie hat meinen Erfolg gesteigert ins Unermessliche, wenn auch in unlauterer Absicht. Nicht nur für mein Nichtskönnen wurde ich heute geliebt, ich habe es nicht einmal gemerkt. Ich wurde geliebt von zweitausend Menschen, das für nichts und ich habe es nicht einmal gemerkt!
Das nenn ich vornehme Nähe!
´Die wirklich großen Erfolge verdanken sich nicht großen Anstrengungen, sondern der bedingungslosen Hingabe an die vorgezeichnete Lebensbahn.`
Diese schöne Sentenz formt sich in meinem Köpfchen, während ich ihn aus dem Bühnenaufgang heraus recke. Ich werfe einen ersten Blick in die Stätte meines baldigen Triumphes – der Maestro und ich planen für heute eine Welturaufführung, nichts weniger, als die Geburt einer neuen Kunstform – und mache einen formvollendeten Diener. Schon diese kleine Aktion wird mit aufrauschendem Beifall im noch spärlich gefüllten Saale der Berliner Philharmonie belohnt! Das lässt vieles hoffen.
Eigentlich wollte ich nur kurz sehen, ob SIE und ER auch heute wieder in der fünften Reihe säßen wie bei meinen letzten Auftritten – doch dann lockt mich der Beifall und ich bleibe länger auf der Bühne, um den Applaus zu genießen. Und wie ich die Reihen der spendenfreudigen Seelentröster mustere, durchzuckt mich ein Schreck: Nicht nur, dass SIE und ER wieder einen Platz eingenommen haben – nein, die beiden scheinen sich vervielfältigt zu haben: In jedem Block sehe ich schier identische Pärchen sitzen, Mütter und Söhne, sehr, sehr ehrgeizige Mütter und sehr, sehr knetbare Söhne, die sicher nicht nur des zu erwartenden Kunstgenusses wegens hier sitzen. Die frenetisch applaudierenden Haus-frauen, die gleichmäßig verteilt um die Bühne herum sitzen, die mich von hinten, von oben, von vorne, von der Seite aus betrachten – sie denken an ihre eigenen Söhne, während sie mich beklatschen. Ihr Beifall mag mir gelten, ihre Herzen jedoch schwärmen in der Zukunft ihrer eigenen Bälger herum; an meine Stelle wünschen sie sich ihre Knaben: Das sehe ich mit einem Blick.
´Nun gut`, denke ich, ´so etwas nennt man gemeinhin eine Aufgabe! Muss ich ihnen halt zeigen, wo die Musik spielt! In zwei Stunden werden diese Mütter mitleidig auf ihre Söhne blicken und werden kleinere Zukunftshoffnungsbrötchen backen!
Gestärkt verlasse ich die Bühne. Ich liebe zyklische Formen, allein deshalb recke ich beim Abtritt meinen Kopf aus dem Bühnenaufgang heraus wie beim Auftritt, eine Geste, die etwas Niedliches und Gewinnendes an sich haben muss – so schließe ich wenigstens aus dem Gelächter, ein wärmender Hintergrund für mein Interesse, das sich nun ganz auf SIE und IHN fixiert.
Wenn Gefahr droht, dann von diesen beiden. Die meinen es ernst. Das sind keine Eintagesträumer. Bei denen ist der Traum chronisch geworden und hat sich zum Plan verfestigt. Das machte sie zu langfristig planenden Strategen. Während das eigentliche Galapublikum sich noch mit einem Gläschen Sekt auf die kommende geistige Anstrengung vorbereitet, saugt ER, ein zugegeben süßer Knopf mit Fliege und Blazer, tief die Atmosphäre des Raumes in sich hinein, hat SIE wieder das „Große Buch“ auf ihrem Schoß liegen, eine große Kladde, ein schmuckloses Haushaltsbuch, worin sie die Begleitumstände meiner Auftritte detailgenau vermerkt. Auf der linken Seite stehen die Kosten für Eier, Milch und Stopfgarn, rechts die für Eintrittsgelder, Garderobe und Programm.
Ob die beiden schon beim dritten oder erst beim achten meiner Auftritte die Zahl meiner Zuschauer vermehrten, kann ich nicht sagen. Sicher ist: Nachdem ich sie das erste Mal wahrgenommen hatte, entdeckte ich sie bei allen folgenden Auftritten. Sehr viele waren es noch nicht; meine Karriere besitzt ein ungeheures Tempo – auch in dieser Hinsicht empfinde ich mich als überaus zeitgemäß. Wie immer führt ihr Versuch, sich dem Anlass gemäß zu kleiden zu den komischsten Ergebnissen; ihr Reservoir an diesbezüglichen Peinlichkeiten scheint unausschöpflich. Heute trägt SIE in Erwartung der Nerzkragen der Westberliner High Society eine Pelzstola, der klobige Kopf eines aus der Entfernung nicht erkennbaren Tieres baumelt über ihrer mächtigen Brust, ´vielleicht sogar Ratte`, denke ich, schaudere und verlasse die Bühne.
«Kannst es gar nicht erwarten, die Katakomben zu verlassen!»
Ein junger Mann ist es, der mich so von hinten anspricht. Ich wende mich um und sehe in das Gesicht eines Menschen, der glaubt, gerade witzig gewesen zu sein. Ich schenke ihm das müde Lächeln, das er sich ehrlich verdiente.
