Die Mistgabel

Hansstorm

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Auf einer Autobahn schlingert um ein Uhr nachts an einem Mittwoch ein gelber VW zwischen der 2. und 3. Spur hin und her. Der Inhaber ist tot. Der Fahrer hat ihn mit einer Mistgabel ermordet, sowohl ihre Stich- als auch ihre Hiebkraft dabei eingesetzt habend. Die Mistgabel, deren Blutflecken der Fahrer mit seinem orange-weiß karierten Stofftaschentuch abgewischt hat, liegt behaglich auf dem Rücksitz; sie sticht Löcher in den beigen Lederbezug des Polsters.
Ein Motorradfahrer überholt, ansonsten wird die nächtliche Ruhe des Waldes von nichts gestört als dem Klappern der losen Radkappe am linken hinteren Reifens des gelben VWs.
Der Fahrer ist nüchtern, Bartstoppeln übersähen seine greisen Wangen, die die hervorstehenden Knochen des mageren Gesichts überspannen. Die schäbige Kleidung hängt in Fetzen an dem skelettartigen Alten, der das Gaspedal nun bis zum Anschlag herunterdrückt. Noch 200km bis nach Cuxhaven!

Wachtmeister Engelbert schlägt seine Kapuze über seinen massigen Schädel, um den Bindfadenregen von seiner Designerfrisur fernzuhalten. Mord! Behende schwingt er drei Zentner Lebendgewicht vor das Steuer seines hellroten Saabs und versucht vergeblich, das Vehikel zu starten. Erst beim dritten Versuch lebt der einst überdachte Wagen knatternd auf. Mord! Hechelnd und heulend schlittert der Saab auf den mit Kies aufgeschütteten Parkplatz des Schlosses Rosenholz. In der frischen Nachtluft, die leicht nach Muskatnuss duftet, atmet Wachtmeister Engelbert befreit auf. Mord! Bemüht, während des Sprints mit seinen keulenförmigen Unteramen das Gleichgewicht auf den mit Laub verdeckten, glitschigen Kopfsteinen zu halten, die den Weg zum Haupttor pflastern, muss der brave Hüter des Rechts enttäuscht erkennen, dass er wieder nicht der erste am Tatort ist.
Über die Zugbrücke, die Wendeltreppe hinan, reißt er die Tür zu Kemenate auf! Zu spät. . .

Es ist ein junges Reh, das am Spoiler des verlassenen gelben Autos seine Nase reibt, als suche es Trost. Es ist ein junges Reh, und sollte eigentlich schlummern; Abwasser einer nahe gelegenen Chemiefabrik enthielten aber Koffein, das nun das Ruhebedürfnis aus den Adern des Bambi-ähnlichen Kitz treibt.
Das gelbe Wrack scheint verlassen zu sein, auch der Rücksitz ist leer. Das fahle, rötliche Licht der Mondsichel, die, von treibenden Wolkenfetzen verdeckt, nur ab und an zu sehen wäre, lässt die schartige Klinge der Waffe aufblitzen. Erst jetzt bemerkt das Reh den Schatten der Mistgabel, die, in der Luft schwirrend, auf es zugeschossen kommt.
In Bruchteilen von Sekunden sieht es sein bisheriges, behütetes Leben vor seinem inneren Auge ablaufen. . .

