Die Metropole

animus

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Die Metropole
Kurzgeschichte zum Thema: Leben in der Großstadt



Morgens energiegeladen, mittags zielstrebig, abends hungrig und durstig, das ist ihr Lebensrhythmus.
Die heutige Hitze zwingt MET regelrecht in die Knie und sie atmet schwer, wie eine übergewichtige Hure, die Tausenden lästigen Freiern täglich ihren Körper anbietet. Ihr schwüler Atem staut sich, trotz der fortgeschrittenen Stunde in ihren Straßen – ihr eigentliches Nervensystem - und sie findet kein Schlupfloch, um sich außerhalb ihrer Grenzen die nötige Frische zu holen.
Den Vergesslichen, die noch eilend auf ihrer vernarbten Haut rumtrampeln, bringt sie trotz des langen Tages widerwillig Geduld entgegen. Den Anderen, die bereits in Feierabendstimmung leichtfüßig über ihre Wege schlendern, schenkt sie ab und zumal eine frische Briese, die sie heimlich dem anfänglichen Tagesausklang stiehlt.
MET ist wie ein Perpetuum Mobile. Vor dreihundert Jahren ist sie in „Gang“ gesetzt worden und seitdem wacht sie über ihr Territorium. Sie ist stolz drauf, nur so tun, als wenn sie nachts schläft, um morgens wieder pünktlich mit dem Sonnenaufgang für Alle da zu sein. MET erlaubt sich keine Pause und nimmt auch keinen Urlaub einmal im Jahr, ihr Herz schlägt rund um die Uhr, Tag ein Tag aus, vom Monat zu Monat, Jahr für Jahr. Niemand kann sich vor ihr verstecken, ohne, dass sie ihn sieht und keiner kann ihr was vormachen, ohne, dass sie die Wahrheit erkennt.
Wie eine Mutter, kümmert sie sich um alles was dazu dient, dass ihre Bewohner versorgt werden, mit allem was sie zu ihrem Leben benötigen. Sie bietet ihnen Unterkunft, Sicherheit, Unterhaltung, Versorgung und trotzdem mag sie die 1,5 Millionen Bewohner nicht, die bei ihr - manche lebenslang - Unterschlupf suchen. Ununterbrochen muss sie ihre Launen und Wewehchen ertragen, den andauernden Widerspruch zwischen Fröhlichkeit und Trauer kann sie nicht leiden und sie empfindet Ekel beim Anblick der Bosheiten und Perversitäten, die sie jeden Tag miterlebt.

Es gibt Tage, da ist MET eine Ignorantin, ohne jedes Interesse für die Belange ihrer Bewohner – sie kümmert sich nur um ihr vielschichtiges Leben - und es gibt Tage an denen sie genau hinschaut, was innerhalb ihrer Grenzen geschieht. Am liebsten mag sie die Tage, in denen es etwas ruhiger zugeht und sie sich entspannt umschauen kann, sowie an diesem späten Nachmittag, auch wenn der Tag nicht so ruhig verlaufen ist, wie sie es sich wünschte. Von oben herab - nicht nur weil sie aus vielen Hochhäusern besteht, sondern, weil sie ihre Bewohner nicht austehen kann - blickt sie auf die 45. Straße runter, wo nicht nur das multikulturelle, sondern auch das sozial vielschichtige Leben intensiv zu spüren ist. Met spürt es jeden Tag und sie hat eine gute Nase für außergewöhnliche Begegnungen oder Ereignise, wie in diesem Augenblick, als…….

... Angelina das Büro verläßt, und sich wie durch den Fleischwolf gedreht fühlt. Der Tag hat ihr zu schaffen gemacht, zuerst mit der unerträglichen Schwüle, die nicht mal die volllaufende Klimaanlage stoppen konnte und dann kam noch die Unerträglichkeit ihrer verwirrten Patienten hinzu.
Sie weiß, dass sie draußen nichts Neues erleben wird, dass ihre Stimmung, die sie von Tag zu Tag schwerer erträgt, eine neue Richtung bekommen wird. Und trotzdem treibt es sie auf die Straße, die sich mit den verschwitzen, bunten Kleidern der Menschenmenge ziert, über die eine unsichtbare Wolke voller Gifte und Staub schwebt, deren Seiten durch ununterbrochene Blechschlangen von parkenden Autos unüberwindbar sind und deren Gestank von Essensresten, Hundescheiße, Kotze, sich in allen Ecken und Gassen mit der schwülen Luft vermischen. Hier auf der Straße fühlt sie sich aber nicht allein, wie die letzten Jahre in ihrem Büro, zwischen den weißen Wänden, Stapeln von verstaubten Akten und den geistig zerstörten Menschen, die sie jeden Tag aufsuchen. Die Straße gibt ihr das Gefühl, dass sie doch nicht seelisch tot ist.

