Erika Stiller
Mitglied
Die Mutter
Die Kinder warteten schon seit Stunden. Langsam bekamen sie Hunger. Das Wenige, das die Mutter ihnen dagelassen hatte, war schon aufgegessen. Es war nicht viel gewesen, ein paar Kekse, für jeden eine Scheibe Brot. Zu Trinken gab es nur noch Leitungswasser. Den Saft hatten die Kinder zu den Keksen getrunken und Milch war schon aus, bevor die Mutter weggegangen war.
Sie hatte auf dem Heimweg Milch und Brötchen einkaufen wollen. Doch nun war es dunkel. Hatten die Läden überhaupt noch auf? Wenn es dunkel ist, dann ist es spät und also Zeit fürs Bett. So hatten es die Kinder gelernt. Wenn es draußen dunkel ist, muss man zu Hause sein. Denn dann war alles zu draußen, der Kindergarten, die Schule, der Spielplatz, der Supermarkt, Annas Lädchen. Dann konnte man draußen nichts mehr machen, nicht spielen, keine anderen Kinder mehr treffen und auch keine Süßigkeiten mehr kaufen. Dann musste man ins Bett.
Die Kinder waren ratlos. Sie wussten nicht, was sie machen sollten. Sollten sie auf die Mutter warten, oder sollten sie ins Bett gehen? Die Situation war neu für sie; so lang hatte die Mutter sie noch nie zuvor allein gelassen. Angst kroch in ihre kleinen Körper und gewann Gewalt über sie. Das Mädchen spürte sie schon seit einer ganzen Weile, die Angst. Deshalb hatte sie auch viel geweint. Sie war nicht gern allein, im Dunkeln, ohne die Mutter. Jetzt war sie müde vom Weinen, traute sich aber nicht zu schlafen. Die Mutter konnte ja jeden Moment kommen, musste jeden Moment kommen. Da wollte sie wach sein und der Mutter zeigen, wie gut sie gewartet hatte. Der Junge, der große Bruder, der schon zur Schule ging, in die erste Klasse, der Junge hätte ihr gerne gesagt, sie könne ruhig schlafen, er würde sie dann wecken, sobald er die Mutter höre. Doch er traute sich nicht. Allein mit seiner Schwester in dieser ungewohnten Situation, im Dunkeln, und niemand sonst mit dem er hätte reden können? Solange seine Schwester wach war, hatte er eine Aufgabe. Pass gut auf deine Schwester auf, hatte die Mutter zu ihm gesagt, ich werde nicht lange weg sein, am Abend komme ich zurück. Nun war es Abend, die Mutter musste also gleich kommen. Sie würde Brötchen und Milch mitbringen und sie würde sie in den Arm nehmen. Ganz bestimmt würde sie das. Da war sich der Junge sicher. Er war sich dessen sicher, solange seine Schwester wach war, und er ihr dies wieder und wieder sagen konnte.
"Mach das Licht an, bitte."
"Du weißt doch, die Mama mag es nicht, wenn wir Licht machen. Nur die Großen dürfen Licht machen."
"Aber es ist schon so dunkel und ich habe Angst. Wenn wir Licht haben, weine ich auch nicht mehr. Und dann können wir auch was spielen."
Der Junge hatte keine Lust zum Spielen, aber er fühlte sich auch nicht wohl im Dunkeln. Die Wohnung wirkte so anders im Dunkeln ohne seine Mutter, so fremd. Dem Mädchen war auch nicht wirklich nach Spielen zumute. Es hatte Hunger, war müde und wollte nur noch, dass die Mutter zur Tür reinkam und alles wieder war wie immer.
Die Mutter kam nicht. Der Junge machte Licht. Es wurde kühl, den Kindern war kalt. Sie trauten sich nicht, eine Decke zu holen. Aneinander gekuschelt schliefen sie ein.
