Die Liebe der Babys

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Die Liebe der Babys


1.) Etwa fünf Monate alt ...

Grauer Teint - ein hohler Blick, ähnlich dem eines blauäugigen Faultieres. Dazu noch – vom Saufen völlig aufgeschwemmtes Gesicht, umrahmt von einer fetttriefenden schwarzen Filzmatte als Bart und die Haare, schulterlang und von brüchiger Konsistenz. Das gefiel nicht bloß Hanno nicht. Abschätzig betrachtete er sich im Rückspiegel seines blauen Firmenvans.
Wie konnte es nur soweit kommen?
„Herr Smoley, ich verstehe ja, dass Sie zur Zeit zu wenig Schlaf bekommen! Aber Sie haben auch hier in der Firma Verantwortung zu tragen. Sie sind Finanzberater – kein Penner. Gehen Sie nach Hause und ...!“, hatte ihm sein Chef vor etwa zehn Minuten offenbart.
Ganz toll – jetzt musste er auch noch um seinen Arbeitsplatz fürchten.
Hanno griff in das Handschuhfach.
Der hatte ja überhaupt keine Ahnung. Hanno begann zu zittern. Der wusste nicht, was es bedeutete, Vater von Zwillingen zu sein. Von diesen ganz besonderen Zwillingen. Und Susie war schon wieder schwanger.
Hanno biss sich auf die Lippen und öffnete die Schapsflasche.
„Unsauber hat er gesagt! Für all das, sehe ich noch topfit aus!“
ER wusste aber sehr wohl, dass Herr Koch keine Spielchen spielte. Noch einmal so in der Firma aufzutauchen - das wäre nicht drinnen gewesen.
Hanno begann zu schwitzen, er nahm einen ausgiebigen Schluck.
"Phua!"
Aber alles nicht seine Schuld.
Und Susie? Verdammt, dachte sich Hanno.
„Never change a running system!“
Das hätte er sich früher überlegen sollen. Wie schön war doch das Leben. So schön, als sie noch zu zweit waren ...

Hanno hatte noch nicht einmal seinen Mantel ausgezogen, stürmte sie ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. Hanno wunderte sich, Susie schaute freundlich drein.
„Du bist schon da?“
„Ja, ähm …!
Susie fiel ihm ins Wort:
„Das ist so toll!“
Hanno grübelte weiter darüber. Warum war sie plötzlich so freundlich? War doch sonst nie so.
„Ich freu mich so, Hanno!“
Er schluckte. Eigentlich wollte er ihr gerade erzählen, das sein Chef ihn mittlerweile für einen heruntergekommenen Penner hielt - eigentlich. Das sparte er sich aber besser für später auf. Wollte er doch nicht riskieren, das Lächeln aus Susies Gesicht zu wischen. Dieses seltene „Naturschauspiel“.
„Was? Warum?“, fragte er.
Er wusste, dass jetzt wieder etwas von den Kindern kommen würde. Hoffentlich nicht wieder was sehr Ungewöhnliches. Aber diese Hoffnung hatte Hanno schon beinahe aufgegeben. Wenn es um die Zwillinge ging, war mit allem zu rechnen. Mit allem …
Man mochte ihn darüber für verrückt erklären. Aber er war es nicht. Niemand konnte verstehen wie das war. Leonni hat ihm letzten Sonntag gesagt ...
Leonni hat ihm gesagt, dass sie ihn hasst.
Hanno musste sich sehr beherrschen, dass er nicht gleich zu weinen anfing.
Dann sah er, wie sich Susies Lippen bewegten. Er wollte es aber nicht wissen. Nichts mehr davon, wie toll doch seine Kinder waren. Wie außergewöhnlich hochbegabt. Es war ein Fluch und kein Segen ...
„Bitte nicht ...“, dachte er sich. Doch Susie sagte es. Locker und leicht – voller Euphorie. Hanno spürte, wie sie ihm damit eine Last auf die Schultern legte. Er konnte sich nicht freuen. ER konnte sich nicht ...
„Leon hat …! Leon hat gesagt: `Mami – ich hab dich lieb!`“
Seine Finger schlossen sich fest um den letzten noch geschlossenen Knopf seiner Jacke.
„Was? Leon auch!“, entfuhr es ihm abermals. Panik stieg in ihm hoch. Was?
„Leon hat ...“, wiederholte er ihre Worte.
„Ja …“, sagte sie mit leuchtenden Augen.
„ … lieb! Ist das nicht – wundervoll?“

2.) Etwa sieben Monate alt ...