Schon zum dritten Mal schlendert sie die 45. Straße entlang, schaut gelangweilt in die Schaufenster
- kaufen will sie nichts - sie sucht nur nach Ablenkung von ihrer inneren Unruhe. Dem Rest auf der Straße widmet sie kaum Aufmerksamkeit, obwohl sie ihre Sehnsucht nach Unterhaltung, nach neuen Gesichtern und endlich neuen Freunden, den ganzen Tag begleitet. Unentschlossen steht sie vor der Werbetafel eines Reisebüros und denkt darüber nach, ob es nicht besser wäre zu verreisen. Mit geschlossenen Augen sieht sie sich irgendwo im Süden, wo die Hitze nicht so unerträglich ist, am Meeresufer, dessen Wellen regelmäßig in den Sand hinauslaufen und wieder zurück, als wenn sie Angst hätten vor der Berührung mit der Erde.
Als sie die Augen wieder aufmacht verschwinden ihre Wunschbilder vom goldenen Strand, dem blauen Meer und die Realität der 45. Straße hat sie wieder eingefangen. Im Schaufenster läuft das Straßenleben direkt vor ihren Augen, wie in einem Film ab und der Hauptdarsteller scheint ein junger Mann zu sein, der an einem Abfalleimer steht und in ihm wühlt. Angelina dreht sich um sich davon zu überzeugen, dass es ihn tatsächlich gibt, diesen Mann.
Sie kümmert sich nie in irgendwelcher Art und Weise um Obdachlose, sie gibt auch nie ihr Geld den Bettlern, die zahlreich auf der Straße sitzen, sich absichtlich als Krüppel darstellen, um Mitleid zu erwecken. Nicht mit mir, sagt sie sich jedesmal Mal und geht an ihnen verachtend vorbei.
Aber heute fühlt sie sich selbst wie ein Bettler, der nicht nach was Eßbarem oder ums Geld bettelt, sondern nach Gesselschaft, Freunden, eben nach einer Unterhaltung mit einem Menschen. Sie empfand in diesem Augenblick keinen Ekel wie sonst, sondern Interesse. Sie fragt sich: ’ Wer ist der Mann, was macht er, wie lebt er? Vielleicht wie ich, nur mit dem Unterschied, dass er nicht in einer Praxis sitzt, sondern den ganzen Tag durch die Straßen zieht. Er hat wenigsten ständig Menschen um sich – normale Menschen – und die Möglichkeit sich mit jemanden zu unterhalten.’ Mit dieser Sehnsucht in ihrem Herzen begleitet sie den jungen Mann mit ihrem Blick auf seinem Weg.

Trotz der Hitze trägt er einen langen verschlissenen Mantel, das Ende seiner Hosenbeine reicht nur bis zu den Waden und die Füße, die schon von weitem als dreckig bezeichnet werden konnten, stecken in alten ausgelatschten Sportschuhen - man kann nur ahnen - dass sie mal weiß waren Das Leben hat tiefe Falten in sein Gesicht geformt, auf dem Kopf trägt er eine Mütze unter der ein paar Strähnen seiner langen, fettigen Haare raushängen. Die Hände sind vernarbt und voller Blasen, als wenn er sich erst vor kurzem verbrannt hätte und die abgebrochenen, oder abgekauten Fingernägel sind schwarz von Dreck oder vielleicht sogar von einer Krankheit. Obwohl er auf dem Rücken einen überbepackten, alten Rucksack trägt, geht er aufrecht, mit erhobenem Kopf, als wenn er sagen will, ’schaut her, hier bin ich, nimmt meine Armseligkeit oder die der Metropole endlich zur Kentnnis’.