Es ist ein geliehener Geiger, ein langer Schlaks, einer von der nervösen Sorte mit Pickeln im Gesicht, der heute die zweiten Geigen verstärken darf am letzten Pult. Auch Aushilfen haben ihre Sternstunden, die machen nervös und die Nervosität will er nun überspielen mit faden Witzchen. Nicht mit mir Freundchen! Der Backstage-Bereich von Scharouns Prachtbau hat nichts gemein mit Katakomben. Es sind durchaus nüchterne, beinahe schäbige Räume, denen alles Weihe - oder Geheimnisvolle abgeht.
Der Leihgeiger wandelt dennoch ehrfürchtig durch die Gänge. Trotz meiner Jugend konnte ich schon feststellen, dass der mittelmäßig Begabte sich nur schwer mit der Geistlosigkeit und Profanität abfinden kann, die der Humus ist, aus dem die göttliche Gewalt der Tonkunst herauswächst. Mir ist gerade diese Verbindung heilig. Wenn die Posaunisten nach ihrem mauern - und seelensprengenden Einsatz ihre Instrumente umdrehen und den Speichel heraus schütteln, wenn sie danach säuisch routiniert die Spuckepfützen verwischen: dann wird für mich ihr gewaltiger Choral quasi nachträglich geheiligt. Transzendenz ohne Verbindung zur Materialität der Welt ist und bleibt doch ein blutleeres Unternehmen. Für mich wird folglich auch das Wirken unseres großen Meisters – ein wahrhaft angemessenes Wort, auch wenn er selbst mich nur um die Größe seines scharf gemeißelten Kopfes überragt – durch die Ferraris und den Sportflugzeugen, denen seine zweite Leidenschaft gilt, zusätzlich geadelt. Jeder Versuch, diese angeblich allzu materiellen Vorlieben des Meisters zu einem seine Künstlerernsthaftigkeit in Frage stellenden Verdacht aufzubauschen, stößt in mir auf einen erbitterten Widersacher.
Könnte ich das dem Leihgeiger vermitteln? Der was murmelt von „diesen heiligen Hallen?“ und dass er, nervositätsgeschüttelt und gerüttelt schon einmal an seinem Testament arbeite, seinem – tatsächlich! Musikerhumor! – „Heiligenstädter Testament“ ?
Ich glaube nicht.
Er fiedelt die unspielbare Stelle im dritten Satz von Mahlers Neunter im Stile von Etüden, er fiedelt sie sicherlich das hundertste Mal, Stunden härtester Körperknechtung bedurfte es, diese musikalisch unbedeutenden Girlanden den widerspenstigen Muskeln und Nerven einzubimsen. Nachher werden diese Bocksprünge und Teufelstriller untergehen im Blech, so, wie sein Beitrag untergehen wird im Tutti der zweiten Geigen. Was bleibt ihm, dem doppelt Verlorenen, also übrig, als die Göttlichkeit der Kunst anzurufen, wo doch sein weltlicher Beitrag unhörbar bleiben wird?
Ich lass´ ihn stehen. Ich muss mich in Ruhe vorbereiten.
„Die wirklich großen Erfolge verdanken sich nicht großen Anstrengungen, sondern der bedingungslosen Hingabe an die vorgezeichnete Lebensbahn“: Diesen Satz wahrhaft zu erfassen – das sind so die Etüden, die mir aufgegeben sind. Also denke ich an mich als noch kleineres Kind, in dem das alles anfing.
In Familien wie der unsrigen ist der Erstgeborene traditionell ein Fels in den Wirren des Lebens; ihm ist es aufgetragen, den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Der Zweitgeborene dagegen muss ein Findling sein, aufgestellt in einem Noch-Niemandsland, seine Einzigartigkeit ist sein größtes Startkapital. Vom ersten Tag an wurde mir also meine Einzigartigkeit eingebleut. Es durfte mich nicht oft geben. Nur so konnte ich platziert werden in einer exclusiven, gleichzeitig seriösen Branche. Eine Spinnerexistenz wie Vertrieb von Elektronengehirnen oder Tragbaren Telephonen war für mich nicht vorgesehen. Ich als Zweitgeborener war für Besseres bestimmt.
Juwelier. Rauchwaren. Vertragshändler von Porsche. Händler mit klassizistischen Möbeln aus der Goethezeit. Dies – grob umrissen – die Zukunftshoffnungen der Eltern. Mit wenigen Worten: Ich sollte vom Wesen her werden, was ich vom Pass her schon war: Ein Schweizer. Ich sollte unter den Menschen das sein, was die Schweiz unter den Staaten ist.
Mittendrin, aber außen vor.
Einzigartig, aber stinknormal
Teilnehmer, aber passiv
Neutral, aber eindeutig positioniert
Klein, aber oho!
Weltbürger, aber Spießbürger
Blitzsauber, aber Dreck am Stecken, dass es nur so kracht.
Die Eltern konnten es also nicht zulassen, dass man mich verwechseln könnte. Von früh auf wurden mir die Gefahren vor Augen geführt, die auf Kinder ohne Alleinstellungsmerkmal lauern. Hat man seine Einzigartigkeit verloren, greifen die Eltern ein falsches Kind aus dem Getümmel eines Kindergeburtstages und bemerken erst zu Hause das Missgeschick. Da würde ich dann schön blöd gucken, wenn sie den Michael nehmen würden statt mich! Wenn dann der Michael Papa sagen würde zu Papa und Mama zu Mama. Aber dann wär`s halt zu spät; dann könne man halt nichts mehr machen. Dann würde halt der Michael mit meinen Spielsachen spielen, dann würde halt der Michael meine Sammlung von Solitären – meine Brüder in der Welt der Dinge – pflegen, meine Blaue Mauritius bewundern, meinen Henrystutzen wienern, Dagoberts Glückstaler ins Samtkästchen legen.