Leonni war eindeutig die Aufgwecktere der Beiden, dachte sich Hanno. Kein Wunder, dass sie auch den Ton angab. So dirigierte sie Leon nach ihren Vorstellungen herum. Er gehorchte. Und sie war auch die Listigere, wenn man diese Eigenschaft überhaupt einem knapp sieben Monate altem Säugling, zusprechen konnte. Aber Hanno hatte schon erfahren müssen, dass man das – jawohl, dass man das in manchen Fällen durchaus machen konnte.
Bei den beiden Kindern auf jeden Fall. Verzweifelt versuchte er seine zitternden Finger zu beruhigen. Er nahm sich das Bier vom Tisch.
„Wie schaffst du das nur? Listiges kleines, hinterhältiges Mistvieh.“, dachte er sich und genehmigte sich einen kräftigen Schluck.
Susie blickte vom Boden zu ihm hoch und schüttelte den Kopf.
"Jetzt säufst du schon jeden Tag, Hanno!"
"Ja, Papa! Besser weg gehn!"; Leonni lächelte Susie an.
"Ja, mein Schatz! Soll der böse Papa doch besser weg gehen!", sagte sie.
Hanno nahm noch einen Schluck.
„Ich hasse diese Kinder!“, dachte es sich und erschrack über sich selbst. Sein Blick fiel auf die kahlköpfige Leonni. Dann wieder auf Susie. Ihr Gesicht wirkte eingefroren.
Leonni streckte ihm die Zunge entgegen. Hanno ersparte es sich was dazu zu sagen.
„Na los, du kleine Kuriosität. Sag schon, dass du Papa auch hasst! Los! Aber so, dass es auch die Mama hören kann. Nicht? Ach schade!“, spann Hanno seine Gedanken weiter.
„Damit der Trampel endlich kapiert, was los ist!“, Hanno zuckte zusammen.
"Oh Gott!"
Sein Magen verkrampfte sich.
„Warum nur? Warum nur haben wir kein beschissenes Kondom verwendet auf dem scheiß Teppich?“
Hanno hatte durchaus eine passende Antwort parat.
„Währende der Stillzeit – da konnte eine Frau doch nicht schwanger werden!“, dachte er und kam sich wie ein Idiot vor. Denn weit gefehlt. In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm. Gierig griff er nach dem Bier ...
„Vater werden ist nicht schwer ...“
„ … aber sein ...“
Denn das da, befand er, war doch der beste Beweis. Diese, diese …
Er rülpste.
„ … auf keinen Fall gewöhnlichen Kinder.“
Waren die überhaupt von ihm? Diese Frage schien ihm begründet. War es normal, was Leonni gerade getan hatte? Mit kaum sieben Monaten?
„Hanno, bringst du mir einmal die Feuchttücher?“, sagte Susie und bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick. Hanno wunderte sich nicht, dass Susie kein Wort darüber verlor. Sie sagte ja nie etwas. Höchstens wie stolz sie war. Das aber auch immer seltener. Die Zwillinge trieben einen Keil zwischen sie ...
„Sicher – warte, ich gehe schon!“, sagte Hanno. Und er war erleichtert. Jede Sekunde ohne die Kinder war wie Urlaub.
"Nur weg von diesen, diesen Mistdingern.", dachte er und erschrak erneut.
Verflucht, woher kam nur diese Aggression? Er erkannte sich bald selbst nicht mehr.
Seine Finger begannen schon wieder zu zittern. Das hatte bald einen pathologischen Stand erreicht, fand Hanno. Er nahm ich noch einen stärkenden Schluck Bier und ging mit langsamen Schritten ins Bad. In die Hocke vor dem Unterbau des Waschbeckens. Türe auf.
Hanno fragte sich, wie das nur möglich war. Fing er an verrückt zu werden? Für Susie war das alles ja scheinbar völlig normal. Die steckte überhaupt mit den Zwillingen unter einer Decke. Hanno zuckte zusammen. Decke? Ja, er war zwar noch nicht verrückt - aber ein klein wenig paranoid. Oder? War jedoch nicht verwunderlich, dachte er.
Seine Tochter hatte es ja gerade bewiesen. Endgültig bewiesen, dass die Zwillinge keine durchschnittlichen Kinder waren. Dann griff er sich die Packung Feuchttücher aus dem Kästchen.
„Wie hat sie das nur gemacht?“
Als Mahnung hörte er tapsende Kinderfüße hinter ihm. Hanno schreckte hoch.
„ ... einfach aufgestanden und gelaufen. Die ist …“
„Papa! Schneller – Bruder will nicht! Will nicht warten ...“, Leonni sah im direkt in die Augen. Ihre blauen Augen wirkten kühl - eisig, wissend ...
Das Grausen, das er empfand, war unermesslich. Leonni lächelte.
„Los. Papa! Papi? Kommen jetzt. Leon böse wird.“
Hanno wusste bald nicht mehr, ob er sich das alles einbildete oder nicht. Sein Verstand protestierte. Wie immer, wenn Leonni den Mund aufmachte. Das konnte doch gar nicht stimmen. Erst gestern hat er die Kleine von seinem Kollegen Michael gesehen. Kein Wort konnte die sprechen. Aber das Kind war schon fast zwei Jahre alt. Hanno hatte Angst …

