Die Nacht (Teil I)

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Die Nacht
Die Hitze hatte sich verändert. Es war ein guter Sommer gewesen, bisher, doch jetzt empfand er ein drückendes Unbehagen. Auch der Wind, der mit dem späten Nachmittag aufgekommen war, brachte keine Linderung. Wie ein kleiner Ventilator in einem heißen, schlecht gelüfteten Raum, bewegte er die warme, verbrauchte Luft nur hin und her. Hätte er im Süden studiert, in Spanien vielleicht, hätte er sich an die Situation erinnert, als er spät abends mit schweißnasser Stirn und dunklen Kränzen unter den Ärmeln des T-Shirts, in einem Waschsalon saß und von der gleichförmigen Bewegung der rotierenden Waschtrommel eingelullt wurde. Seine Shorts gingen ihm nur knapp über den Hintern und seine Oberschenkel klebten am roten Plastik des alten Schalensitzes. Im Hintergrund rauschten die Trockner und machten die Luft zum zerschneiden. Von einem hohen Wandbord plärrte blecherne Musik aus einem billigen Radio, zwischendrin Kommentare oder Werbefetzen, hart und schnell gesprochen, seinen Ohren aus dem nördlichen Europa unverständlich. Dann verdunkelte sich die offene Glastüre am Eingang des länglichen Raumes und eine Frau kam geräuschlos näher. Die dunkelbraunen Haare reichten ihr genau bis zum Kinn und rahmten ihr Gesicht, mit den großen braunen Augen, der langen schmalen Nase und dem üppigen Mund. Unter dem kurzen, geblümten Trägerkleid ihre schlanken, olivfarbenen Beine. Die Füße steckten in Espadrilles.
Eine Tür knallte. Sein Versuch ein wenig Durchzug zu machen, war erneut gescheitert. Wieder hatte ihn die drückende Schwüle dösen gemacht. Seine Gedanken und der Inhalt des Buches, das er zu lesen versuchte, waren ineinander gelaufen und hatten jene traumähnliche Klischeecollage ergeben. Er hatte ja gar nicht in Spanien studiert. Halb wurde ihm bewußt, daß es die Bilder aus dem Fernsehen kante; sie hatten was mit einem Schokoriegel zu tun. Er fügte das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Geschlossen hielt er es in der Hand und versuchte, sich in diesem Nachmittag seines Lebens zu orientieren. Seine Zunge klebte in seinem trockenen Mund, das Glas neben ihm war leer - einige Obstfliegen liefen konvex darin umher. Das Mittagessen hatte er ausfallen lassen, denn die Hitze hatte ihm den Hunger genommen; doch jetzt spürte er seinen leeren Magen. Noch immer unschlüssig legte er das Buch beiseite, ging im dämmrigen, fensterlosen Bad pinkeln und anschließend in die Küche. Die kühlen Fliesen waren angenehm unter seinen nackten Füßen. Mit der Absicht etwas leichtes zu sich zu nehmen, öffnete er den Kühlschrank. Er ging davor in die Hocke und die kalte Luft strömte in sein Gesicht. So verharrte er, bis der Kühlschrank brummend ansprang. Dann entschied er sich, entgegen seines Vorsatzes für Mettwürste und Bier. Beides trug er ins Arbeitszimmer ans Fenster. Er hatte sich entscheiden müssen, es entweder zu öffnen oder die Jalousien herunterzulassen. Da er aber das eine ohne das andere nicht wollte, hatte er das Fenster weit geöffnet und dann mit einem weißen Tuch gegen die Sonne abgehängt, das er mit Tesa-Krepp am Fensterrahmen festgeklebt hatte. So war es angenehm dämmrig im Zimmer. Fünf Stockwerke unter ihm hörte er den Sonntagsverkehr. Die Menschen fuhren zu frühen Abendessen oder kamen von letzten Einkäufen zurück, einige wollten wohl auch zur Messe. Wenn es ruhig war, konnte er manchmal die Glocken hören... Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und setzte das große Weißbierglas an die Lippen. Zunächst spürte er nur den Schaum, doch dann rann ihm das kühle Bier durch die Kehle. Er trank mit großen Schlucken und als er absetzte, war das Glas bereits zu zwei Dritteln geleert. Er stellte es vor sich auf die hölzerne Schreibtischplatte und die Bewegung löste einen Rülpser aus; mit offenem Mund stieß er laut auf, einer der Vorteile des Alleinseins. Beuys kam ihm in den Sinn: jener Kasten mit der filzüberzogenen Flasche. Er lachte kurz auf, ebenfalls laut, dann seufzte er, schloß für einen Augenblick die Augen und ihr Bild blitzte vor ihm auf. Er schnappte sich ein Würstchen und biß energisch ab. Der rauchig-salzige Geschmack füllte seinen Mund und er griff erneut zum Glas, um nachzuspülen. Jetzt war das Glas leer. Er wechselte vom Schreibtisch in seinen Lesesessel, die Würstchen blieben auf dem Teller zurück. Beim Blättern in der bereitliegenden zeitung merkte er, daß der Alkohol schnell wirkte, was ihn nicht weiter wunderte. Er hatte das Bier auf nüchternen Magen getrunken und die Hitze tat das ihre dazu. Innerhalb einer Viertelstunde war er auf das Angenehmste besoffen. Alles um ihn wurde leicht und heiter, sogar die Schwüle schien weniger drückend. Doch viel Zeit für diese Wahrnehmung blieb ihm nicht, denn schon wurden seine Augen wieder schwer. Er ließ es geschehen, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Warum sich wehren, gegen dieses angenehme eingeschläfert werden? Fast hoffte er, es könnte für immer sein.

Wenn der Mensch einen Mangel oder eine andere Qual erleidet, dann hilft er sich im Traum manchmal selbst: ein Durstiger träumt von einem kühlen Wasser, aus dem er schöpfen und an dem er seinen Durst stillen kann. Als er klein war, hatte er vor dem Zubettgehen einmal zuviel Limonade getrunken. Im Schlaf wurde der Druck in seiner Blase zunehmend größer doch statt zu erwachen hatte er schließlich von einer Toilette geträumt. Er sah sich selbst seinen Hosenstall öffnen, um sich dann in die weiße Keramik zu erleichtern. Erwacht war er von der warmen Nässe zwischen seinen Beinen und der dunkle Kranz auf seiner Schlafanzughose und der Matratze waren ihm sehr peinlich. Jetzt, bierselig und in einen Hitzekokon eingehüllt, führte sein Traum ihn an einen kühlen Ort. Was er zuerst wahrnahm, war der Geruch: er stieg in seine Nase und rief sofort zahlreiche Erinnerungen wach, so als hätte jemand eine alte Platte aufgelegt und man höre nun die altvertrauten Lieder. Der kühle Seewind vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung und seine Augen blickten über die graugrünen Wassermassen. Weit draußen eine scheinbar ruhige Fläche, nah an der Küste zerteilt von der weißen Gischt der Flutwellen. In gleichmäßigem Abstand ragten die zweireihigen Wellenbrecher ins Wasser hinaus, in der Luft kreischten Möwen, am Horizont dahingleitende Schiffe. Als er sich drehte und sein Blick in Landrichtung schweifte, sah er den alten Panzer. Ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg und für ihn eine Erinnerung daran, daß er als Deutscher eine belastende Geschichte im Gepäck hatte, hier in den Niederlanden. Die nächste Wahrnehmung holte ihn in die Gegenwart zurück: ihr Gesicht, ihrer Stimme: „Träumst du? Komm schon, näher ans Wasser. Wir wollen sehen, was wir zwischen den Steinen finden.“ Mit diesen Worten lief sie heiter voraus zu den Steinen, die die Wellenbrecher flankierten. „Mach schon“, rief sie wieder, „noch ist die Flut nicht sehr weit.“ Er schritt ihr nach und musterte sie. Die kurzen, mittelblonden Haare, das blasse Gesicht, darin die klaren, blaugrauen Augen. Sie trug den dunkelblauen Dufflecoat den sie so liebte, eine Jeans und grobe, braune Lederschuhe. Sie sah aus wie ein Junge und wie er sie so sah, wußte er wieder, wie sehr er sie liebte. Er beschleunigte seine Schritte durch den feuchten Sand und sah die Dampfwölkchen seines Atems vor dem Gesicht. Es war kalt in Westkapelle, jetzt, ende Oktober. Eigentlich hätten sie es sich gar nicht leisten können hierher zu fahren. Beide steckten mitten im Studium und es gab Teilnehmerlisten und Pflichtveranstaltungen. Doch ihre Impulsivität hatte ihn mitgerissen. Im Sommer hatten sie sich keinen Urlaub leisten können und das feuchtkalte Herbstwetter, das sich in diesem Jahr schon anfang September am Niederrhein