Zu spät! Wieder ist der dürre Kommissar Gabelbrecht ihm zuvorgekommen und heimst nun Lob beim Vorgesetzten Stuchelding, dem Revieroberst, ein! Vor Ärger über sein Versagen schüttelt Engelbert seine Unterarme und greift sich hilflos an die dürre, pergamentartige Nase, die aus seinem Gesicht hervorspringt wie ein Fahnenmast aus einem Regierungsgebäude.
Die Gerichtsmediziner haben gute Arbeit geleistet, die Tatwaffe wurde nach filigranen Untersuchung identifiziert: Es kann sich nur um die Mistgabel des greisen Stallknechts handeln, ein Familienerbstück, das der Vater an seinen Sohn weitergab.
Sie durchdrang den Grafen von vorn und von hinten; in seinem geblümten Morgenrock bietet der alte, liebenswürdige Herr, dessen engelsgleiches Antlitz von wilden Knäueln weißen Haars umgeben ist, das sich nun wie die Borsten eines Pinsels langsam rötet, einen beklagenswerten Anblick. Die Zeitung entfiel seinen im Todeskrampf erstarrten Händen und breitete sich auf dem glatten Marmorboden aus.
Der Kommissar ist mit Stuchelding in einem heftigen Disput über mögliche Motive des Täters verkeilt, als Engelbert, mit seinen Extremitäten rudernd, zu ihnen stößt. Ein höhnisches Lächeln umspielt die bleistiftdünnen Lippen Gabelbrechts, als er die Missbilligung des Revieroberst bemerkt, mit der jener die Verspätung des Wachtmeisters quittiert, der sich nervös über sein wohlfrisiertes Haar streicht.
Der Tatort ist längst unter die Lupe genommen worden, auch am Täter besteht kein Zweifel: Der Stallknecht, der letzte seiner Sippe, verschwand in der stürmischen Nacht des Mordes, die Mistgabel mit sich führend.

Ausgiebig stillt der Alte seinen Hunger. Nie hatte es auf Schloss Rosenholz solches Fleisch gegeben! Doch nun auf! Noch 200km bis nach Cuxhaven. Der vom Alter gebeugte Mann reinigt seine fettigen Finger mit dem orange-weiß kartierten Taschentuch, um Fingerabdrücke am Lenkrad weniger auffällig zu machen. Scheppernd setzt sich der VW nach Norden in Bewegung. Er hinterlässt nur das abgenagte Reh und eine rußige Radkappe, deren Befestigung am linken hinteren Reifen der neuerlichen Belastung der Beschleunigung nicht standgehalten hat.

Im Sturmschritt verlassen die drei Beamten den Ort des abscheulichen Mordes. Drei Motoren heulen spuckend auf, als drei Dienstwagen, einer von ihnen ein hellroter Saab, der beim vorletzten Einsatz sein Verdeck verlor, den Kies der Auffahrt des Schlosses Rosenholz aufwirbeln, um sich zu der Stadt zu begeben, die der Schlüssel zur Auflösung des Falls sein soll: Cuxhaven.

Das Geräusch von rostigem Stacheldraht auf einem Reibeisen durchdringt den Vorraum der Aral-Tankstelle, als der Alte mit Spinnenfingern über sein Kinn streicht. Der Mistgabel schartige Klinge klopft so ungeduldig auf den PVC-Boden, dass sich der von Blut und den Jahren fleckige Stiel der Waffe, aus Eibe gefertigt, durchbiegt. Während der Tankwart mit zusammengeklappter Bild-Zeitung brummend auf das aseptisch weiße Ziffernblatt der großen Analoguhr weist und seinen Ärger über einen Kunden um zwei Uhr morgens durch leises Schimpfen bei zusammengebissenen Zähne zu besänftigen sucht, zückt der in Lumpen gekleidete Landstreicher seine Börse ? er sieht jedenfalls wie ein Landstreicher aus, so abgerissen ist er. . . scheint sich auf einen Stock oder so etwas zu stützten ? wie soll man das bei diesem fahlen Mondlicht bloß erkennen ? die grünen Neonlampen sind ausgeschaltet, schließlich wollte ich schlafen. Da blitzt
doch etwas auf. . . oder sind das metallene Ösen an den Schnürsenkellöchern seiner
Schuhe? ? wozu braucht ein Landstreicher Benzin?

Jaulend würgt Wachtmeister Engelbert den Motor des Vehikels ab. . . vor einer Araltankstelle 150km vor Cuxhaven steht, gelb schimmernd, ein VW. Lautlos, nur vom Schnaufen des Wachtmeisters und von einem anerkennenden Pfeifen Gabelbrechts gestört, das er angesichts der Reaktionsgeschwindigkeit seines Vorgesetzten, dem der gelbe Wagen, obwohl sie mit mehr als 200km/h dahinjagten, nicht entging, nicht unterdrücken kann, pirschen sich die Polizisten an den
Vorraum der Tankstelle. Schon haben sie ihn, schnell wie der Blitz, umzingelt und harren, im Schatten der Zapfsäulen und eines Abfalleimers, dem, was da kommen mag. . .