Die Katze schrie. Unglaublich qualvoll – Hanno wurde wach. Er richtete sich auf. In seinem Mund schmeckte es nach abgestandenem Bier. Sein Schädel dröhnte.
„Moment mal – Mucki?“
Hanno spürte es sofort– etwas war nun ganz und gar nicht mehr in Ordung. Das lag nicht an seinem Kater – das lag an der Katze. Er sollte Recht behalten.
Vorsichtig stieg er vom Sofa, hielt inne und lauschte in die Dunkelheit. Angestrengt – es blieb still. Er setzte sich in Bewegung. Öffnete vorsichtigt die Wohnzimmertüre und trat raus in den Flur. Ganz leise. Auf Zehenspitzen. Und auf Höhe des Badezimmers hörte er was.
„Flüstern?“
Das kam eindeutig aus der Küche. Hanno schlich weiter.
„Pfch! Katzevieh! Pfch!“, hörte er es wispern.
Dann etwas lauter: „Nicht mehr! Nicht mehr – pfch!“
Hanno schlug das Herz bis zum Hals. Seine Finger drückten auf den Lichtschalter.
„Pfch!“
Es dauerte länger als nur ein paar Schrecksekunden. Bedeutend länger, bis Hanno diesen Anblick verkraften konnte. Sein Verstand musste das erst noch richtig weichkauen, bevor er es hinunterschlucken konnte. Blankes Entsetzen.
Was hatte er nur verbrochen? Was hatte er nur getan? Dass er so eine Brut verdient hatte? Entsetzt blickte er auf Leonnis Hand. Auf die mit dem Zwiebelmesser. Blut rann die Klinge hinunter ...
„Gott – was! Mucki?“
Hanno schnappte nach Luft.
„Oh Gott!“
Leonni sah zu ihm hoch. Ihre rosa Kleidchen waren blutverschmiert. Hanno glaubte den Verstand zu verlieren.
„Papa?“
Ein Stück Fell der Katze klebte auf Leonnis ansonsten kahlen Kopf! Leon stand ein paar Schritte vor seiner Schwester entfernt.
„Papa?“, fragte Leonni nochmal.
„Papa! Katzevieh nicht mehr >Pfch<! Leonni hat kaputt gemacht!“
Hanno erbrach sich - sein Verstand hatte sich gerade verschluckt.
„Oh nein, nein, nein ...“
Ein grauer Schleier drängte sich in sein Blickfeld und seine Beine wurden taub. Hanno verlor das Bewusstsein ...

