Die Marienerscheinung

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

casagrande

Mitglied
Die Marienerscheinung


Es war ein bedeckter Herbsttag. Günstig, um eine kleine Bergtour zu unternehmen. Georg und ich wählten den Zunterkopf, eine etwa 2000 Meter hohe Felsengruppe im Tiroler Inntal. Wir mussten uns erst in einem Gebirgsbachlauf steil über die Steine balancierend etwa zweihundert Höhenmeter bis zu einem versteckten Wegeinstieg hinauf quälen, dann führte ein Steig durch den Steilwald in Serpentinen bis zu einer Alm. Die steilen Wiesen in den Lichtungen und der felsige Untergrund hatten wohl zur Aufgabe des Almbetriebes geführt. Jetzt waren Wohnraum und Stall von den männlichen Pensionisten des am Fuße des Berges liegenden Dorfes übernommen und die Wegweiser, Marterlsprüche und Anweisungen auf den Tafeln in der Umgebung zeugten von deren Bemühungen, sich zu beschäftigen. Natürlich kamen auch wir nicht vorbei, ohne die üblichen Sprüche zu hören. Wie fit sie doch mit siebzig Jahren noch wären und statt der angeschriebenen zwei Stunden nur ein und eine viertel Stunden bis zur Alm bräuchten. Wir hatten mehr als zweieinhalbe Stunden benötigt. Nun, wir sausten auch nicht, wie die Ortsansässigen, jeden Tag hier herauf. Und dann kam dieses Sammelsurium von Altmännergeschichten, über Saufereien und Pöbeleien, Wirtshausstreitereien und Dorfhandgreiflichkeiten, Klatsch und Prahlerei, das nur unter Gleichgesinnten ausgesprochen werden kann, weil andere längst nicht mehr zuhören.
Vielleicht kann man von Hochgebirgsstumpfsinn reden, aber in ähnlicher Form sind diese Altmännerzirkel in den Parks von Seoul zu finden, in den Cafes in Larnaka oder eben hier, an den Hängen des Zunterkopfes.
Zwar wird von den Touristen die Mär kolportiert, die Älpler wären nicht imstande, die Wirklichkeit wahrzunehmen und nehmen zum Beweis deren Politiker, aber das scheint doch zu platt. In Zeiten, in denen weder Radio noch Fernsehen den Blick über den Tellerrand erlaubten war sicher eine Gewisse Rückständigkeit in geisteswissenschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht unbestreitbar. Die Herren vom Zunterkopf waren noch in der Vergangenheit und wir verabschiedeten uns baldmöglichst.
Der weitere Anstieg war im freien Fels, beinahe zu klettern. Wir kamen einigermaßen außer Atem nach weiteren zwei Stunden af den Gipfel.
Die Eintragungen im Gipfelbuch, das in einer Schatulle am Gipfelkreuz befestigt war, spiegele das übliche Niveau wider. Von bemüht lustig bis nationalistisch. Dazwischen Verse und Grüße an Leute, die das niemals lesen würden. Unsere Eintragung unterschied sich nicht von den anderen.
Um nicht auf demselben Weg wieder hinunter zu steigen, wählten wir den Abstieg über das Grat zum angrenzenden Halltal. Die Wolken hingen tief über die gegenüberliegenden Berge, die Sonne schien in Streifen hindurch. Während ich auf die Salzlagerminen im Halltal hinunter schaute, sah ich plötzlich in einem Lichtkreis in der Luft auf meiner Höhe eine sitzende Figur. Untrüglich eine Madonna, wie man sie oft auf Votivtafeln oder Altarbildern in Wallfahrtskirchen sieht oder wie sie in christlichen Büchern als Illustration zu finden sind.
Die Überraschung war einige Minuten überwältigend, mitten am Himmel , vielleicht hundert Meter entfernt, klar zu erkennen, diese Erscheinung in einem Kranz in Regenbogenfarben. Nach einiger Zeit wagte ich zu winken. Die Person in der Luft winkte zurück. Fast gleichzeitig. Ich war zu ergriffen als dass ich zu Georg laut etwas sagen konnte. Darum flüsterte ich fast:
„Schau dir das an! Eine Marienerscheinung!“
Er erwiderte völlig unbeeindruckt:
„Warum Marienerscheinung? Das ist doch ganz einfach zu erklären! Die Sonne steht hinter uns und das, was du da siehst, das bist du selber. So etwas sieht man hin und wieder vom Flugzeug aus. Da fliegt ein Flugzeug in einem Lichtfleck, und dabei ist das das eigene.“
Ich ging zwei Meter weiter, die Erscheinung war weg. Ich ging zurück, sie war wieder da.
Georg frotzelte:
„ Na, wirst du jetzt eine Marienkapelle hier errichten? So wie es vor dir schon all die anderen Leichtgläubigen getan haben, die keine Ahnung von Physik hatten? Darum gibt’s doch diese Bilder mit den Hirschen und dem leuchtenden Kreuz zwischen ihren Geweihen! Aber heutzutage, wo jeder über Lasershow Bescheid weiß, da sollte dieser Aberglaube vorbei sein!“
Ich stand weiter auf dem Grat und war beeindruckt. Langsam verblasste das Bild. Ich drehte mich um zu Georg und wollte ihn fragen, woher er seine Erkenntnisse über derartige Erscheinungen habe. Aber ich sah ihn nirgends. Ich rief nach ihm. Nichts. Ich rannte zurück zum Kreuz. Auch dort war er nicht. Er war einfach nicht mehr da.
“Hör` auf mit dem Scheiß! Wo bist du denn?“ schrie ich. Aber so sehr ich auch tobte und herumsuchte, ich fand ihn nicht. Schlussendlich ging ich alleine ins Tal hinunter.
Von dort rief ich voll Sorge bei ihm zu Hause an. Seine Frau erklärte mir, Georg wäre den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen!
 



 
Oben Unten