breitgemacht hatte, lastete auf ihren Gemütern. So gesehen war es ganz vernünftig gewesen ein paar Klamotten in eine Reisetasche zu schmeißen, in den alten Ford zu steigen und an die holländische Küste zu fahren, um eine Woche auszuspannen und Kraft zu tanken. Auch ihrer Beziehung würde der Trip sicherlich gut tun, schließlich waren die kurzen Treffen in der Mensa und abends zwischen den Schreibtischen, an denen sie in den Lichtinseln der Halogenlampen saßen und büffelten, der Liebe nicht gerade dienlich. Und in Westkapelle lagen ja auch die Wurzeln ihrer Liebe; obwohl sie aus der gleichen Stadt stammten, hatten sie sich hier im Sommerurlaub kennengelernt. Sie war zwölf und wohnte mit ihren Eltern in einer Ferienwohnung, er war dreizehn und logierte mit seinen Eltern auf dem Campingplatz gegenüber. An der Pommesbude, die beide Anlagen versorgte - Ferienwohnungskomplex und Campingplatz - hatten sie sich das erste Mal getroffen. Er hatte sie mit seinen paar Brocken Niederländisch angesprochen und sie hatte verwirrt dreingeschaut. Dann hatte sie ihn gefragt, ob er denn vielleicht auch Deutsch spreche und da hatte er gelacht und es war ein netter Abend geworden.
Jetzt hatte er die Steine erreicht, auf denen sie balancierte, während ihre Augen zwischen ihnen auf Entdeckungsreise gingen. Als sie taumelte und mit den Armen ruderte, weil sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, stand er schon hinter ihr und nahm ihrer kühle Hand in seine. Sie fand wieder Halt und drehte ihm ihr Gesicht zu. Sie lächelte und während eines Kusses rieben sie ihre kalten Nasen aneinander. Zwischen den Steinen fanden sie Seesterne und Quallen, einen verirrten, länglichen Fisch, kleine und große Krebse, sowie die rostigen Einzelteile eines Fahrrades. Sie waren glücklich.
Er lächelte im Schlaf.
Mit der Dämmerung gingen sie vom Strand weg in den kleinen Ort hinein. Sie kehrten im ersten Lokal ein, daß jetzt nach Saisonende noch geöffnet hatte und bekamen in dem angenehmen warmen Raum schnell rote Wangen. Bei dem rothaarigen Kellner bestellten sie Grolsch und die Karte. Sie entschied sich für einen Fischteller, er bestellte Pfannkuchen. Nach dem Kaffee zählten sie dem Kellner die Gulden für die Rechnung samt Trinkgeld auf den Tisch und verließen dann, unter dem Versprechen wiederzukommen, das Lokal und schlenderten zu ihrer kleinen Pension. Sie gaben sich alle Mühe auf dem Weg zu ihrem Zimmer keinen Krach zu machen, doch die alte Holztreppe, die unters Dach führte knarrte so jämmerlich, daß sie nur mit Mühe ihr Kichern unterdrücken konnten. In der kleinen Dachstube war es lausig kalt. Sie schoben die metallenen Betten zusammen, zogen dann das Nötigste aus und schlüpften unter die dicken Daunenplumeaus. Er angelte eine Flasche Genever hervor und der Schnaps half ihnen beim Aufwärmen. Eng kuschelten sie sich aneinander, küßten, tasteten, ganz so wie beim ersten Mal in den Dünen. Es dauerte lange, bis sie sich aus ihren wärmenden Kleiderpellen geschält hatten und als sie soweit waren, quietschte das alte Bett mit furioser Lautstärke unter ihnen und als sie den Höhepunkt erreichten, bissen sie sich verstohlen auf die Lippen, um nicht zu laut zu stöhnen, denn die beiden anderen Zimmer - das wußten sie vom Frühstück - waren ebenfalls vermietet und die Wände waren dünn wie Zigarrenholz. Ihre innere Hitze reichte gerade aus, um sich an dem winzigen Waschbecken schnell die Zähne zu putzen und über den Flur auf die Toilette zu huschen. Dann kuschelten sie sich wieder wärmesuchend aneinander und schliefen rasch ein. Im Morgengrauen wurde er von Geräuschen aus dem Nachbarzimmer geweckt: leises Stöhnen und das rhythmische Quietschen eines eisernen Bettgestells. Schmunzelnd blickte er durch das kleine Dachfenster über ihm in einen bleigrauen Himmel und fuhr mit seinen Fingern durch ihre kurzen Haare. Es war einer der glücklichsten Momente in seinem Leben.