Eltern können ja nicht verhindern, dass ihre Kinder auch von anderen geliebt werden. Sie wollen es auch nicht verhindern, im Abglanz fällt ja auch Liebe auf sie zurück. Aber die anderen lieben immer etwas Falsches. Die Liebe der anderen zu mir fußte auf einem Irrtum, nur irrtümlich wurde ich geliebt; das war gar nicht wirklich ich, der da geliebt wurde. Das Deutungsmonopol auf ihre Kinder lassen rechte Eltern sich nicht nehmen. Nur als meine Fälschung ging ich in den Kindergarten, in die Schule, in die Welt. Mein echtes Ich blieb immer bei Mama. Ging Mama ins Geschäft, nahm sie mein echtes Ich mit, vermutlich in ihrer unbegreiflich großen Handtasche aus Kroko. Ich blieb als mein Doppelgänger zu Hause. Mama hatte mich immer bei sich – kein Wunder, dass sie es nie nötig hatte, jemals zu mir zu kommen.
Dies der Grund, weshalb ich auch heute, bei der großen Gala vergeblich nach meiner Mutter Ausschau halten werde. Ihr Sitz in Block A, eine Freikarte, die ich ihr zukommen ließ, wird frei bleiben. Der Verzicht auf ein gemeinsames Gläschen mit dem Regierenden Bürgermeister, den drei geladenen Alliierten Stadtkommandanten und besonders mit Curd Jürgens und Gunther Sachs muss ihr sauer werden – ´doch halt,` so fährt´s mir durch den Kopf, vermutlich wird sie genau darauf nicht verzichten! Vermutlich steht sie jetzt gerade im Foyer und wird ein Gläschen in froher Runde nehmen, um dann, während der Aufführung, fröhlich als Solistin weiter zu süffeln.`
Die Aufführung selbst wird auf ihr Beisein verzichten müssen. Sie findet mein Gehabe, das alle Welt so hinreißend findet, einfach nur äffisch und närrisch und kann es nicht mit ansehen. Sie wird den Büfettdamen Bilder von mir als sehr kleines Kind zeigen und wird sehnlichst die Pause erwarten, um dann im Tutti weiter zu trinken.
Nun, es wird keine Pause geben, lächle ich in mich hinein und widerstehe der Versuchung, schnell ins Foyer zu rennen, um meinen Verdacht zu erhärten. Ein Künstler muss sich kalt machen können. Der Künstler hat sich ja entschieden, eher von der Menschheit geliebt zu werden als von einzelnen Menschen. Ich muss mich auf Mahlers Neunte vorbereiten, die pausenlos auf die Fledermaus-Ouvertüre folgen wird. Danach werden pausenlos die Zugaben beginnen, worauf sich unsere Uraufführung anschließen wird. Dann wird Mutter sich zum großen Schlussbeifall in die erste Reihe schieben, um sich auf´s Pressephoto zu schmuggeln.
Den Beifall, den ich erhalte, ist das, was sie wirklich liebt an mir.
Im Gang laufe ich dem Leihgeiger in die Arme. Seine Akne blüht und es ist ganz offensichtlich, dass er nach Gelegenheiten sucht, seine Nervosität wegzuschwätzen.
Da bleibt nur Flucht. Ich öffne die Tür des Künstlerzimmers und werfe sie sofort hinter mir zu mit der mir eigenen lässigen Handbewegung, die mir schon den einen oder anderen Feind beschert hat.
Die Künstlerzimmer in der Philharmonie zeichnen sich durch dieselbe Sprödigkeit aus wie der gesamte Funktionsbereich in Karajans Wunderzirkus. Eine Couch, einen Flügel oder ein Klavier, schmucklosen Teppichboden, und einen großen Spiegel – mehr gibt es nicht.
Auf dem Notenpult liegt mein Arbeitsmaterial, ein Fläschchen Sinalco steht bereit, meine Abendgarderobe hängt frisch gebügelt auf dem Kleiderständer.
Ich schlage die Partitur von Mahlers Neunter auf – natürlich das Faksimile der Handschrift. Mit den handelsüblichen Materialien arbeite ich grundsätzlich nicht, muss man doch meine Kenntnisse der Notenschrift als rudimentär bezeichnen. Den Violinschlüssel beherrsche ich noch, doch schon beim Baßschlüssel wird es eng und Alt- und Tenorschlüssel und die Existenz transponierender Instrumente empfinde ich als die Zumutung, die sie bei Lichte gesehen doch auch sind. Nichts als der Versuch, ein Geheimwissen aufzubauen, Überbleibsel magischer Rituale, die nur Eingeweihten zugänglich sein sollen. Künstlich aufgebaute Hürden, durch die Sache kaum zu rechtfertigen – nein, sie zu überspringen ist meine Sache nicht. Ich geh um sie herum, schaue zu, wie andere sich recken und strecken und staune über den Schweiß, den sie dabei vergießen. Ich pflege lieber meine Begabung. Im Lesen der Handschriften, ach, was sag ich lesen, im Überfliegen, im Erschnuppern, im Erfühlen reicht mir keiner so schnell das Wasser. Jede kleinste modale Regung lese ich dem Geschmiere ab, jedes Sollen, Wollen, Müssen und Dürfen – ja ganz besonders das Dürfen, ganz besonders im Erkennen und Darstellen des Dürfens bin ich ein Meister; ich bin ein Spezialist für das Dürfen in der Musik.