Angelina schaut dem verwahrlosten jungen Mann mit Neugierde zu, wie er sich vom Abfallbehälter zum Abfallbehälter durch die Menschenmenge drängt, sie durchsucht, tief hineinbeugt, um bis auf den Boden zu kommen. Zweimal schon holte er eine Papiertüte raus, schaute sich den Inhalt an und steckte sie dann gleichgültig in seine Manteltasche.
Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie sein Verhalten verurteilen soll oder nicht. Fand es aber doch abstoßend, die öffentlichen Abfallkörber durchzuwühlen, nach Essen drin zu suchen, um es dann zu essen. Diese Vorstellung ekelt sie an und sie ist schon nah dran, sich abzuwenden um zu gehen, als sie bemerkt, dass sich die Lippen des junges Mannes bewegen. Sie schaut sich um, ob jemand in seiner Nähe steht oder ihn von weitem anspricht, aber da ist niemand. Der junge Mann führt ein Selbstgespräch.
Aus ihrer langjährigen Erfahrung diagnostiziert sie „Alter Ego“ und läßt den Mann nicht aus den Augen. ’Was ist diesem jungen Mannn in seinem Leben zugestoßen, dass er hier auf der Straße endete. Welches Ereignis, hat ihn in diese Erbärmlichkeit gebracht, war er selbst dran schuld oder brachten ihn andere Menschen in diese Situation?’, fragte sie sich und dachte über sich selbst nach.
’ Was hat mich davor bewahrt, dass ich nicht in solchen Verhältnisen das Leben verbringen muss. Wie ist es mit meinen Gedanken? Womöglich führe ich auch Gespräche mit meinem „Alter Ego“’
Abwesend schaut sie dem jungen Mann zu, die anderen Menschen auf der Straße sieht sie nicht. In diesem Augenblick empfand sie, dass sie sich ganz alleine auf der Straße befindet. Nur die Geräuschkulisse der 45. Straße und das Läuten der hoch über den Dächern schwingenden Kirchenglocken nimmt sie wahr.
Fünfundfünfzig Jahre ist sie alt geworden, praktiziert schon seit dreißig Jahren in ihrer eigenen Praxis als Psychoanalytikerin. Dreißig Jahre lang arbeitet und wohnt sie im gleichen Haus, wohin sie damals als 25-ig jährige, direkt nach ihrem Studium, einzog. Nur ein einziges Mal hat sie dran gedacht umzuziehen, als vor 10 Jahren ihr Mann gestorben sei. Damals dachte sie, dass die Erinnerungen an das erfüllte Leben mit ihm schneller verblassen werden, wenn sie die vertraute Umgebung verläßt, aber dann verwarf sie diesen Gedanken doch und blieb mit ihren Erinnerungen in der 45. Straße.
Sie denkt an eine ihrer Patientinen, die alle drei Monate umziehen muss, weil sie es nicht länger in einer Wohnung aushalten kann. Diese Frau hat alles, was einen Umzug umständlich machen würde abgeschafft. Sie hat alles verkauft oder verschenkt und lebt ausschließlich aus dem Koffer, besser gesagt aus zwanzig Bananenkartons, die gerade noch in ihr Auto passen. Diese Patientin ist schon seit zwei Jahren bei ihr in Behandlung. Jedesmal, wenn ein erneuter Umzug ansteht, ist sie felsenfester Überzeugung ihre Manie besiegt zu haben, aber dann wird sie doch von ihrer Manie besiegt und ihr Wagen steht innerhalb kurzer Zeit mit ihren Kartons vollgepackt, fahrbereit

Angelina hat - bis auf das Einmal - nie den Wunsch gehabt, ihre Wohnung, in der sie seit 30 Jahren lebt, für immer zu verlassen. Sie kann aber auch nicht behaupten, dass sie seit zehn Jahren, Abend für Abend mit leichtem Herzen ihre Wohnung betritt. Jeden Abend öffnet sie lustlos und niedergeschlagen die schwere Eichentür, mit der Angst im Nacken, wenn sie die Tür hinter sich schließt, wieder den Abend davor erlebt. Jeden Abend die gleiche Zeremonie: Ausgiebig duschen – den geistigen Dreck des Tages abspülen – essen, Fernsehen, paar Seiten lesen und dann, sehr spät, in das leere, große Bett steigen.

Oft kann sie nicht schlafen – sie kann sich nicht mehr erinnern, wann sie die Nacht durchgeschlafen
hat - und horcht in die Großstadtkulisse mit dem Versuch, sie durchzudringen, etwas herauszuhören was ihre schlaflose Nacht unterbrechen würde, etwas was sie aus diesem Wachtrauma holen würde. Aber nichts geschieht, sie fühlt sich in den Nächten isoliert vom Leben und sie weiß, dass sie auch am kommenden Tag in Isolation leben werde, trotz der vielen Menschen in der Praxis und der Zeit auf der Straße, die sie meist alleine verbrachte, so wie in diesem Augenblick, indem sie den jungen Mann auf seinem Weg vom Abfallkorb zum Abfallkorb, begleitet. Es war nun der Dritte, den er durchstöbert, keine fünf Meter von ihr entfernt, einen Korb, der von Abfällen überquilt. Der junge Mann lässt sich aber dadurch nicht abschrecken, sondern wühlt in ihm wie in den anderen, tief bis auf den Boden. Angelina dreht sich zur Seite, denn sie will nicht, dass er merkt, beobachtet zu werden.
Angelina fragt sich, wo der Unterschied zwischen ihr, ihrer Patientin und dem verwahrlosten jungen Mann ist. Sie hat Angst in ihrer Wohnung, ihre Patientin kann es in ihrer Wohnung nicht länger als drei Monate aushalten und der junger Mann, der vor ihren Augen in seinem angeregten Selbstgespräch den Abfall durchsucht, besitzt wahrscheinlich gar keine Wohnung.