Er erwachte mit einem schrecklichen Katergefühl. Um ihn herum war es dunkel geworden und für einen Moment fehlte ihm jegliche räumliche und zeitliche Orientierung. Sein Nacken schmerzte, er hatte krumm gelegen. Nein, gesessen. Jetzt erkannte er seinen Lesesessel im Dunkeln wieder und wußte, wo er war. Damit war auch mit aller Klarheit das Wissen wieder in ihm, daß er alleine war, sie war nicht mehr Teil seines Lebens. Er richtete sich auf und rieb seinen Nacken. Dann tapste er barfuß ins Bad, schlug sein Wasser ab und nahm eine kalte Dusche. Anschließend ging es seinem Körper besser, doch in seinem Kopf herrschte weiter Aufruhr und sein Herz war die Zwangsjacke nicht losgeworden. Er gönnte sich reichlich kühlendes Eau de Toilette und bestäubte seine Füße mit Talkum. Im Schlafzimmer schlüpfte er in eine Unterhose, über die er eine kurze Sporthose zog. Außerdem angelte er noch ein frisches T-Shirt aus dem Schrank. Nicht, daß es abgekühlt hätte, sie Schwüle lastete unvermindert auf der Stadt, aber erstens brauchte er etwas, in das er hineinschwitzen konnte und außerdem wollte er sich und sein Äußeres nicht vernachlässigen, denn soweit was es noch nicht mit ihm. Noch nicht! Sein Magen knurrte, er ging in die Küche. Schon heute morgen war es heiß gewesen und so hatte er bereits beim Einkauf gewußt: heute wäre der richtige Tag für ein Chili. Seit er Betty Blue gelesen hatte, wußte er ein frisches Chili besonders zu schätzen, wenn es wahnsinnig und heiß um ihn war. Er schaltete die Leuchte über dem Herd an, die Deckenlampe wäre ihm zu hell gewesen, nicht zuletzt wollte er die Fenster offen lassen, sich aber auf keinen Fall mit irgendwelchen blöden Insekten rumärgern. Wieder spürte er den angenehm kalten Atem aus dem Kühlschrank, in dessen Licht er Schlagschatten in die Küche warf, so daß er nicht mehr ganz alleine war. Er legte die Kalbsbrust auf die Arbeitsplatte und die Tomaten daneben. Aus Schränken und Dosen holte er sämtliche Zutaten zusammen und arrangierte sie alle zu einem kleinen Stilleben. Er befreite das Fleisch aus seiner knisternden Verpackung und wusch es unter fließend kaltem Wasser, das mit Blut vermischt in den Ausguß lief. Liebevoll tupfte er das Fleisch anschließend trocken, bevor er ihm mit dem großen Messer zu Leibe rückte. Die frisch gewetzte Klinge glitt mühelos durch die Fasern und in Kürze war der Fleischbatzen in kleine Würfel verwandelt. Er legte sie beiseite und bearbeitete anschließend die Zwiebeln, den Knoblauch, die Paprika und die Tomaten. Jede Zutat legte er in eine separate kleine Schüssel, er arbeitete schnell und sauber. Aus dem kleinen Küchenradio plärrte ein ausländischer Sender, vielleicht italienisch. Er mochte es, daß die Stimmen und die Musik die Einsamkeit ein wenig vertrieben, den Platz der Schlagschatten einnahmen, die mit dem Schließen der Kühlschranktür verschwunden waren, aber verstehen wollte er die Worte nicht, denn zur Zeit waren Worte in seinem Kopf wie Billardkugeln: eine stieß klickend an die nächste. Immer stärker wurde die Dynamik, klick, klick, klick-klick, und schließlich kam er immer bei der schwarzen Acht an und die hatte ein blasses Gesicht und kurze, mittelblonde Haare und ihre klaren graublauen Augen rissen ihm das Herz aus der Brust, während sein Kopf zerspringen wollte vom Klick-klick-klick der rasenden Kugelgedanken, der Gedankenkugeln...