3.) Etwa siebeneinhalb Monate alt ...

Hanno wollte jetzt unbedingt ein Bier.
„Verdammt! Was soll ich jetzt nur tun! Koch wird mich feuern!“
Hanno stand auf.
„Susie! Ich weiß, dass ich es nur dir erzählt habe!“, dachte er.
„Du dumme Kuh! Scheiße!“
Hanno verlor langsam die Kontrolle. Die Beherrschung ...
Der Druck wurde allmählich zu groß. SEIN Verstand nahe daran zu zerbrechen. Er fing an, sich selbst Leid zu tun. Er war aber scheinbar der einzige. Denn selbst die werten Nachbarn schauten ihn komisch an. Wie einen Freak. Wie das größte Arschloch auf Erden. Und er glaubte es ja selbst schon bald.
"Das größte Arschloch auf Erden!"
Und würde er auf ewig im Höllenfeuer verbrennen - nicht auch nur irgendwer würde ihm eine Träne nachweinen.
Seine Finger verkrampften sich - man konnte sagen, standardmäßig. DAS, dachte er. Das hatte er auch bald nicht mehr unter Kontrolle ...
Das alles!
Hanno wäre am liebste gestorben - aus Scham.
Ja, dieser verfluchte Bericht in der Regionalzeitung. Klang haargenau so, wie er das Susie erzählt hatte! Einfach spitze! Hatte er nicht schon genug Probleme? So ein verdammt peinlicher Artikel. Klar, dass jetzt alle dachten, dass er einen Vollschaden hatte. Hanno ging in die Küche und holte sich ein Bier.
„Das ist ja nicht mehr zu Aushalten – so eine Scheiße ...“
Aber was, wenn er IHR die Wahrheit gesagt hätte? Dann hätten sie ihn vermutlich einsperren lassen. Und Susie hätte ihm auch, niemals geglaubt.
„Niemals!“
Hektisch öffnete er die Flasche.
"Hasste Susie ihn etwa? Sowas macht man doch nicht?"
Er lächelte. Es war ein bitteres Lächeln.
Angestrengt versuchte er zu eroieren, wann dieser ganze Wahnsinn angefangen hatte. Und egal wie viele Parameter er ins Spiel brachte. Letztlich blieben nur zwei Faktoren übrig ...
Aber Auch Susie wurde immer seltsamer. Das Ungewöhliche breitete sich aus. Leonni war. Sie war wohl der Katalysator ...
Hanno schloss die Augen. Er atmete durch.
"... der Katalysator!"
Er begann zu zittern und sah auf die Zeitung.
„Verdammt! Es wäre ein Wunder, wenn mich Koch nicht rauswerfen würde.“
>>Blutiges Ritual? Vater sagt, es war ein Unfall ...<<, stand da, in fetten Buchstaben.
Schlimmer konnte es nicht mehr werden, dachte er. Obwohl: Susie und die Kinder würden heute wieder nach Hause kommen ...