Draußen ist etwas vorgegangen. . . der Stallknecht merkt es am Jucken seines linken Zehennagels, das stets Gefahr ankündigt ? wie schon vor drei Jahren das Ableben seines längst ergrauten Vaters, den ein Esel nur wenige Sekunden, nachdem das Jucken verspürt worden war, dergestalt vor den Kopf trat, dass der Vater bald darauf die Ahnengruft auf dem Schlossfriedhof bereicherte. Jaja. . . nun ist der Greis der letzte Spross einer langen Reihe ehrenhafter Stallknechte. . .
Er reckt den Kopf und bläht seine Nüstern; gewaltig saugt er die Luft ein und nimmt Witterung auf: Auf dem Terrain der Araltankstelle verstecken sich Menschen, mehr als zwei und weniger als vier.
Das leise Klirren der Mistgabel gegen den Rasenmäher, der in der Tankstelle als erster Gewinn eines Preisausschreibens gelagert wird, verrät die Anspannung des Alten.
Nun gilt es! Mit einer ihm nicht zuzutrauenden Geschicklichkeit und Geschwindigkeit hebt jener seine Waffe und lässt das der Klinge gegenüberliegende, splittrige, holzichte Ende des Stiels an die Schläfe des Tankwarts sausen. Leise wie ein Sperber verlässt der Alte den Vorraum und gleitet an den Zapfsäulen vorbei zum gelben VW, die Deckung der Schatten, die das Licht der Mondsichel wirft, geschickt nutzend.
Doch Stucheldings Aufmerksamkeit ist durch die persönliche Wichtigkeit des Falls für ihn bis aufs äußerte gespannt: Der Graf war sein Ohm, der ihn als Kind auf den Knien geschaukelt; das Bild seiner Leiche, die leblos auf dem weiß gekachelten Marmorboden der Kemenate ausgestreckt lag, hat sich tief in das Bewusstsein des Revieroberst eingebrannt.
Hinter der Mülltonne springt Stuchelding hervor, reißt den Dienstrevolver aus dem Halfter und bringt ihn in Anschlag ? allein zu spät, mit geisterhafte Schnelligkeit ist der einem Skelett ähnliche Alte bereits auf den Vordersitz des gelben Fluchtwagens gehechtet, die Mistgabel auf den Rücksitz werfend, wo sie sich tief in das beige Lederpolster bohrt. Mit rauchenden Reifen kreischt der VW aus der Einfahrt der Tankstelle; und noch 150km bis Cuxhaven. . .

Zehn Tage darauf: An Dock zwei im Hafen Cuxhavens werden drei Wagen der Polizei aus dem brackigen Wasser gefischt; einer davon ein hellroter Saab mit fehlendem Dach. Bald darauf werden im Watt drei Leichen gefunden und trotz Verunstaltung durch Hieb- und Stichwunden identifiziert:
Revieroberst Stuchelding,
Komissar Gabelbrecht,
Wachtmeister Engelbert.
Sie nahmen das Geheimnis ihres Todes mit ins Grab. Wachtmeister Engelbert trug ein orange-weiß kariertes Taschentuch.

Wo aber der gelbe VW abgeblieben ist, der in einer Mittwochnacht im Dorfe beim Schloss Rosenholz gestohlen worden war, ist nie ans Licht gekommen. Nur wer nachts am Cuxhavener Pier spazieren geht, vermeint manchmal hoch in der Luft, fast nicht vernehmbar, das Geräusch verrosteten Stacheldrahts auf einem Reibeisen zu hören. . . dann wieder das leise Scharren von Zinken. . . und dann ist es wieder still.
 



 
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