Ihre Ferndiagnose ging ihr nochmals durch den Kopf und sie überlegte, was oder wie ist der junge Mann in seinen zwei Persönlichkeiten. Ist das Böse und das Gute in ihm, oder der Mutige und der Feige vereint? Gerne hätte sie diese Antwort gehabt. Es ist nicht die Psychoanalytikerin, die es wissen will, sondern die Frau. Ihre Versuchung, an den jungen Mann näher zu tretten, ist für sie sehr groß, aber sie traut sich nicht. Im sicheren Abstand beobachtet sie ganz genau seine Lippenbewegungen und mit dieser Hilfe versucht sie, von seinem Dialog mit „Alter Ego“ etwas zu verstehen.

Der junge Mann - der Thomas - mag es, spät Nachmittags durch die Straßen zu ziehen, wenn die Stadt mit ihren Kreaturen nicht mehr so hetzt, sondern vergnüglicher und entspannter ist und vorallem hungrig und durstig. Im Ausklang des Tages findet er ausreichend Essensreste in den Abfallkörben der 45. Straße.
Er widmet keinem auf der Strasse seine Aufmerksamkeit und es kümmert ihn nicht, ob er die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn er die Abfalkörbe durchwühlt. Seine heutige Suche ist nicht nach seiner Vorstellung, denn es herrscht den ganzen Tag eine unerträgliche Hizte, in der alles schmilzt auch in den Abfallkörben, wodurch vieles nicht mehr genießbar ist. Seine verletzten Hände sind voll mit Eisresten und verschiedenen Soßen. Er ist heute unzufrieden und recht ergärlich auf den heutigen Tag. Was ihm noch streßiger erscheint, ist die länger andauernde Auseinandersetzung mit seinem Begleiter. Sie können sich nicht einig werden, wo sie heute die Nacht verbringen.
’ Heute schlafen wir unter der kleinen Brücke am Ende der 45. Straße, wie gestern.’ sagt Thomas.
’ Nein, du kannst mich.., da ist es dunkel, zuviele Ratten und außerdem zu laut. Kommt nicht in Frage’ hört Thomas neben sich.
’ Mach was du willst, ich schlafe auf jedenfall unter der kleinen Brücke.’
’ Das werden wir noch sehen, wo wir heute schlafen. Du kannst pennen wo du willst. Vergiss nicht, ich kann auch anders, als nur mit dir diskutieren.’

Thomas wirbelte zweimal mit dem Arm durch die Luft und schaut mit einem verunsichertem Blick in Richtung seiner Armbewegung. Leicht gebückt, wartet er zeitlang ab, ob das übliche Rückschlagen seines Begleiters kommt, und als weder Antwort noch ein Schlag kommt, zeigt er sich überrascht.