Und mit überschießender Dankbarkeit denke ich an zu Hause, an meine Erziehung, an all die Maßnahmen der Eltern, denen ich mein Hiersein recht eigentlich verdanke.
Die wenigsten Eltern sind ja ihren Kindern gewachsen. Meine immerhin verzichteten weitgehend auf das Ausleben der Rachegefühle, die vom Spielen kleiner Kinder unweigerlich provoziert werden. Sie ließen mich wenigstens allein. Sie schlossen die Tür mit lässigen Handbewegungen und ließen mich spielen. Sie ersparten sich durch ständiges Arbeiten den Anblick des ständig spielenden Kindes. Nur verbal zerkleinerten sie meine Welt. Sie führten das Wörtchen „Nur“ in mein Leben ein, ein Wort, klein genug, um überall dabeizustehen und alles mit dem Geruch der Vorläufigkeit zu überziehen.
Ich spielte ja nur.
Ich tat ja nur so.
Ich weinte ja nur.
Ich übte doch nur, lernte doch nur, schwätzte doch nur. Ich deckte doch nur den Tisch und mein Gebet war nur ein Kindergebet und meine Liebe nur die Kinderliebe und Mama konnte selbst die Mutterliebe besser noch als ich.
Die Kindheit, ein Dauerprovisorium.
Nein, im Bereich der Vollverben war nichts zu finden, das dem Nur entkommen konnte, das dem Ernst sich näherte.
So wurde Platz geschaffen für das Reich der modalen Hilfsverben, in dem meine Erziehung sich wesentlich abspielte.
Gelernt habe ich nichts, nicht Fahrradflicken, nicht Schuhe binden und keine Hühner füttern. Doch im abstrakten Reich des Müssens, Wollens, Sollens, Dürfens, Könnens, Mögens, Lassens, Brauchens: Da herrsche ich wie kein Zweiter.
Bis heute kann ich nicht Auto fahren oder Steuern erklären, aber ich kann das Wollen sollen. Ich sollte wollen können. Sogar müssen dürfen beherrsche ich, und in guten Momenten kann ich sogar lieben modal gebrauchen, wie im poetischen alten Deutsch.
Ich lasse das Bild von Mahlers Rohschrift auf mich wirken, blättere die Seiten, staune über diese Unzahl an Noten, aber hüte mich vor jeder Vertiefung in den Gegenstand.
Ich bin zuständig für das, was man aus einem Meter Entfernung sieht: Für diesen doppelten Punkt, in dem vornehme Distanz und vornehme Nähe zusammenfallen bin ich zuständig.
Vor der Tür hat der Leihgeiger scheinbar Gesellschaft gefunden, eine zweite zweite Geige beweist mit ihm die Unspielbarkeit der schweren Stelle aus dem dritten Satz.
Was bin ich froh, dass eine Schallschutztür zwischen uns ist! Zwei Geiger, die dasselbe spielen, gibt es ja nicht, Geiger werden erst in größeren Gruppen wieder verträglich, wenn die Rechthaberei der einzelnen Stimmen sich zu dem Durchschnittsgemenge vermischt, den man in Musikerkreisen schmunzelnd Streicherglanz nennt.
Dann schweigen ehrfurchtsvoll zwei zweite Geigen vor der Tür.
Dann tritt er ein.
Dann schließt er die Tür mit einer lässigen Handbewegung und ich begrüße ihn, wie nur ich ihn begrüßen darf:
„Hallo Heribert“, sage ich und Heribert grüßt mit einem milden Lächeln zurück.
Karajan hatte ja frühzeitig erkannt, dass Heribert als Name dereinst in einer Reihe mit Emil, Erwin oder Otto stehen würde, Namen, tauglich nur für Witzfiguren. Unsentimental hatte er eingegriffen und das „i“ aus seinem Vornamen verbannt, genauso wie das „Riter“, das sein \"von\" noch auf der Geburtskunde aufwerten sollte. Ich jedoch darf, nein: soll ihn so nennen, wie seine Mutter ihn einst taufte.
Er selbst hatte sich mir unter diesem Namen vorgestellt, an jenem denkwürdigen Tag meiner Entdeckung, meiner zufälligen Entdeckung, wie die Neider sagen, die nicht wissen, dass Zufall in meiner Sprache Schicksal heißt.
Heriberts und meine Bekanntschaft rührte von einer Feier, zu der meine Familie geladen war in ein vornehmes Haus im vornehmen Teil von Thun. Der Jubilar, ein drahtig gebliebener weißhaariger Egomane, Architekt einer äußerst gemäßigten Moderne, hatte zu seinem Sechzigsten groß geladen. Die Gästeliste las sich wie ein Who is Who der Kantone Bern, Wallis und Oberwalden. Der Gastgeber hatte mit Karajan gemeinsam im Salzburger Konservatorium seine musikalische Grundausbildung erhalten, hatte dann auch mit ihm ein Semester Technik an der Alma mater zu Salzburg gehört und gleichzeitig mit Karajan hatte auch er den Entschluss gefasst, auf die künstlerische Seite der Welt zu wechseln. Nun besaß er alles, was man sich wünschen kann, ein gut gehendes Architekturbüro, eine Villa, eine junge Frau, blühende Kinder und als Zugabe des heutigen Abends eine Duzbekanntschaft mit dem großen Herbert von Karajan.