Susie trat mit ernster Miene aus dem Schlafzimmer und schloss vorsichtig die Türe. Sie wirkte älter als sonst. Hanno wusste nicht genau woran es lag. Doch irgendwie hatte Susie nichts Begehrenwertes mehr für ihn. Ihr Verhalten war untragbar geworden ...
Hanno lächelte kalt, als sie sich zu ihm auf das Sofa setzte. Und es war wirklich nichts mehr da, wunderte er sich. Kein zärtliches Gefühl oder Verlangen. Alles weg.
Susie strich sich eine blonde Strähne aus den Augen und fuhr sich über ihren Bauch. Hanno schaute auf die Seite. Er fühlte sich betrogen. Von ihr, vom Leben ...
„Hast du wieder getrunken?“, fragte sie. Hanno überdrehte die Augen.
„Das ist das Einzige was du wissen willst? Du warst mich nur einmal besuchen im Krankenhaus!“
„Krankenhaus? Du meinst wohl Nervenklinik!“
Hanno schluckte.
„Die Leute reden über dich! Weißt du, was meine Mutter gesagt hat? Das ist mir alles so peinlich ...“
Hanno seufzte und strich sich über den fettigen Bart.
„Will ich gar nicht wissen!“
„Sie hat gesagt, dass du total überfordert bist. Dass du irgendeine Show abziehst, damit ich dich rauswerfe und du gut dastehst! Sag mal ...“
Hanno drehte sich zu ihr. Seine Miene war finster. Glaubte Susie tatsächlich, dass das alles nur eine Show war. Das mit Mucki – glaubte sie, dass er seine liebe Katze tatsächlich selbst abgeschlachtet hatte? Damit sie ihn rauswerfen würde? Und dass er das alles über Leonni nur zum Spaß erzählte?
„Ist mir egal! Auch was in der Zeitung steht! Wie ist das überhaupt rausgekommen?“
Susie senkte den Blick.
„Ach! Na du!", log sie.
"Du hast es doch allen im Krankenhaus erzählt, als du erwacht bist! Von mir hat niemand was! Ich habe einfach nur gesagt, dass ich dich ohnmächtig in der Küche gefunden habe! Hanno.“
Susie zog ihre Schultern nach vorne. Hanno hasste sie dafür. Er würde sie immer hassen. Sie raubte ihm die letzte Kraft ...
„Was?“,sagte er.
„Ja! Kann ich auch nichts machen, wenn du so blöd bist!“
„Was?“
„Ja!“
Susie triumphierte. Hanno stand auf. Er hielt es kaum noch aus. Seine Hand ballte sich zur Faust.
„Na klar!“, fauchte er.
„Du bist ja eine tolle Frau! Zum Pferdestellen!“
„Wohl eher nicht!“, sagte Susie:„Dafür bist du mir zu unfähig!“
Hanno verließ den Raum. Er musste …
Er musste weg hier. Bevor noch ein Unglück geschah.

4.) Etwa zehn Monate alt ...

„Ganz normale Kinder?“
Es war Sonntag und Hanno beobachtet vom Sofa aus, wie Leon mit den Bauklötzen spielte. Leonni hing an Mamas Brust.
„Ganz normal?“
Mit Entsetzen betrachtete er die Zeichnung in seiner Hand. Die hatte Leon gemalt. Sie zeigte fünf Figuren. Woher konnte er nur wissen, dass ...
Auf der einen Seite der Zeichnung standen offenbar Susie, Leonni und Leon. Alle drei lächelten. Auf der anderen Seite er und ein kleines Baby. Der Gesichtsausdruck dieser Figuren wirkte traurig. Hanno schluckte. Eine unsägliche Müdigkeit breitete sich in ihm aus.
"Und das jetzt!"
Denn die letzten Wochen waren ja relativ ruhig gewesen. Klar, hatte sich am Verhältnis zu Susie nichts geändert. Natürlich auch nichts an seinen Gefühlen zu den Zwillingen. Aber, und das war unheimlich, hat es keinen weiteren Vorfall mehr gegeben. Ob es daran lag, dass er es vermied mit den Kindern alleine in einem Raum zu sein? Was nicht schwierig war – arbeitete er doch seit einiger Zeit immer so lange, dass die Zwillingen verlässlich nicht mehr wach waren, wenn er nachhause kam. Was zu einem Großteil diesem beschissenen Artikel zu verdanken war. Hart musste er daran arbeiten, dass sein Chef ihn nicht rauswarf. Niemand redete mehr mit ihm – in der Firma.
Hanno verzog das Gesicht.
„Nette Familie! Was für ein Glück ...“, sagte er. Susie ignorierte ihn.
Und falls es keine Arbeit gab, ging er eben noch kurz zu Britany. Nur um nicht diesen schäbigen Gefühlen ausgesetzt zu sein. Diesen abwertenden Gefühlen. Nur die Wochenenden, die waren hart. Wie heute zum Beispiel.
Hanno nahm sich das Bier. Egal. Fakt war, dass die Tests nach diesem Vorfall in Wien nicht ergeben hatten, dass Leonni und Leon hochbegabt waren.
„Alles ganz normal? Lediglich die motorische Entwicklung! Spitze ...“
Hanno sah argwöhnisch wie Leon den fünfzigsten Bauklotz übereinander schlichtete.
„Die motorische Entwicklung ...“
Dann nahm er einen ausgiebigen Schluck – Leon sah ihn an.
„Pfch!“
Hanno machte sich gar nicht die Mühe, Susie darauf aufmerksam zu machen. War ja nur ein simples >Pfch!“.< Keinesfalls eine Anspielung auf Mucki. Nein, keinesfalls.
Hanno stellte die Dose zurück auf den Tisch. Leon lächelte.
„Papa! Pfch ...“
Im Augenwinkel sah Hanno wie Leonni den Kopf zur Seite drehte.
„Papa! Katze kaputt gemacht ...“, ihre Augen funkelten dämonisch.
„Ja, Papa hat die Katze kaputt gemacht, mein Schatz!“, sagte Susie. Ihre Stimme klang zärtlich. So voller Liebe. Hanno war es, als müsste er ihr gleich eine reinhauen.
Aber ER beobachtete sie nur. Er ...
Er fühlte …
…sich dumpf …