’Einmal muss ich endlich auch hinhauen.’ denkt er sich und ein kurzes Schmunzeln erscheint in seinem Gesicht, das aber gleich wieder verschwindet.
Am liebsten hätte er ihm gesagt, er soll endgültig verschwinden, aber den Mut zur dieser Entscheidung hat er noch nicht. Mit wem könnte er sich dann den ganzen Tag unterhalten, wie würde er sein mühsames Leben überstehen. Alleine kann er nicht leben.
’ Ich warte. Überlege es dir gut, wo wir heute schlafen, sonst …’ plötzlich ist er wieder da.
Thomas dreht sich zur Seite und schaut böse den Unsichtbaren an.
Ohne ein Wort zu sagen, presst er die Lippen zusammen, und runzelt stark seine Stirn, als Zeichen, dass er nun wirklich genug von dieser Diskusion hat. Verärgert läßt er von dem Abfallkorb ab und blickt sich um, als wenn er sagen will: ’Leute helft mir, befreit mich von diesem Phantom.’ So wie er da stand, in voller Größe, sah er sich plötzlich im Glas eines Schaufensters.
’ Scheiße siehst du heute aus. Langsam solltest du dir was einfallen lassen, denn so kann es nicht weiter gehen. Schau dich an, wie du aussiehst, und vorallem was du hier machst. Du bist ein Penner geworden, nur weil du nicht den Mumm hast, gegen dich selbst anzutretten.’ sprach Thomas mit seinem Spiegelbild und strich dabei mit den Händen mehrmals seinen Mantel glatt, als wenn er sich in diesem Augenblick für sein Aussehen schämen würde.
’ Das ist es, du hast keinen Mumm gegen dich selbst anzutretten. Du bist nicht nur materiell, sondern auch geistig ein Penner geworden. Eigentlich sollte dich „Alter Ego“ verprügeln, damit du endlich in Bewegung kommst.’ Während Thomas mit sich spricht, dreht er sich ein paar Mal um die eigene Achse und sucht nach einer Telefonzelle.
Sehr oft hat er schon vor einer gestanden und mit dem Gedanken gespielt endlich anzurufen. Vielleicht hätte er es schon längst getan, wenn nicht sein Begleiter immer wieder dagegen rebellierte. Er war entschieden dagegen – oft haben sie drüber gestritten – und jedesmal wenn er kurz davor stand, zog ihn „Alter Ego“ zurück und er hatte nicht die Kraft, sich ihm zu widersetzten.
Aber jetzt, beim Anblick seines Spiegelbildes sieht er nur sich und fühlt sich alleine für sich verantwortlich. Heute besitzt er den Mut es zu tun, er muss es wenigsten versuchen, um nicht tiefer abzurutschen. Hier steht er und ein paar Meter weiter sein echtes Spiegelbild, kein Begleiter steht neben ihm, der ihm was zu sagen hat.
Thomas findet eine, sie ist keine fünfzig Meter von ihm entfernt und im Augenblick sogar frei. Es dauert eine Weile, bis er sich durch die Menschenmenge durchzwängt und endlich vor dem kleinen Häushen steht. Er gibt sich keine Zeit zum Überlegen – rein oder nicht rein – ihm ist klar, jetzt oder nie. Thomas stößt die Tür auf, nimmt das Telefonverzeichnis in seine kaputte Hände und sucht eine bestimmte Seite, die er dann, ohne zu zögern rausreißt. Egentlich wollte er anrufen und nicht eine Seite aus dem Buch mitnehmen, aber er ist trotzdem mit sich zufrieden, weil er wenigsten diesen Schritt getan hat und den nächsten wird er auch sobald wie möglich tun. Noch aufgeregt von seinem Erlebnis, eilt er zu der Stelle von wo er die Telefonzelle entdeckte und stellt sich wieder vor das Schaufenster.

’ Du hast es endlich getan und den Rest wirst du auch tun, sonst gräbst du jetzt schon dein eigenes Grab’, haucht er hastig seinem Spiegelbild zu und ging. Er beachtet kein Abfallkorb mehr – war sowieso nichts vernünftiges drin, die Sonne war diesmal dran Schuld – sondern ging die 45. Straße entlang, wie jeder anderer mit einer zufriedenen Miene und einem Stück Papier in seiner Tasche, das er ganz fest in seinen Finger hält. Ab und zumal dreht er sich um und hält Ausschau nach ihm.
Die Frau, die neben dem Schaufenster stand, bemerkt er gar nicht und er hat keine Ahnung davon, dass diese Frau jeden ihrer Schritte, seine und die seines Begleiters, genau verfolgt.