Der Abend nahm seinen vorhersehbaren Lauf, Reden, Büfett, Reden, Musik, Karajan in der Mitte des Geschehens, wo er sich sichtlich unwohl fühlte. Taktvoll umschwärmten ihn die Gäste. Ihre akute Eitelkeit wollte Nähe zu dem großen Mann, die chronische schrie nach eigener Größe. Es galt, die Berühmtheit zu ehren, ohne das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Bei diesem Balanceakt bemerkte früher oder später ein jeder, dass er doch auch Wer sei und je länger der Abend dauerte, desto deutlicher wurde es den versammelten Saarbrückener Wirtschaftsgrößen, dass doch eigentlich ihre Tätigkeit den ganzen Kulturladen am Laufen hielt.
Rosa, die Tochter des Gastgebers, hatte dann den Beweis anzutreten, dass auch inmitten der Menschen der Wirtschaft die Kultur gepflegt werde. Sie widmete ihrem Papa einen Walzer von Chopin.
Schon vor dem ersten Ton konnte Karajan am Sitz der jungen Dame erkennen, dass er, der unermüdliche Talentjäger, leer ausgehen würde. Nach drei Tönen stellte er sich auf ein akustisches Martyrium ein, nach drei Takten war ihm klar, dass die chopinsche Girlande in Takt zwölf sich in einen Fallstrick verwandeln wird, der die Pianistin niederwerfen und sie wehrlos den mächtigen Akkordblöcken in Takt 24 ausliefern wird.
Auch ich konnte das voraussehen, ich, der als Umblätterer engagiert worden war, was ich neben meiner Niedlichkeit meinen bescheidenen eigenen pianistischen Fähigkeiten verdankte. Zu der Zeit spielte ich den großen Richard Krentzlin rauf und runter, der „Brummkreisel“, der „Fröhliche Wandersmann“ und besonders „Großmütterchen erzählt“ gehörten zu den Glanzstücken meines Repertoires. Ich sah, der unmittelbaren Nähe zur bleichen Tochter wegen, als erster, wie ein feiner Bluttropfen sich aus der Nase des Kindes hervorwagte, eine Vorhut, die dann in der Folge des Taktes 24 eine gehörige Zahl an Nachfolger finden sollte.
Nun galt es, tapfer zu sein.
Ein Blick auf den in der ersten Reihe sitzenden Jubilar zeigte, dass dieser in den Bluttropfen, die von nun an in schönster Regelmäßigkeit aufs Elfenbein hernieder fielen, keinerlei Grund zur Aufgabe erkennen konnte, ja, ganz im Gegenteil, sein Gesicht zeigte eine Begeisterung, die kein Chopin´scher Walzer hätte hervorzaubern können. Die Opferung jungfräulichen Blutes zu Vaters Ehren kristallisierte sich als der übergeordnete Sinn der ganzen Veranstaltung heraus. Für den musikalischen Sinn musste mehr und mehr ich, der Umblätterer, die Verantwortung übernehmen.
Eisern befolgte Rosa jede Wiederholungvorschrift, so dass aus den drei Seiten gedruckter Noten ein sechsseitiges Opus entstand, noch nicht mitgerechnet die unfreiwilligen Repetitionen – Folge übersprungener Weichen harmonischer Art, die das Stückchen von einem Teil zum nächsten leiten sollten. So wühlten Rosas Finger weiter im Teil A, während ihre Augen im B-Teil, in dem sie sich hätte befinden müssen, aber leider nicht befand, nach Gebrauchsanleitungen suchte.
So hatte ich genügend Zeit, zu wirken.
Ich legte mich voll ins Zeug.
Die sehnsuchtsvollen Vorhalte, die Rosa nicht gelingen wollten – auf meinem Gesicht spiegelten sie sich wieder in einem bestürzten Stirnrunzeln, das sich beim Ausatmen auf der Drei wieder glättete, der jubelnde Aufschwung des B-Teils, in dem der rechten Hand unbegreifliche Dezimen-Sprünge abverlangt werden, riss mich regelrecht vom Hocker, was den Kontrast zum innigen, terzenseligen Teil C aufs Wirkungsvollste steigerte, der mich zu einem innigen Wiegen des ganzen Körpers veranlasste.
Jeder Schlussbeifall trägt ja janusköpfige Züge und nie ist man sich ganz sicher, ob statt der Leistung nicht deren Abschluss mit einem still geseufzten ´na endlich` beklatscht wird – der jetzt folgende Applaus speiste sich zweifellos aus beiden Quellen.
Damals floh ich noch den Beifall.
Ich floh zum einzigen Ort, wo das Alleinesein keine Rechtfertigung braucht. Hier stand die Kultur, sauber in Beutel gebannt und konnte wenig Schaden anrichten. Doch im Badezimmer stand ein grauer, aufgewühlter Karajan.
Er mich sehen und vor mir niederknien war eins.
„Geheimnis aller Kunst“, stammelte er und „..in Dir liegt es...das Seufzermotiv auf kindlich reiner Stirn...selbst Banausen zugänglich ...unschuldige Ekstasen... reines Extrakt der Emotionen... der Retter der Laien ... durch keine Handwerkseitelkeit beschmutzt ...lerne nichts, mein Junge, bleibe ...ach, das verlorene Reich der Interjektionen ... hui, da ist es.... ach, dein hoppla ...hoppla, dein juchheisasa ...juchhe, da schau... ogottogott , was kommt...“
Ich stand da, schwieg und sah Karajan seine Ausrufe mit Gesten begleiten, die ich später wieder erkannte als diejenigen, mit denen er seine Musiker zu Höchstleistungen anspornt.