5.) Etwa zwölfeinhalb Monate alt ...

ER fasste es noch immer nicht. Mit tränennassen Augen nahm er diesen unsäglichen Zettel. 2856 Euro. Sein letzter Gehaltszettel. Es schnürte ihm die Kehle zu. Was wohl Susie dazu sagen würde. Sein Chef hatte ihm heute gekündigt.
„Herr Smoley, als Mann, der die Firma nach außen hin vertritt, sind Sie untragbar geworden. Wissen Sie, die Hälfte Ihrer Klienten hat schon das Weite gesucht!“
„Aber ...“, hatte Hanno geantwortet.
„Nicht aber, Herr Smoley! Es tut mir Leid!“
Herr Koch hat ihn darauf ins Sekretariat gebeten, wo er seine Schlüssel abgeben musste.
„Bis Montag haben Sie Zeit, ihr Büro auszuräumen.“
„Klar, Herr Koch. Ich verstehe Sie!“
Doch Hanno hat in Wahrheit gar nichts mehr verstanden. Und er fühlte sich gerade so mies wie noch nie.
Dieser Zustand sollte sich auch nicht bessern, befürchtete er. Im Gegenteil. Bald würde alles – ja alles nur noch viel schlimmer werden.
Hanno drückte die Zigarette aus.
In drei Wochen würden die kleinen Bastarde Verstärkung erhalten. In drei Wochen. Hanno griff nach einer weiteren Zigarette. Verdammt! Wer zum Teufel, sollte das alles bezahlen?

6.) Etwa vierzehn Monate alt ...