Das Fleisch zischte im heißen Öl. Die Dunstabzugshaube arbeitete auf Höchsttouren in seiner fensterlosen Küche. Mit dem hölzernen Löffel verteilte er das braun werdende Fleisch durch den gußeisernen Topf und gab die Zwiebeln und das Knoblauch hinzu. Er konzentrierte sich ganz auf das Geschehen im Topf; für ihn war Kochen eine Art Meditation. Das Fleisch setzte leicht an und mit den Tomaten kam Farbe in den Topf. Schließlich löschte er alles mit Brühe ab und aus dem zischenden, blubbernden Inferno wurde eine ruhige Suppe. Jetzt kam der wichtigste Teil des Chilis, jetzt kam die Geduld. Mit dem Beginn des leisen Blubberns setzte er noch Tomatenmark hinzu und drehte die Flamme dann kleiner. Der Gasanschluß war mit das Beste an diesem Sechzigerjahrehaus. Manchmal allerdings klang allein das Wort Gas so komisch nach, dann fiel ihm Oskar Matzerath ein, der in Danzig den Gasmann erahnt hatte, als alle auf den Weihnachtsmann warteten. Es war nicht verkehrt, fand er, sich der Geschichte der Nation, in die man hineingeboren wurde, bewußt zu sein - so wie angesichts des Panzers in Westkapelle - aber man durfte auch nicht in Paranoia verfallen, nur weil man einen Gasherd hatte. Er machte sich ein Eiswasser mit einem Schuß Zitrone. Für das Bier war es noch zu früh, das mußte er für das Chili aufheben. Er wischte einige Tomatenspritzer auf und rührte mit dem Holzlöffel in der roten Flüssigkeit, langsam, ganz ruhig. Kurz danach tauchten die Blasen wieder auf, die er mit dem kreisenden Holz vertrieben hatte. Zufrieden legte er den Löffel wieder an seinen Platz. Die Küche füllte sich mit einem Hauch von Duft. Die einzelnen Gerüche des gebratenen Fleisches, der glasigen Zwiebeln, der wäßrigen Tomaten und des öligen Knoblauchs waren eine flüchtige Melange geworden und krochen - wunderbar kurzlebig - durch die heiße Luft.
Wieder ging er pinkeln und anschließend ins Wohnzimmer. Vielleicht war das mit dem Chili doch keine so gute Idee gewesen, wegen der Sache mit der Geduld. Denn Geduld bedeutete nun unausgefüllte Zeit zu ertragen oder die unausgefüllte Zeit zu füllen. Unausgefüllt, das wußte er, würde nur wieder das Billardspiel in seinem Kopf losgehen und das wollte er, mehr als alles andere, verhindern. Also galt es, die Zeit zu füllen, die das Chili brauchen würde, um einzukochen. Das einfachste war der Griff zur Fernbedienung. Im dunklen Raum warf die Kiste nervös-bläuliches Licht an die Wände. Volksmusik, Spielshow, Spielfilme, Videoclips, Werbung, Comedy, eine Oper, Nachrichten und der Verkaufskanal. Auf dem türkischen Sender guckte er ein Stück von einer alten Folge „Ausgerechnet Alaska“, im amerikanischen Original mit türkischem Untertitel. Dr. Fleishman erklärte gerade Holing, dem Wirt der Dorfkneipe, etwas. Ed, ein etwas einfältiger aber liebenswerter Eingeborener saß daneben und hörte zu. Obwohl die für ihn fremden Stimmen nicht zu den vertrauten Gesichtern passen wollten, flammte doch in seinem Inneren die Erinnerung auf: darüber hatten sie gemeinsam gelacht, in den besseren Tagen. Wieder war er bei ihr angelangt. Wütend schaltete er um. Auf mtv ließ er sich von einem Heavy-Metal-Video beruhigen, weil der Sänger stellvertretend für ihn die ganze Wut herausschrie. Dann schaltete er ab. Er überlegte. Was blieb ihm übrig, wenn er alle gemeinsamen Erinnerungen streichen mußte? Sie hatten sich als Kinder