Angelina sah dem jungen gespaltenen Mann hinterher, bis er von der Menschenmenge verschluckt wurde, wie ein einzelner Schwimmer im Ozean. Sie hatte genau gesehen, was er in der letzten halben Stunde geschafft hat und sie bemerkte auch seine Wandlung – vom einem nervösen, ängstlichen Obdachlosen zu einem, in die Zukunft blickenden jungen Mann. Ihr ist es ein Rätsel, wo dieser Mann auf einmal den Mut hernahm. Sie ist neugirig und nun durch den jungen Mann couragiert, das Rätsel zu lösen.
Mit dem Blick zur Telefonzelle, löste sie sich von dem Schaufenster und drängt sich durch die Menschenmenge. Sie wird immer schneller und rücksichtsloser gegenüber den anderen Menschen, hauptsächlich sie kommt so schnell wie möglich zu diesem Telefonhäuschen.
Angelina zieht die Tür der Telefonzelle auf und nimmt sich das dicke Buch vor. Seite für Seite blättert sie hastig durch, bis sie die fehlende, halb abgerissene Seite findet.
’Warum war diese Seite für den jungen Mann so interessant, dass er sie ohne lange zu überlegen herausriss?’, geht ihr durch den Kopf, während sie durch die verschmierte Glasscheibe Ausschau nach dem jungen Macht hält. Er war nirgendwo zu sehen. Sie reißt den Rest der Seite raus, schreibt schnell die Zahl der nachfolgenden Seite drauf, steckt es in ihre Tasche und zwängt sich durch die halbgeöffnete Tür wieder auf die Straße.
Über die 45. Straße hin und her zu laufen, erschien ihr nun sinnlos, sie wollte nur nach Hause. Ihr kam es vor, als wenn sie die Einzige wäre, die in diese Richtung geht. Alle kommen ihr entgegen, rempeln sie an, denken nicht dran auszuweichen. Sie schwimmt gegen den Strom. Genervt wirkt sie, läuft immer schneller, und es wird ihr immer enger. Ihr einziger Gedanke ist, ’weg hier, so schnell wie möglich weg’
Zehn Minuten hat es gedauert - ihr kam es wie eine Ewigkeit – bis sie vor ihrer Wohnungstür stand. Ungeduldig sucht sie ihre Taschen nach dem Schlüssel ab. Als sie hört wie die schwere Tür mit Lärm ins Schloß fällt, sitzt sie bereits mit geschlossenen Augen ganz ausgestreckt in ihrem weichen Sessel und horcht ihrem schnellen Atem. Sie fühlt sich heute sehr erschöpft, obwohl sie nichts anderes getan hat, wie jeden anderen Tag. Fast eine Stunde vergeht, bis sie sich wieder aufrafft. Es ist schon dunkel, der Lärm von der Straße wird weniger. Sie steht lange unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche und genießt das erfrischende Gefühl, sich sauber zu fühlen. Die ganze Zeit denkt sie an den verwahrlosten jungen Mann und sein Gespräch mit sich selbst.
’ Das ist es, du hast keinen Mumm gegen dich selbst anzutretten. Du bist nicht nur materiell sondern auch geistig ein Penner geworden. Eigentlich sollte dich dein Begleiter verprügeln, damit du endlich in Bewegung kommst.’
Diese zwei Sätzte hat sie sich eingeprägt. Sie gefallen ihr und sie findet es gar nicht unpassend, wenn sie die gleiche Aussage für sich macht. ’Wo ist der Unterschied zwischen dem jungen Mann und ihr? Abgesehen vom Job und der Wohnung ist sie genauso arm dran wie er.’
Sie kennt die Brücke am Ende der Straße, die über die Schnellstraße führt und an ihren beiden Ausläufen dicht mit verschiedenen Sträuchern zugewachsen ist
’Bestimmt ein ideales Versteck für einen Obdachlosen, der unbeobachtet draußen die Nacht verbringen muss’, denkt sie noch mit dem Handtuch in der Hand und schaut dabei in den Spiegel. Etwas ist heute anders an ihr, oder sie fühlt sich anders, als sonst. Heute ist sie nicht so deprimiert.
Angelina verspürt sogar einen richtigen Hunger, wie schon lange nicht mehr, und freut sich auf ihr Bett, vor dem sie sonst Angst gehabt hat, obwohl es direkt am großen Fenster steht und ihr einen schönen, weiten Ausblick auf die 45. Straße gewährt, bis zu der kleinen Brücke.
Angelina kümmert sich heute nicht um den Haushalt oder Fernseher. Sie nimmt aus der Gefrierbox eine Packung „Spaghetti bolognese“. Nein, sie nimmt eine zweite Packung heraus und stellt beide in die Mikrowelle. Schnell schlüpft sie in ihr bequemes Hauskleid, macht eine Flasche Rotwein auf und deckt den Tisch, als wenn sie einen Besuch erwarten würde.
Schnell läuft sie durch die Diele, im Lauf packt sie ihre Bluse und bleibt erst vor ihrem Schreibtisch stehen. Das Telefonverzeichnis liegt oben drauf. Zuerst holt sie den kleinen Zettel auf dem sie die Nummer der Seite notierte, die rausgerissen wurde. Ungeduldig blättert sie bis zu der Seite, die auf ihrem Zettel stand. Es ist eine Seite mit zwei Werbeanzeigen. Mit der ersten kann sie im Zusammenhang mit dem jungen Mann nichts anfangen. Bei der zweiten wird sie nachdenklich. Es steht nicht viel auf der halben Seite. Eine Telefonnummer, sehr groß gesetzt und dann ein paar Hinweise, für ihr Empfinden unemotional ausgedrückt, was die angebotene Hilfeleistung betrifft. Sie läßt das Buch aufgeschlagen auf dem Tisch liegen und holt in der Küche die Spaghetti – es piepst schon seit einiger Zeit in der Küche – die Mikrowelle. Dass sie es sich eigentlich festlich machen wollte, vergas sie völlig, sie nimmt die beiden Folienbecher, stellt sie auf ein Tablett und trägt alles ins Wohnzimmer. In Eile ißt sie die heißen Spaghetti, und läßt die Anzeige nicht aus den Augen, die Rufnummer war leicht sich zu merken, sie kannte sie bereits auswendig und der Text hatte sie auch mehr als einmal durchgelesen. Angelina wusste, dass es keinen großen Sinn hatte, darüber nachzudenken, wer diese Seite in der Telefonzelle ausgerissen hat, sie beschäftigte vielmehr der Gedanke wer hatte genauso ein Interesse an dieser Telefonnummer wie sie. Wer war ihr emotional so nah, ohne dass sie und der andere voneiander wussten? Sie hatte einen starken Wunsch diesen Menschen kennen zu lernen. Noch lange saß sie da in der Dunkelheit, vor zwei leeren Folienschalen und ließ alle möglichen Gedanken ihren freien Lauf, bis sie sich erhob, das Glas nahm und zum Schlafzimmer ging. Entspannt macht sie das große Fenster auf und legt sich in das große Bett, das das letzte ist in dieser Wohnung, was sie an ihren Mann erinnert. In dieser Nacht kämpft sie nicht, um endlich in den Schlaf zu finden, wie in ihren sonstigen Nächten, die sie alleine in den letzten Jahren verbrachte, sondern sie liegt ruhig da, spielt gedanklich mit den Zahlen der Telefonnummer und schaut aus dem großen Fenster . Sie kann aus ihren Schlafzimmer die letzten paar hundert Meter der 45. Straße überblicken, bis an ihr Ende. Im Dunkel sieht sie die Brücke nicht, aber sie weiß, dass sie da steht und ein paar Meter weiter eine Telefonzelle, die sie nur als einen kleinen Lichtfleck sehen kann.
Es ist eine ruhige Nacht, so wie sie schon seit langer Zeit nicht erlebt hat. Ohne Wehmut erinnerte sie sich an die vergangene Jahre und mit einem leichten Lächeln vom Erlebnis zu Erlebnis kehrte sie wieder in Gegenwart zurück.
Das erste Morgenlicht, das noch keine Sonnenstrahlen mit sich trägt, schleicht langsam über die Fensterbank bis an ihr Bett. Angelina begrüßt es, wie einen treuen Freund, streichelt über ihre Bettdecke und greift zu ihrem Glas, das immer noch voller Einsamkeit ist, aber sie weiß, an diesem frühen Morgen wird sich alles ändern.