Als die Geschwister aufwachten, dämmerte es bereits. Beide Kinder waren nass. Das Mädchen weinte wieder, wusste sie doch, wie wenig die Mutter es leiden konnte, wenn die Hose nass war. Ihr Bruder tröstete sie, er wolle ihnen saubere Hosen aus dem Schrank holen. Das beruhigte die Schwester etwas. Der Junge versuchte die Tür des Kinderzimmers zu öffnen, doch es ging nicht. Sie war abgeschlossen. Da drückte er die Klinke zum Schlafzimmer der Mutter, auch abgeschlossen. Er probierte sein Glück an der Wohnzimmertür, abgeschlossen. Das Mädchen weinte nun heftig.
"Weine nicht", bat sie der Bruder, "ich wasche dir die Hose aus. Sie trocknet sicher ganz schnell."
"Ja?" fragte die Schwester zaghaft, nicht ohne einen Anflug von Hoffnung.
"Sicher"
"Kommt die Mama nun bald?"
"Ja, bestimmt."
"Warum ist sie nicht schon gestern gekommen?"
"Sie hat wohl keine Milch und keine Brötchen mehr gekriegt."
"Oh ja, Milch und Brötchen."
"Wir müssen auf die Mama warten, sie bringt Milch und Brötchen mit."
"Kommt sie bald? Ich habe Hunger."
"Ja, sie kommt bald."
5 Tage später kam die Mutter nach Hause. In ihrer Einkaufstasche befanden sich eine Tüte mit Brötchen, ein Liter Milch und je ein Spielzeug für die Kinder, ein Boot für Peter und eine Plüschmöwe für Anne. Die Wohnungstür war aufgebrochen worden, die Wohnung teilweise ausgebrannt. Im Briefkasten lag ein Brief, ein amtliches Schreiben. Sie möge sich umgehend im örtlichen Polizeirevier melden. Ihre Tochter, Anne, sei im Krankenhaus, ihr Zustand sei äußerst kritisch. Peter, ihr Sohn, sei im Heim. Er würde psychologisch betreut. Es gehe ihm den Umständen entsprechend. Ein Kontakt zu ihren Kindern sei von Seiten der Behörden nicht erwünscht.
Die Kinder warteten schon seit Stunden. Langsam bekamen sie Hunger. Das Wenige, das die Mutter ihnen dagelassen hatte, war schon aufgegessen. Es war nicht viel gewesen, ein paar Kekse, für jeden eine Scheibe Brot. Zu Trinken gab es nur noch Leitungswasser. Den Saft hatten die Kinder zu den Keksen getrunken und Milch war schon aus, bevor die Mutter weggegangen war.
Sie hatte auf dem Heimweg Milch und Brötchen einkaufen wollen. Doch nun war es dunkel. Hatten die Läden überhaupt noch auf? Wenn es dunkel ist, dann ist es spät und also Zeit fürs Bett. So hatten es die Kinder gelernt. Wenn es draußen dunkel ist, muss man zu Hause sein. Denn dann war alles zu draußen, der Kindergarten, die Schule, der Spielplatz, der Supermarkt, Annas Lädchen. Dann konnte man draußen nichts mehr machen, nicht spielen, keine anderen Kinder mehr treffen und auch keine Süßigkeiten mehr kaufen. Dann musste man ins Bett.