kennengelernt, da kam eine ganze Menge zusammen. Er sah seine Bücher durch. Seine Liebe zur Literatur hatte sie nicht geteilt. Doch auch hier gab es Anknüpfungspunkte: er fand Bücher, die er in gemeinsamen Urlauben gelesen hatte, in einigen fand er noch feine Sandkörner oder die Fettflecken der Sonnenmilch, die sie sich gegenseitig auf den Rücken geschmiert hatten. Andere Bücher hatte sie ihm geschenkt, zum Geburtstag, zu Weihnachten. Es war zum aus der Haut fahren. Sollte er sich selbst blenden, wie einst Ödipus? Dann würde er ihrer Spuren in seinem Leben zumindest nicht mehr sehen. Doch was würde dann in seinem Kopf los sein. Wahrscheinlich würde sich das Billardspiel verwandeln und in seinen Kopf würden die rotierenden Kugeln einziehen, die er aus der Ziehung der Lottozahlen kannte. Alle Bälle wären gleichzeitig in Bewegung, mit einem schrecklichen, an ins Fleisch geschlagene Nägel erinnernden Klackern. Nein, Selbstverstümmelung war nicht sein Weg, zumal er, anders als Ödipus, nichts zu büßen hatte. Oder? Wieder die leidige, bohrende Frage: Warum hat sie mich verlassen? Die konnte man, wenn überhaupt, doch nur mit Selbstverstümmelung in Schach halten, nämlich mit der schleichenden Destruktion namens Alkohol. Betäubend und vernichtend in einem. Ganz wie sein Vater könnte er es dann machen, denn der hielt sich ja auch nur deshalb so lange, wie er es tat, weil Alkohol gut konserviert... Jetzt reichte es, er schnappte sich die Zeitung - die war ohne belastende Vergangenheit, aus dem Hier und Jetzt, aus der Post-Maria-Zeit - ging damit in die Küche und schnappte sich gegen seine Vorsätze ein Pils. In kühlen Schlucken rann das Bier wohltuend die Kehle runter und er setzte sich, die Zeitung aufschlagend, an die Frühstückstheke. Prost Papa!
Das Chili brannte in seinem Mund, doch genau das sollte es. Nachdem die Flüssigkeit ausreichend eingekocht war, hatte er das Gemüse zugegeben. Zuerst die frischen Paprika, dann aus den Dosen die Bohnen und den Mais. Mit einer frischen Chili und Cayennepfeffer hatte er dem ganzen den nötigen Pep verliehen. Das Chili war genau richtig und der Reis verlieh ihm zusätzliche Festigkeit. Der Joker dazu war das eiskalte, mexikanische Bier, das aus der schmalen, klaren Flasche über seine Lippen floß. Herrlich! Er schloß die Augen und für einen kurzen Moment ging es ihm wieder richtig gut. Als er sich nach mehreren Tellern kaum noch rühren konnte, half ihm der Tequila, seinen Magen ein wenig aufzuräumen. Zufrieden stellte er den Teller in die Spüle und setzte die große Kaffeekanne auf den Herd. Während er den Kaffee zubereitete, aß er noch ein italienisches Eis. Der Kaffee brachte sein Hirn wieder auf Hochtouren, doch sein Körper war umgeben von Trägheit. Es war, als säße er in einem angenehm kühlen Raum, bis zum Hals in heißem Wasser eines Vollbades. Wieder schloß er die Augen und vor ihm tauchten die filigrane Schönheit einer Tropfsteinhöhle auf. Kühle, feuchte Luft, im Hintergrund stetiges Tropfen und um ihn herum ein Pulk von Touristen; mit scharrenden Gummilatschen ließen sie sich durch die Atta-Höhle führen und lauschten den gelangweilten, tonbandartigen Ausführungen des Führers. Darum bemüht, dies alles auszublenden, blickte er sich in der Höhle um, als sein Blick auf ein Paar klarer, blaugrauer Augen stieß. Das Telefon schreckte ihn aus seinem Minutenschlaf.