Es war ein weiteres Mädchen. Hanno wurde es warm. Ein Mädchen – ein richtiges, ein normales Mädchen.
Mari. Dieser Name gefiel ihm.
„Mari!“, sagte er zu Susie.
„Ein schöner Name!“
Hanno bemerkte gar nicht, dass Susie inzwischen eingeschlafen war.
„Mari!“
„Papa?“
Hanno sah zu Leonni rüber. Hass war in ihren Augen. Purer Hass. Hanno blickte auf den Boden.
„Leonni Mari nicht lieb! Leonni Papa nicht lieb!“
Hanno tat so als würde er das nicht hören und bestaunte weiterhin dieses kleine Wesen vor ihm im Stubenwagen.
Ja, das Unglück war immer kleiner geworden in der letzten Zeit, fand er. Sogar Susie schien ihn wieder etwas zu mögen.
„A tu tu tu! A tu tu tu!“
Vor ein paar Wochen hätte er das selbst niemals für möglich gehalten. Aber jetzt war er froh über dieses Kind. Über Mari. Er liebte sie so. Er konnte sie lieben.
Zärtlich streichelte er seiner TOCHTER über das flauschige Haar.
Es war alles so schön. Ganz gleich, was auch passiert war. Hanno fühlte sich derzeit so ausgeglichen.
„A tu tu tu! A tu tu tut!“
Das Schlimmste war nicht eingetroffen. Mari war ein liebes, ein normales Kind.
„Na meine Süße!“
Gleichgültig was mit den Zwillingen war. Er hatte wieder einen Grund, zuversichtlich zu sein. Mit strahlenden Augen blickte er zu Susie auf dem Sofa.
So ein süßes Baby. Wie die Mama. Hanno lächelte und bemerkte gar nicht wie schizophren das alles eigentlich war. Sein Verhältnis zur Familie. Und tief in ihm drinnen, brodelte die Furcht. Gärte die Vergangenheit. Er bemerkte es nicht, aber seine Finger zitterten wieder …
„Mari, Mari, Mari ...“
Er blickte nochmal zu Susie.
„Ach, ist deine Mama nicht schön, mein Schatz?“
Es gab nun nichts mehr, was ihm diese Freude nehmen konnte, dachte er. Nicht einmal die Zwillinge.
Dann zog jemand an seinem Hosenbein. Er drehte sich um und blickte nach unten.
„Papa! Leonni hasst Mari! Leonni hasst Papa!“
Seine Hände verkrampften sich.
„Nicht einmal die Zwillinge ...“

7.) Etwa sechzehn Monate alt ...