Ich wollte mal ein Rappele machen und bat um Distanz.
Kleines Geschäft.
Ich ließ mir Zeit wie für ein Großes.
Ich kam zurück und Karajan hatte sich wieder gefangen.
„Ich bin der Heribert. Du wirst von mir hören.“
Heute sind wir Kollegen, sitzen im Künstlerzimmer und bereiten uns auf die Gala zum Gedenken an die Mauertoten vor.
Karajan beginnt mit seinen Yogaübungen, die letzte Phase unserer gemeinsamen Konzertvorbereitungen.
Während er versinkt, ziehe ich mich um, schaue mich gründlich an im Spiegel und probe das JA, ICH MUSS was mir so schwer fällt, der Schwachpunkt in meinem Repertoire.
Da klopft schon der Pedell. Wir betreten die Bühne.
Karajan, der alte Fuchs, dirigiert die Fledermausouvertüre auswendig. Entgegen allen Absprachen kehrt Karajan zurück zu seiner jahrelang gepflegten Praxis, nimmt damit in Kauf, dass ihn die große Kränkung des Dirigentendaseins wieder einholt. Seitdem vor 100 Jahren der Dirigent im emphatischen Sinne erfunden wurde, leidet dieser Berufsstand daran, sein Bestes zu verschwenden und nur mit dem Rücken zum Publikum zu stehen und die Konvulsionen seines Körpers, die Ausdrucksexplosionen in Gestik und Mimik an Musiker zu verschwenden, die oft genug in rein dienstlicher Angelegenheit unterwegs sind.
Was hat gerade Karajan nicht alles versucht, um diesen Missstand zu beheben!
Erinnert sei nur an seine (gescheiterten) Spiegelexperimente, an seinen Einsatz für Scharouns einmalige Idee, dem Publikum Plätze im Angesicht des Dirigenten zu bieten, oder an die schier lückenlose Dokumentation seines Wirkens auf Video.
Nun hat er mich also auf die Bühne gelockt und lässt mich dort ohne Aufgabe allein. Vor unserem großen Duett will er noch einmal die Rangordnung zwischen uns klarstellen, will noch einmal zeigen, dass es auch ohne mich geht, dass ich selbst eine Zugabe bin – ach, in solchen Momenten bin ich ganz gerührt von dem alten Mann! Wie wenig er versteht! Geprägt von harten Kriegs- und Nachkriegszeiten kann er nicht verstehen, dass genau diese Zugabenexistenz, zu der er mich zu degradieren glaubt, das innerste Verlangen meiner ganzen Generation darstellt, dass das, was er als in die Grenzen weisen versteht, letztlich das ist, was nachher den Jubel erst entfachen wird.
Genau, weil ich überflüssig und dennoch da bin, werde ich geliebt!
Die Liebe, ein Luxusprodukt.
Ich sitze beschäftigungslos zu seinen Füßen, kauere am Rand des Dirigentenpodiums und wiege mich sanft im Rhythmus der Walzerklänge. Mein kleiner Möchtegernnachfolger in Block A imitiert auch das. Von ihm droht doch keine Gefahr; das wird mir mit verschleiertem Blick klar. In seiner Mutter erkenne ich slawische Gesichtszüge, kleinbürgerliche Herkunft, dazu Kulturbeflissenheit, all dies gepaart mit Aufsteigersehnsucht: Sicherlich traktiert der Sohn täglich stundenlang die Instrumente. „Den musst du zu verdrängen versuchen, doch nicht mich“ rufe ich leise und denke dabei an den Maestro selbst, dessen spindeldürre Beinchen auf meiner Augenhöhe schon zu zittern beginnen, „Du wirst Dir Fähigkeiten erwerben, du wirst Klavier und Geige spielen lernen, du wirst dirigieren. Träume doch nicht von mir: ich kann nichts, das aber besser als jeder andere.“
Plötzlich nehme ich eine Woge von Frohsinn im Publikum wahr und finde: Ich sitze nicht mehr zusammengekauert zu Karajans Füßen, nein, ich finde mich am Podiumsrand sitzend, die Beine baumeln in den Zuschauerraum hinein, die Arme rudern in unmöglichen, aber desto süßeren Dirigentenbewegungen, und wenn ich mich nicht täusche, höre ich noch den Nachhall einiger gepfiffener Töne, die meinem Mund entfahren waren in selbstvergessener Entzückung.
Ach, die Fledermaus, das Fest des Dürfens, Lassens, des Mögens!
Ich mache sie glücklich, denke ich, sehe das Strahlen in den ersten Reihen und verschenke ein kurzes Zahnlückenlächeln.
Dann schon sind wir in Mahlers Neunter.
Ich stehe bei Karajan und bin sein getreues Spiegelbild, und doch viel mehr, denn keinerlei pragmatische Zwänge schränken meinen Ausdruckswillen ein. Der Maestro muss Menschen führen, den Musikerhaufen in die Einheit eines Klangkörpers pressen – ich muss gar nichts. Ich darf nur, das aber reichlich. Dass ich ihm umblättere, als Zugabe sozusagen, denn in die Partitur schaut er kaum einmal hinein, ist der letzte Rest von Notwendigkeit, an dem fest zu halten mir von mal zu mal mehr als Feigheit erscheint.