Er öffnete die Augen und blickte sich in der Küche um, die Realität sagte stumm 'Hallo' und das Telefon plärrte erneut. Ein Blick auf die Armbanduhr: halb Elf. Wer mochte ihn jetzt noch anrufen? Um diese Zeit kamen Familienmitglieder nicht in Frage, es sei denn, es wäre jemand gestorben. Zwischen dem dritten und vierten Klingeln ging er im Geiste seine Freunde und Bekannten durch, kam aber nicht dahinter, wer von ihnen ihn jetzt anrufen sollte. Er ärgerte sich, schon auf dem Weg zum Apparat, daß er den Anrufbeantworter nicht eingeschaltet hatte, konnte sich aber auch nicht dazu durchringen einfach klingeln zu lassen; vielleicht war ja doch jemand gestorben... Nach dem sechsten Klingeln nahm er den Hörer ab: „Hallo?“. Sonst meldete er sich immer mit seinem Namen, doch jetzt wollte er, für einen kurzen Moment wenigstens, gegenüber der Person am anderen Ende der Leitung den Trumpf der Anonymität auf der Hand haben. Kein Geräusch, außer statischem Rauschen. „Hallo?“, fragte er erneut. Am anderen Ende wurde ein Seufzen laut, dann klickte es, die Verbindung war unterbrochen. Er stand im Flut und blickte tatsächlich in den Hörer hinein, als könne er in der anthrazitfarbenen Muschel sehen, wer da geseufzt hatte. Er legte auf und ging zurück in die Küche. Um einen körperlichen Ausgleich für seine auf Hochtouren laufenden Gedanken zu bekommen, fing er an die Küche aufzuräumen: das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, das restliche Chili in eine Dose und dann in den Kühlschrank. Er schrubbte energisch den Herd und schließlich wischte er sogar feucht durch. Das alles war nützlich und eine physische Wohltat. Sein Magen arbeitete mit den Bohnen, jeder Furz war eine Befreiung; doch für seinen Kopf, der ebenfalls um Verdauung bemüht war, fand er kein Ventil, das ihm Erleichterung verschafft hätte. Vielmehr fühlte er sich wieder an den Waschsalon erinnert: in seinem Kopf rotierte eine Waschtrommel, alles wurde von oben nach unten gewirbelt und wieder zurück, aber der Inhalt blieb der gleiche und eine Ordnung mochte sich nicht einstellen. Nach der Rotationsbewegung endete alles wieder bei der anfänglichen Frage: War sie das eben am Telefon? Stimmte es doch, daß Menschen spüren, wenn man intensiv an sie denkt? Nein, Zweiteres konnte er klar ausschließen. Wenn das der Fall wäre, hätte sie seit Monaten kein Auge zukriegen dürfen. Und zu der ersten Frage: Warum sollte sie bei ihm anrufen? Könnte es irgend etwas geben, daß sie an einem späten Freitagabend von ihm wollen könnte? Ihr Zusammenleben war „formlos“ gewesen. Es gab also keinen Trennungs- und Scheidungskrieg, wie er so gerne im Fernsehen gezeigt wird. Auch die Aufteilung des Inventars der gemeinsamen Wohnung war unkompliziert und zur Zufriedenheit beider verlaufen. Die klaren Regeln des Zusammenlebens hatten eine klare Trennung ermöglicht. Keine zehn Tage hatte es gedauert um alles sauber - fast chirurgisch - zu separieren. Bei den Klamotten war es eh kein Problem, bei den anderen Dingen: CDs, Bücher, Wohntextilien, Bilder, Küchenutensilien, bei allem also, was eine Wohnung füllt, machte sie eine Liste und fragte nach seinem Einverständnis, ehe sie sie in die Tat umsetzte. Er hatte die Liste gelesen und konnte nicht anders, als sie fair und durchdacht zu nennen. Ihre Sachen verstaute sie daraufhin in Kartons, die kurz danach verschwanden. Schließlich verschwand auch sie, allerdings nicht, ohne einen Zettel mit ihrer neuen Telefonnummer zu hinterlassen, denn sie wollte ihn verlassen und sich nicht aus seinem Leben stehlen. Er hatte die Nummer nie gewählt, aber über den PC hatte er herausgefunden, zu welchem Anschluß sie gehörte. Den Namen kannte er vom Hörensagen, ein Kollege von ihr. Die Adresse wußte er in eine chice Gegend einzusortieren. Er war sogar dort gewesen, hatte das Auto drei Straßen entfernt geparkt und sich dann zu Fuß, in der aufkommenden Dämmerung, dem Haus genähert. Die