Zusammengerollt liegt der Thomas unter der kleinen Brücke, der Boden ist noch von der Tageshitze warm, aber „Alter Ego“ hat recht gehabt, es war laut, dunkel und es stank fürchterlich. Trotzdem störte es ihm nicht, denn er hatte einen Grund, warum er hier übernachten wollte.
’Jetzt lass mich endlich in Ruhe, ich muss nachdenken“, wirft er die Wörter über seine Schulter, denn von hinten hört er, wie der Andere gegen das heutige Nachtlager rebelliert.
’Ja, du hast recht, ich denke über das Licht, da am Ende der Strasse. Hast du was dagegen, dass ich mir über unsere Zukunft Gedanken mache?’ kommt ihm Thomas zuvor
’Unsere!? Du denkst nur an dich, du Egoist’ hört er im Hintergrund.
’Ja, unsere, kapiere es endlich! Ich möchte endlich ein ruhigeres Leben führen, so wie alle anderen. Ich möchte arbeiten, ein zu Hause haben, ein Bett und einen vollen Kühlschrank.’
An dieser Stelle verstummt Thomas wartend auf die Antwort.
’Vielleicht noch mehr und ich werde dafür alles mögliche tun, ab heute. Warum geht das nicht in deinen Dickschädel.’ spricht Thomas weiter als er keine Antwort bekommt.
Langsam ist es ihm zu viel, dass ihn „Alter Ego“ nicht verstehen will und ahnt schon, dass er wieder anfängt ihn anzuschreien. Thomas gibt ihm keine Gelegenheit dazu und redet weiter.
’Lass es, bitte! Ich will jetzt mit dir nicht streiten. Warum können wir nicht wie normale Menschen leben? Hm, warum nicht? Das habe ich mir gedacht, darauf hast du keine Antwort. Ich werde es dir sagen warum. Weil du dumm und böse bist und überhaupt nicht an die Zukunft denkst. Du meinst, so kann es immer weiter gehen. Nein, mein Lieber, nicht mit mir. Lass mich in Ruhe, ich will schlafen’
Thomas dreht sich um, legt sich auf den Bauch, seinen Kopf auf die Hände und schaut auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sie steht nicht weit weg, und er konnte trotzt der Dunkelheit ihre Umrisse erkennen. Still steht sie da, ihre Scheiben wurden von irgendwelchen Dummköpfen mit obszönen Bildern zugeschmiert. Die rote Telefonzelle.
Thomas greift in seine Manteltasche und holt das ausgerissene Blatt raus. Es ist zerknüllt, er streicht paar Mal drüber, hält es gegen das schwache Licht der Straßenlaterne und liest die Telefonnummer mehrmals laut nach, bis er der Meinung ist, dass er sie nicht mehr vergessen wird. Beruhigt steckt er die Hand mit dem Stück Papier für die nächsten Stunden in seine Tasche.
Seine heutige Aufregung war goß, aber er fühlt sich trotzdem nicht so müde wie sonst, um jetzt einfach einzuschlafen. Viele Stunden liegt er so da, in denen er sich seine kleine Wünsche für die Zukunft ausmalt und drüber nachdenkt wie sie auch in Erfüllung gehen. Erst das flache Sonnenlicht hat ihn wieder in die Gegenwart zurückgeholt, aber er empfand sie nicht frustierend, wie sonst, sondern freute sich auf die kommende Zeit und ist voller Zuversicht.
Thomas sieht wieder eine Perspektive für seine Zukunft