Dann Adagio. Tief im Blechbläserpianissimograu schleichen Töne einsam umher. Selbstvergessene hohe Streicher, die doch nur mal ausprobieren wollen, wie es sich blind auf Reisen anfühlt, trudeln herum. Eine Geige schwebt alleine durch den Tuttiklang, eine Irrläuferin unter lauter Blindgängern. Sie erschreckt die ungelenken blechernen Riesen schier zu Tode: Die verstummen, oder spielen weiter in ihrem Reich der unerhörten Geräusche, doch nun mit von uns dummen Hörern abgewandtem Gesicht und ohne Ohrenzeugen. Ihr Lebtag lang sind diese Tubenpfürze nicht auf die Idee gekommen, dass es noch andere ihresgleichen geben könnte – von diesem Schock werden sie sich heute nicht mehr erholen.
Man muss dabei gewesen sein, man muss gesehen haben, wie meine kindliche Urverwandtschaft zu den hunderten Ausrufewörtern unserer Sprache sich paarte mit meiner frühreifen Kenntnis des Sollens und des Müssens und des Dürfens, wie sich paarten Ausdruck und Konstruktion in unschuldigem Kindergesicht.
Da reißt der Jubel mich heraus aus Gedanken und versetzt mich in tosende Gegenwart.
Der Maestro schließt mich in seine Arme. Wäre er noch in der Blüte seiner Jahre, würde er mich nun hochnehmen, doch selbst meine 27 Kilo sind heutzutage zu viel für ihn. Er muss darauf verzichten, sich mit mir auf dem Arm ablichten zu lassen von den bereitstehenden Fotographen, was einem Manne wie ihm, der aus jedem Ereignis den größtmöglichen Erfolg herauszupressen weiß, äußerst schwerfallen muß.
Deshalb geht er in die Knie vor mir und beugt sich zu mir hinab.
Nun sehe ich das verschwitzte Gesicht aus nächster Nähe – es ist kaum noch menschlich zu nennen. Genau wie ich gibt der Maestro immer alles. Er murmelt Worte, nach deren Bedeutung ich am nächsten Tag von der heldengierigen Berliner Boulevard - Presse mehrfach befragt werde. Man nimmt dort an, dass bedeutende Männer Bedeutendes sagen – ein Irrtum aus meiner Sicht. Doch ich wäre der letzte, der die Journalistenmeute mit missionarischem Eifer zu bekehren versuchen würde. Ich hüllte mich in beredtes Schweigen, ein Ausdruck, der mir in seiner Blödigkeit sehr angemessen vorkommt. Schon während des ganzen letzten todestrunkenen Satzes von Mahlers Neunter hatte er nur noch „Wasser, Wasser“ gemurmelt, so dassich nun nicht überrascht bin, das es dieselben Worte sind, die er mir nun ins Gesicht stammelt. Immerhin verleiht die Summe der Eindrücke, also die brüchige Stimme, das ausgezehrte Gesicht, der tote Eindruck, den seine Hand in meiner hinterlässt, diesen Worten etwas von den hohen Weihen, nach denen die Journalisten so begehren. Vermutlich hätten sie, nach einem kurzen Moment der Enttäuschung sogleich verstanden, dass dieses „Wasser, Wasser“ beim Leser mehr Eindruck hinterlassen hätte als das erhoffte „Muß es sein.“ Elemente einer Blut, Schweiß und Tränen-Rede hinein zu schmuggeln in einen Bericht über die seelenzerfetzende Wirkung von Karajans Dirigat – könnte man sich etwas aus denken, was besser zum Anlass der heutigen Gala, dem Gedenken an die Mauertoten, passen würde?
Karajan tritt ab.
Dann beginnt das Warten auf die Zugaben an, ein wahrhaft festlicher Moment. Bei Zugaben kann nichts mehr schiefgehen, über die Zugabe kann sich niemand beschweren, der lauteren Gemütes ist. Sie sind der Höhepunkt eines jeden Konzertes. Hier herrscht Freiheit, bei der Zugabe ist Platz für Glück und Spontanität, bei der Zugabe entlässt der Markt die Kunst in die ersehnte Freiheit – vorher ist alles Gegenleistung für das Eintrittsgeld.
Gleich mir ist die Zugabe ein reines Geschenk.
In welch Höhen wird sich dieses Geschenk erst schwingen, wenn der Höhepunkt des Abends, die zweite Zugabe, von der noch niemand etwas ahnt - nur Elstermann, der Konzertmeister der Philharmoniker, weiß von unseren Plänen und hat sie missmutigst „zur Kenntnis genommen“ – das Publikum verzaubern wird.
Der Maestro kommt wieder. An seinem Gebiss erkenne ich sofort, was er heute spielen wird. Sein Mahler-Gebiss, nicht mehr als ein Zungengatter, das verhindern soll, dass dieses läppische Organ wieder unkontrolliert umherbaumelt wie damals in Tokyo (was den Maestro Unsummen für aufzukaufende Negative gekostet hatte) ist ausgetauscht gegen eines, das die Wangen aufmöbelt und seinen Zügen das Höchstmögliche an Lebenslust abzutrotzen vermag, das aus ihnen noch herauszukitzeln ist.
Auch das bewundere ich an Heribert. Nichts überlässt er dem Zufall. Er ist ein Meister der sublimen Publikumsmanipulation.
Auch der Ungarische Tanz geht vorbei.