Die Kinder waren ratlos. Sie wussten nicht, was sie machen sollten. Sollten sie auf die Mutter warten, oder sollten sie ins Bett gehen? Die Situation war neu für sie; so lang hatte die Mutter sie noch nie zuvor allein gelassen. Angst kroch in ihre kleinen Körper und gewann Gewalt über sie. Das Mädchen spürte sie schon seit einer ganzen Weile, die Angst. Deshalb hatte sie auch viel geweint. Sie war nicht gern allein, im Dunkeln, ohne die Mutter. Jetzt war sie müde vom Weinen, traute sich aber nicht zu schlafen. Die Mutter konnte ja jeden Moment kommen, musste jeden Moment kommen. Da wollte sie wach sein und der Mutter zeigen, wie gut sie gewartet hatte. Der Junge, der große Bruder, der schon zur Schule ging, in die erste Klasse, der Junge hätte ihr gerne gesagt, sie könne ruhig schlafen, er würde sie dann wecken, sobald er die Mutter höre. Doch er traute sich nicht. Allein mit seiner Schwester in dieser ungewohnten Situation, im Dunkeln, und niemand sonst mit dem er hätte reden können? Solange seine Schwester wach war, hatte er eine Aufgabe. Pass gut auf deine Schwester auf, hatte die Mutter zu ihm gesagt, ich werde nicht lange weg sein, am Abend komme ich zurück. Nun war es Abend, die Mutter musste also gleich kommen. Sie würde Brötchen und Milch mitbringen und sie würde sie in den Arm nehmen. Ganz bestimmt würde sie das. Da war sich der Junge sicher. Er war sich dessen sicher, solange seine Schwester wach war, und er ihr dies wieder und wieder sagen konnte.
"Mach das Licht an, bitte."
"Du weißt doch, die Mama mag es nicht, wenn wir Licht machen. Nur die Großen dürfen Licht machen."
"Aber es ist schon so dunkel und ich habe Angst. Wenn wir Licht haben, weine ich auch nicht mehr. Und dann können wir auch was spielen."
Der Junge hatte keine Lust zum Spielen, aber er fühlte sich auch nicht wohl im Dunkeln. Die Wohnung wirkte so anders im Dunkeln ohne seine Mutter, so fremd. Dem Mädchen war auch nicht wirklich nach Spielen zumute. Es hatte Hunger, war müde und wollte nur noch, dass die Mutter zur Tür reinkam und alles wieder war wie immer.
Die Mutter kam nicht. Der Junge machte Licht. Es wurde kühl, den Kindern war kalt. Sie trauten sich nicht, eine Decke zu holen. Aneinander gekuschelt schliefen sie ein.
Als die Geschwister aufwachten, dämmerte es bereits. Beide Kinder waren nass. Das Mädchen weinte wieder, wusste sie doch, wie wenig die Mutter es leiden konnte, wenn die Hose nass war. Ihr Bruder tröstete sie, er wolle ihnen saubere Hosen aus dem Schrank holen. Das beruhigte die Schwester etwas. Der Junge versuchte die Tür des Kinderzimmers zu öffnen, doch es ging nicht. Sie war abgeschlossen. Da drückte er die Klinke zum Schlafzimmer der Mutter, auch abgeschlossen. Er probierte sein Glück an der Wohnzimmertür, abgeschlossen. Das Mädchen weinte nun heftig.
"Weine nicht", bat sie der Bruder, "ich wasche dir die Hose aus. Sie trocknet sicher ganz schnell."
"Ja?" fragte die Schwester zaghaft, nicht ohne einen Anflug von Hoffnung.
"Sicher"
"Kommt die Mama nun bald?"
"Ja, bestimmt."
"Warum ist sie nicht schon gestern gekommen?"
"Sie hat wohl keine Milch und keine Brötchen mehr gekriegt."
"Oh ja, Milch und Brötchen."
"Wir müssen auf die Mama warten, sie bringt Milch und Brötchen mit."
"Kommt sie bald? Ich habe Hunger."
"Ja, sie kommt bald."
5 Tage später kam die Mutter nach Hause. In ihrer Einkaufstasche befanden sich eine Tüte mit Brötchen, ein Liter Milch und je ein Spielzeug für die Kinder, ein Boot für Peter und eine Plüschmöwe für Anne. Die Wohnungstür war aufgebrochen worden, die Wohnung teilweise ausgebrannt. Im Briefkasten lag ein Brief, ein amtliches Schreiben. Sie möge sich umgehend im örtlichen Polizeirevier melden. Ihre Tochter, Anne, sei im Krankenhaus, ihr Zustand sei äußerst kritisch. Peter, ihr Sohn, sei im Heim. Er würde psychologisch betreut. Es gehe ihm den Umständen entsprechend. Ein Kontakt zu ihren Kindern sei von Seiten der Behörden nicht erwünscht.