Das Haus in der 58. Straße sieht schon in der Dunkelheit schäbig aus. Das frühe Morgenlicht holt noch mehr von seiner Schäbigkeit heraus und als das Morgengrau verschwindet, sieht man, dass es kaum den Namen „ein Haus“ verdient, sondern die Bezeichnung einer „Ruine“. Eine Seite ist mit dicken Stahlträgern abgestützt, die Front beschmiert mit einem ungewöhnlichen Farbspektrum, dass es kaum möglich ist, den Eingang zu erkennen. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, es sei gar nicht bewohnt, aber aus dem Fenster der zweiten Etage ertönen die Klänge eines Klaviers.

Ein alter Mann sitzt da oben, tief versunken in seinem verschlissenen Stuhl. Die Augen hat er geschlossen, sein Brustkorb bewegt sich im Rhytmus seines regelmäßigen Atems und man hat den Eindruck, dass er schläft, wenn nicht seine Finger auf der aufgerissenen Armlehne im Takt des Klavierstückes trommeln würden. So geht das schon die ganze Nacht. Kein Geäusch außer des Klaviers, keine Bewegung in dem dürftig eingerichtetem Büro der Telefonseelsorge, außer dem trommeln seiner Finger.

Erst als die ersten Sonnenstrahlen durch das geöffnete Fenster die Holzdielen in Streifen schneiden, wird es im Zimmer lebendig. Eine Systemmeldung schaltet den Monitor von „Standby“ auf „Betrieb“ und meldet in einer schwarz unterlegten Zeile in weißer Schrift: „Leitung Nr. 3, Standort des ankommenden Anrufers: 45. Straße, Telefonzelle Nr. 12.“
Der alte Mann richtet sich zuerst in seinem Stuhl auf, und erst dann hält er es für notwendig, die Augen aufzumachen. Während er anfängt sich mit den ersten Buchstaben der Meldung auseinander zu setzen, erscheint die zweite Meldung auf dem Monitor: „Leitung Nr. 5, Standort des ankommenden Anrufers: 45. Straße, Appartementhaus Nr. 23.“
Die Klavierklänge verstummen, der alte Mann hält die Luft an, es herrscht eine totale stille im Raum, bis die Lunge des alten Mannes wieder einsetzt. Ein tiefer Seufzer dringt aus seiner Brust, während er nach vorne greift und für die beiden belegten Leitungen die Freisprechanlage einschaltet. Niemand weiß bis heute, ob es ein Versehen gewesen war, denn aus dem Lautsprecher melden sich fast gleichzeitig zwei Stimmen:
„Ich bin die Angelina ......“
„Ich bin, nein, ich war der Thomas ....“

Die MET atmet auf und schmunzelt ungeniert über das nächtliche Schauspiel, dass ihr von ihren Bewohner wieder geboten wurde. Auch sie öffnet die Augen mit den ersten Sonnenstrahlen, die sich langsam aber eindringlich in alle ihre Straßen hineinzwingen. Wieder hat sie eine Nacht hinter sich gebracht, in der sie nicht schlief …denn sie schläft nie.

[©animus]
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Prinzipiell ein hübscher Gedanke, die Geschichte von der Stadtpersönlichkeit umarmen zu lassen. Nur ist das Stadtwesen im ersten Teil übergewichtig, damit liegt die ganze Geschichte schief im Wasser.
Im übrigen gilt das Nämliche, wie für Deinen Nachtdienst:
Gib uns die Ehre: MEHR SORGFALT gewähre!
 



 
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