Es folgt ein müder, pflichtbewusster Beifall für Lothar Elstermann, den in Fachkreisen hoch angesehenen Konzertmeister der Philharmoniker. Elstermann, der Tonleiterkönig, wie er halb bewundert, halb belächelt genannt wird, Elstermann, der alle denkbaren Tonleitern, in Terzen, Sexten und Oktaven schneller und sauberer spielt als jeder andere – Elstermann steht kurz auf, der Maestro drückt ihm kurz die Hand und dann versinkt er wieder in der Anonymität des Orchestertuttis, ein namenloser Weltmeister, der mit fünf Jahren begann, die Erfolgsleiter hoch zu klimmen, deren oberste Sprosse er nun erreicht hat - nur um festzustellen, dass die Aussicht kaum besser ist als im Orchestergraben zu Ulm, wo er einst als Aushilfe erste Erfahrungen gesammelt hatte.
Das ist das Schicksal kleinerer Geister, mühsam klettern sie nach oben; letztlich nichts als eine Fleißarbeit.
Es folgt der Höhepunkt des Abends.
Mit brüchiger Stimme kündigt Karajan an, was nun kommen wird: Das erste der drei Orchesterstücke opus 6 von Alban Berg in einer Fassung für Dirigenten und Umblätterer allein.
O, welch eine Stille hier im großen Saal!
Das Publikum kann`s nicht fassen, kann`s nicht glauben.
Wir lehren sie gründlich das Wundern.
Wir lassen sie im Unklaren über den Beginn der Aufführung, ganz im Geiste des Werkes, das ja bekanntlich mit einem geräuschhaften Schlagwerkrascheln beginnt, ein Anfang, den wir ausdehnen, denn wir sind uns einig, dass es Berg etwas zu kurz geraten ist.
Noch habe ich die Augen geschlossen und lausche dem zweitausendköpfigen Schweigen. Dann vernehme ich nach kurzer Zeit das Poltern der Pauken, allmählicher Übergang ins Reich der Töne. Langsam öffne ich die Augen gemeinsam mit dem ersten richtigen Klang, einem Ach- Darf? der Holzbläser, das sich in ein Ja, ich darf verwandelt beim dritten Versuch.
Und mit einer wahren Gewaltanstrengung reiße ich die Augen schreckensweit auf beim brutalen ´ Hinweg` des Blechs, einer reinen Interjektion ohne modale Beigabe.
Und blicke IHR direkt ins Auge.
Die Pelzstola hat sie in den Händen, ´wahrscheinlich Eichhorn` denke ich noch, ´das Eichhorn ist doch der Nerz des kleinen Mannes,` da steht sie schon auf, schwingt den Pelz um ihren Kopf, ´es ist doch Ratte` sehe ich nun an den gebleckten Zähnen und schon fliegt die Stola durch die Luft, schon dreht sie sich in turbulenter Hast, schon bin ich getroffen mitten auf der Stirn.
Ich wanke, doch ich falle nicht.
Doch ist es nicht das Bewusstsein, das mich auf den Beinen hält.
Bis zum tosenden Schluss setzt mein Bewusstsein aus. Ich erinnere nicht aus eigener Kraft den Schreckensschrei des Publikums, als die Ratte mich mitten auf die Stirn getroffen, ich erinnere nicht den zweiten Schrei, als das Blut aus meiner Stirn zu sickern begann und ich erinnere nicht das ungläubige Staunen des Publikums, darüber, dass ich einfach weitermache. Ja, Karajan und ich machen einfach weiter bis Bergs opus 6, Nr. 1 wieder im Geräuschhaften versinkt, aus dem es kürzlich erst entstiegen war.
Ich habe es nicht gehört, das gesammelte, atemstarre, zweitausendköpfige Schweigen im Publikum!
Diesem unerhörten Schweigen gegenüber verblassen alle anderen Nichterinnungen zu Marginalien: der Fastzusammenbruch Karajans, das Blumen-und Teddybärmeer, in dem ich irgendwann stand wie der erste Mensch. Selbst die Rebellion der nun doppelt in den Hintergrund gerückten Musiker erinnere ich nicht - angezettelt übrigens von den zweiten Geigen. Vom letzten Pult aus, von den Leihgeigern aus, war die Rebellion vorgedrungen und hatte sich zum Exzess ausgebreitet, der, laut Zeitungs- und Augenzeugenberichten, darin gipfelte, dass Elstermann, ausgerechnet Elstermann, der farblose Tonleiterkönig, sich aufs Podium schwang, den Dirigentenstab ergriff und das Zuchtgerät zerbrach in einer vielfach dokumentierten Aktion, in unerträglich lächerlicher, theatralischer Pose.
Man hat mir einen Stuhl untergeschoben.
Elstermann wird gerade abgeführt.
Ich lächle ins Publikum hinein.
Verdient wird immer nur am Mangel; am Glück hat noch keiner auch nur einen Pfennig verdient, ein unhaltbarer Zustand demzufolge – das muss man mir als Kaufmannskind nun wahrlich nicht erzählen.
Warum ausgerechnet dieser Satz es als erster in mein Bewußtsein schafft, kann ich nun wirklich nicht sagen. Ich lächle SIE an, die, von Polizisten umringt, in der fünften Reihe steht und IHN beschützend umarmt. Ach, wie dankbar bin ich IHR! Sie hat meinen Erfolg gesteigert ins Unermessliche, wenn auch in unlauterer Absicht. Nicht nur für mein Nichtskönnen wurde ich heute geliebt, ich habe es nicht einmal gemerkt. Ich wurde geliebt von zweitausend Menschen, das für nichts und ich habe es nicht einmal gemerkt!
Das nenn ich vornehme Nähe!