Fassade spiegelte zweierlei: Geschmack und Geld. Hinter einer dezenten Begrünung ließen sich Stahl, Glas und Holz ausmachen. Dagegen war schwer anzustinken und so zog er sich an jenem Abend zurück, mit Wut und Neid im Bauch und Tränen in den Augen. Wieder zuhause hatte er verschiedene Möglichkeiten durchgespielt: Rache, es ihr zeigen, ein noch größeres Haus bauen, um ihr zu zeigen, daß sie sich für den Falschen entschieden hatte; Suizid, er hätte seine Ruhe und würde ihr endgültig die Chance entreißen ihre Entscheidung zu revidieren; Terror, mit einem Farbbeutel, der an der Glasfassade zerplatzen würde, könnte er sich deutlich in ihr Gedächtnis zurückrufen; Hurerei, das Fleisch einer anderen schmecken, um sie zu vergessen. So und so ähnlich rauschten noch einige Schnapsideen durch seinen Kopf, dann griff er das Stichwort auf und betrank sich rückhaltlos. Die hatte die Wirkung einer Erste-Hilfe-Leistung: sein Schmerz, seine Gedanken und schließlich sein Bewußtsein wurden abgeschaltet, er nahm eine Auszeit und am nächsten Tag zahlreiche Kopfschmerztabletten. Danach war er nie mehr auch nur in die Nähe des Hauses gegangen, hatte sie weder gesehen, noch gesprochen. Und jetzt sollte sie ihn anrufen? Diese Idee war so abwegig, daß er sich dabei erwischte, wie er über sich selbst den Kopf schüttelte. Gleichzeitig wurde ihm aber auch bewußt, daß er sich gewünscht hatte, daß sie es gewesen wäre. Als Jugendlicher hatte er sich in solchen Situationen in seinen Schmerz fallen lassen, wie in eine offene Klinge. Er hatte ihn verstärkt, indem er alte Briefe las und sentimentale Musik dazu hörte. Dann, wenn es nahezu unerträglich war, hatte er zum Messer gegriffen und in seine Arme geschnitten. Das beanspruchte seine Aufmerksamkeit, denn er legte Hand an sich ohne sich verstümmeln oder sonst ernsthaft schaden zu wollen. Die roten Schlitze in seiner Haut fesselten seine salzfeuchten Augen und der körperliche Schmerz überlagerte kurzfristig den seelischen; auch wieder so eine fragwürdige erste Hilfe. So konnte er für eine Weile die Realität verschieben und schuf sich gleichzeitig ein ewiges Andenken, wie die Narben auf seinem Arm ihm jetzt bewiesen. Doch heute war eine solche pubertäre Handlung für ihn keine Option mehr. Wenn er sich ablenken und sich gleichzeitig ein bißchen quälen wollte, dann konstruktiv, mit Sport. Gewichte wuchten bis zum Kreislaufkollaps, gewaltige Kilometerzahlen joggen bis zum Asthmaanfall und dann zurück, das war seine gegenwärtige Folterkammer, in der er nun seit einem halben Jahr agierte. Immerhin, körperlich war er fit wie lange nicht.
Wieder zerriß das Telefon die Stille und seine Gedanken. Diesmal zauderte er nicht und war schon mit dem zweiten Klingeln am Apparat: „Hallo?“ „Hallo“, eine weibliche Stimme, „ich bin's!“ Mit einem Schlag war sein Körper wie mit Blei ausgegossen, gleichzeitig fühlte er, wie sein Kopf meterweise in Verbandwatte eingewickelt wurde. Um ihn herum bildete sich eine Blase, die die Realität und die Zeit draußen hielt. Nur über den Telefonhörer, den er an sein pfeifendes, von seinem Kreislauf durchrauschtes Ohr hielt, blieb er mit der Welt verbunden, wie durch eine Nabelschnur. Er schwieg eine Ewigkeit, nicht fähig auch nur ein Wort zu formen. Hinterher würde er vor sich selbst behaupten, es sei Coolness gewesen, die ihn habe warten lassen. Dann krächzte er ein fragendes: „Ja?“ „Du fehlst mir.“, sagte die Frauenstimme zaghaft. Alles in ihm wollte aufschreien und jubeln, doch so leicht konnte, durfte es nicht sein, das wußte er ! Am Rauhputz kratzte er sich die Knöchel der Rechten blutig und entgegen allem, was in ihm tobte fragte er: „Und?“ Sie schien diese Frage erwartet zu haben, denn die Antwort kam prompt: „Ich hatte gehofft wir könnten uns wieder mal sehen und noch mal über alles reden!?“


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
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