Besserung braucht Zeit, dachte sich Hanno, während er das Stiegenhaus nach oben huschte. Ja, und es sah ganz danach aus, als würde jetzt wieder alles besser werden.
Denn das Vorstellungsgespräch heute war total gut gelaufen. Es war super, dass er bald wieder als Vermögensberater arbeiten würde können. Bei S&T Finanzberatung. Das war auch höchste Zeit. In einer anderen Stadt zwar, aber es machte ihm nichts aus. Die langen Anfahrtszeiten. Mari war jetzt neun Wochen alt. Alles verlief ruhig. Die Zwillinge beachtete er gar nicht mehr. Hanno lächelte. Und Susie! Er war gespannt was sie dazu sagen würde. Zu seinem neuen Job. Er konnte es kaum erwarten, es ihr zu erzählen. Ja, das ging jetzt wieder gut mit ihnen und er war schon länger nicht mehr bei Britany gewesen.
„Susie, Susie, Susie! Mari, Mari, Mari ...“, summte er vor sich hin.
Freudig steckte er den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Türe.
„Hallo, mein Schatz! Bin wieder da!“
Doch Hanno erhielt keine Antwort.
„Hallo?“
Nichts. Kein Ton. Hanno wunderte sich. Wo waren die denn alle? Suchend wanderte sein Blick den Flur entlang. Das war aber seltsam, dachte er sich. Alle Türen geschlossen. Ungewöhnlich.
„Meine Allerliebsten? Ist euch was passiert?“
Hanno wurde etwas nervös. Die Zwillinge?
„Hallo!“, seine Finger begannen zu zittern. Die Haut seines Gesichtes wurde blass.
Noch immer nichts, dann entdeckte er einen Zettel auf dem Boden. Hanno ging hin und bückte sich.
„Was zum Teufel?“
Seine Finger verkrampften sich um das Blatt. Sein Atem beschleunigte sich. Es war die Zeichnung von Leon, Nur sah sie nun völlig anders aus.
„Susie! Mari?“
Hanno sprang auf, der Zettel fiel auf den Boden.
„Mari!“, brüllte er, während er noch einmal verzweifelt auf den Zettel starrte. Auf das blutrote Kind - auf Mari. Auf seine durchgeschnittene Kehle. Die anderen drei lächelten noch immer ...
„Nein!“
Sein Lebenswille schwand dramatisch. Hanno schluchzte - mit festem Blick auf dem Stück Papier. Er wusste es, er konnte es nur nicht glauben. Das Glück, es war …
Es war gestorben. Für immer weg. Er wusste es in dem Moment, als er sechs krakelige Buchstaben unter der Zeichnung entdeckte.
LEONNI.
Unter diesem Horrorbild.
Hanno rang nach Atemluft. Aber, dachte er. Aber, vielleicht war es nur ein Scherz, oder eine bösartige Drohung?
Ja, denn sowas konnte nicht sein! Das konnte kein vierzehn Monate altes Kind zu Stande gebracht haben. Sowas nicht. Seine Augen hefteten sich nochmal auf jedes Detail der Zeichnung. Sezierten jeden Millimeter.
„Wie sollte das denn gehen? Das können sie gar nicht! Das können sie gar nicht!“
Hanno stand auf. Das konnten sie nicht! Langsam ging er den Flur entlang und näherte sich der Wohnzimmertüre.
„Nein! Ein Scherz! Nur ein Scherz!“
Seine Hand drückte die Klinke nach unten.
„Wie denn?“
Hanno öffnete die Türe.
„Hallo Papa!“, sagten die Zwillinge im Duett.
Hanno erschrack. Er sah zu Susie. Sie strahlte ihn an. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Hannos Knie gaben nach. ER spürte einen kalten Dorn in seinem Herzen.
Leon begann lauthals zu lachen.
„Papa?“, Leonni zeigte auf das rote etwas vor ihr auf dem Boden.
„Papa! Mari nicht mehr lieb! Leonni hat kaputt gemacht!“
Sein Verstand erbrach sich. Mit letzter Kraft starrte er auf das, was die Zwillinge von ihr übrig gelassen hatten. Dann erst hörte er ein Schluchzen. Er sah auf.
„Susie!“, hauchte ein letzter Teil in ihm. Der Rest seiner Seele. Susie sah ihm tief in die Augen. Ihr Mund zeichnete ein zaghaftes Lächeln in ihr Gesicht.
„Heul, Heul! Hanno – hahaha ...“
„Susie! Was – oh mein Gott! Susie?“, winselte Hanno.
„Papa?“, Leonni trat auf ihn zu.
„Wieso?!“
Susie zuckte mit den Achseln und nahm Leons Hand.
„Weil ich meine Kinder liebe!“
„Auch Mari war dein Kind!“, brüllte er sie an.
„Nein, Mari war dein Kind, Hanno! Nur deins ...“
Hanno schrie. Dann fasste ihm Leonni auf die Schulter.
Ihre blauen Augen strahlten.
„Papa?“, sagte sie mit engelhafter Stimme.
„Papa? Wird schlafen gehen?“
Leonni lächelte. Dann streckte sie ihm das Messer entgegen. Hanno blickte in Susies Augen. Einige Augenblicke war es still. Leonni wartete geduldig.
Susie überdrehte die Augen.
„Los doch! Tu es! Verpiss dich endlich aus unserem Leben!“, sagte Susie.
„Aber …!“, Hanno resignierte.
„Damit kommst du sowieso nicht klar, du Pfeife.“
Hanno stimmte ihr im Gedanken zu. Ja, damit würde er nicht klar kommen.
„Na los! Leonni wird nicht ewig warten!“
„Ja, Mama Recht haben.“, Leonni lächelte fröhlich.
Dann traf Hanno die einzige noch vertretbare Entscheidung.
„Ja!“, sagte Hanno: „Papa wird schlafen gehen!“
Zittrige Finger schlossen sich um die Klinge.
„Papa? Jetzt Leonni Papa lieb!“
„Ich weiß, mein Schatz! Ich weiß!“
Ein letztes Mal blickte er in Susies blaue Augen. Dann drückte er sich die Klinge in den Bauch. Alles wurde warm.
„Aja! Die Zeichnung ist von mir!“
Aus Hannos Mund schoß Blut.
„Das wär ja was? Wenn das die Kinder gemacht hätten ...“ , sagte sie.
Ein archaisches Gurgeln war das letzte Kommentar, zu dem er gerade noch fähig war ...
 



 
Oben Unten