Die Menschen auf Bahnsteig 3

Raniero

Textablader
Die Menschen auf Bahnsteig drei

Meine bessere Hälfte – ich schätze sie sehr, schon allein aufgrund der Tatsache, dass sie aus den Millionen und Abermillionen meiner Geschlechtsgenossen ausgerechnet mich herausgepickt und was noch schwieriger wiegt, schon so lange Zeit an sich gebunden hat - sie hat ein spezielles Problem.
Ein Problem mit den Menschen auf Bahnsteig drei.
Nun wird man fragen, was es damit Besonderes auf sich hat.
Sind die Menschen auf Bahnsteig drei etwa eine besondere Spezies?
Sie sind es nicht.
Eher schon die auf Bahnsteig vier.

Im Hauptbahnhof meiner Heimatstadt hat der Bahnsteig vier eine besondere Bedeutung. Von hier aus fahren alle wichtigen Züge, ob Intercity ,Eurocity oder ICE, in den Süden. Überwiegend werden diese wichtigen Züge von wichtigen Zeitgenossen, oft sind Krawatten- und Schwarzkofferträger darunter, benutzt.
Was hat es nun aber auf sich mit den Menschen auf Bahnsteig drei?
Auf Bahnsteig drei, so behauptet mein Weib, stehen nur normale Menschen; Menschen wie du und ich. Otto Normalverbraucher eben.
Sie könnten auch auf anderen Bahnsteigen vorzufinden sein, beispielsweise auf fünf, sieben oder gar auf Bahnsteig neun.
Meine bessere Hälfte beharrt darauf, dass sich die normalen Menschen auf Bahnsteig drei aufhalten.
Wenn sie irgendwo, sei es in Funk oder Fernsehen, Politiker hört oder sieht, die in gestelzten Rede unverständliche Dinge vor sich hin bräseln, dann sagt sie sofort:
„Warum können sich diese Leute nicht so ausdrücken, dass es die Menschen auf Bahnsteig drei verstehen können?“
Liest sie in der Tageszeitung einen Artikel, welcher, dermaßen mit Fremdwörtern gespickt, ohne die Kenntnisse des großen Latinum und des Gräcum nicht nachzuvollziehen ist, fragt sie verärgert: „Ist das ein Beitrag für den Bahnsteig drei?“
Ist irgendeine Gebrauchsanweisung, zum Beispiel eines Haushaltgerätes, so abgefasst, dass man, um sie zu verstehen zu können, mindestens den Abschluss als Diplomingenieur in verschiedensten Fachrichtungen aufweisen müsste, wird sie wütend: „Warum formulieren die Hersteller dieses Produktes die Gebrauchsanweisung nicht allgemeinverständlich? Wie soll der Mensch auf Bahnsteig drei dieses Kauderwelsch verstehen?“

Um den Problemen meiner besseren Hälfte auf den Grund zu gehen, beschloss ich, eine Probe auf‘s Exempel zu machen. Ich bewaffnete mich mit einigen Kopien der Gebrauchsanweisung unserer Küchenmaschine und betrat den Bahnsteig drei in unserem Hauptbahnhof.
Es musste doch herauszufinden sein, wie diese Menschen dort wirklich sind, was sie denken, was sie fühlen. Ich begann, die Kopien an die auf ihren Zug wartenden Reisenden zu verteilen.
Welche Reaktionen hatte ich erwartet?
Nicht diese, die eintraten.

Nachdem die ersten Reisenden die Exemplare der Gebrauchsanweisung in den Händen hielten, schauten sie mich an, als wäre ich ein unbekanntes Flugobjekt, soeben auf dem Bahnsteig gelandet.
„Was soll das denn? Hast du nicht alle Tassen im Schrank?“
Man duzte mich ungeniert.
Ein weiterer Zeitgenosse erkundigte sich teilnahmsvoll nach meinem Befinden. Er riet mir dringend, einen Arzt aufzusuchen.
„Aber keinen Arzt für körperliche Leiden“, fügte er hinzu.


Inzwischen hatte sich ein ansehnlicher Menschenauflauf auf dem Bahnsteig gebildet. Auch auf dem benachbarten Bahnsteig vier war man bereits aufmerksam geworden.
Einige schwarzgewandete Krawattenträger blickten mit befremdeten Mienen zu mir herüber.
Ich setzte gerade an, diese Menschen auf Bahnsteig vier aufzusuchen, weil ich mir erhoffte, das man dort mehr Verständnis für mein Anliegen aufbringen würde, als ich unsanft von zwei Herren mittleren Alters und grobschlächtiger Figur, in zu enge Uniformen gezwängt, an den Armen gefasst wurde.
„Verlassen Sie sofort das Bahnhofsgelände! Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses, was Sie hier machen.“
Sie zogen mich vom Bahnsteig fort.
Während dieser gewalttätigen Aktion sah ich mit Befremden, das mich die Menschen vom Bahnsteig drei unverhohlen auslachten.

Ich werde meiner besseren Hälfte wohl oder übel eingestehen müssen, dass es mit mir auch nicht besser bestellt ist als mit Politikern, Journalisten oder Gebrauchsanweisungsherstellern; eher schlimmer.

Ich kann mich weder auf Bahnsteig drei noch auf Bahnsteig vier verständlich machen.
 



 
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