Die Ohren von Madame

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Die Ohren von Madame





Sie kennen Madame? Was, Sie kennen sie nicht, die Dame, die in Parterre wohnt, und die den ganzen Tag am Fenster sitzt? Ihre Augen, die sind nicht mehr ganz so scharf, wie Bajonette vor Verdun. Doch ihre Ohren; psst, nicht dass sie uns hört...


Madame ist reich. Das sieht man gleich, und wenn man unten an die Haustür klopft, dann klingt es gar nicht hohl.
Dann macht sie auf; „Bon Soir“, sagt sie, „Sie haben Post, vom Bürgermeister, wie ich sehe. Dass ich mir keine Sorgen machen muss?“

Madame ist nur so reich, weil sie sich die Dauerwelle spart, geht es hämisch um. Die Mieter flüstern es bei fließend Wasser, damit Madame es ja nicht hört.

Sie hört den Russen ab. Sie hört sogar die Bäume wachsen. Sie hört Signale aus dem All.
Doch seit zwei Wochen hat sie nichts mehr von ihrem Sohn gehört, der nach Paris verzogen ist.
Er wollte sich melden. Das tat er immer.


Der Mann aus Wohnung Nummer Eins


Niemand hat ihn je gesehen. „Er ist irgendwann eingezogen“, sagt Herr Ullrich. „Fragen Sie Madame, die sollte es wissen. Die weiß alles!“

Man muss an der Wohnungstür von Madame nicht klopfen.
Man räuspert sich. Und schon hört man rasche Schritte über die Diele eilen, die Riegel werden fort geschoben. Dann steht sie da…

„Madame Julie?“

Ihre Falten sind so tief wie der Marianengraben. Sie trägt ein Abendkleid, und durch eine Brille mit Goldrand bohrt ein messerscharfer Blick.

Nein, le Monsieur aus Wohnung Nummer Eins hat alles telefonisch geregelt. Er ist über Nacht eingezogen. Sie hat den ganzen Tag auf ihn gewartet, am Fenster und ist dann schlafen gegangen.
Am nächsten Morgen war sein Namensschild an der Tür.

Madame verschüttet den Tee. Sie spart sich die Dauerwelle seit jenem Tag, sagt sie. Die Haare kräuseln sich von ganz allein, wenn sie an seiner Tür vorüber geht. Selbst die Fensterläden sind verriegelt. Er kauft nicht ein, er geht nicht aus. Seit dreiundsiebzig geht das so, sagt sie. So um den Juni?

„Und mehr wissen Sie nicht über ihn, Madame? Die Wohnung über ihm ist kühl. Am Boden kondensiert der Atem. Ohne Winterstiefel läßt´s sich kaum aushalten; selbst im Sommer nicht. Was geht da unten vor?“

Madame lehnt sich zurück. Er telefoniert; mit Freisprechanlage. Sie hört die Stimmen, Tag und Nacht. Es sind Männer, Frauen, Kinder. Meistens Deutsch, das gibt sie zu.

„Madame, ich habe Angst, wenn ich an seiner Tür vorüber gehe. Die Heizkosten! Nicht auszudenken, wenn sie weiter steigen!“

Madame aber lächelt.
Ca va!
Es spart ihr die Dauerwelle, sagt sie.


Ein Schatten in Paris


Wer Madame kennt, weiß, dass sie niemals lauscht.
Sie hört nur besser hin, als andere.
So hat Jean-Pierre sich immer trés gentil ausgedrückt.
Trés gentil Jean-Pierre. Warum er sich nicht meldet?
Wollte er nicht anrufen, nachdem er à Paris gereist ist?

Madame macht sich Sorgen. In Wohnung Nummer Eins, da wird geflüstert. Sie hört so viele Stimmen, dass ihr ganz schwindlig wird.
Wenn sie mit ihrem Ohr, aus Versehen, an die Wand zu Wohnung Nummer Eins gerät, bekommt sie eine chair de poule, eine Gänsehaut.

Sie hört, dass jemand sagt, dass er gut angekommen sei. Die Wohnung sei ganz nach Geschmack, auch der Weg zur Arbeit sei ein Katzensprung. Von einem Besuch ist oft die Rede, und dass so selten Zeit dafür ist. Immer wieder hört sie ein Vertrösten, ein Später, ein Irgendwann. Wann Jean-Pierre sie wohl besuchen wird, fragt sie sich.

Es ist nun schon drei Wochen her, seit Jean-Pierre sich nicht gemeldet hat. Madame verliert die Beherrschung, wenn sie im Haus ein fröhliches ring-ring vernimmt.
Sie stürzt zum Telefon, die Lippen verkniffen, sie wählt die Null, die Null, die Drei, die Drei; die Eins für die Hauptstadt, für Paris, die Nummer von Jean-Pierre.

Sie wartet…
Sie wartet…

Es läutet in der Wohnung nebenan.
Madame ist erschrocken. Sie hört Jean-Pierre; sein fröhliches Maman.
Doch ist da nicht ein Echo in der Wohnung Nummer Eins?
Er sagt, dass er gut angekommen sei. Die Wohnung, sie sei ganz nach Wunsch und auch der Weg zur Arbeit sei ein saut de chat; ein Katzensprung.

Madame schleicht hin zur Wand. Sie lauscht. Sie flüstert seinen Namen.

„Jean-Pierre?“

Sie hört es ganz deutlich. Jean Pierre ist nebenan und telefoniert mit ihr. Le Monsieur aus Wohnung Nummer Eins ist Jean-Pierre!

Sie lässt den Hörer fallen. Sie zittert, schleicht auf den Flur, zur Tür, lauscht.
„Jean-Pierre“, flüstert sie.
So kalt ist ihr, dass ihr der Schlüssel aus den Händen gleiten. Der Generalschlüssel, den sie nie benutzt hat. Sie bückt sich schnell, dann schaut sie auf.

Die Tür steht offen und eisige Kälte schlägt ihr entgegen.
Obwohl ihre Augen fast so scharf wie Bajonette vor Verdun sind, vermag sie in dem Dunkel nichts zu sehen.
Da ist ein Schatten, oder nicht?

„MAMAN? Schnell, nimm mich in die Arme, mir ist kalt!“

Was ist mit deiner Stimme, fragt Madame und tastet sich ins Dunkel vor.

Belegt ist sie, sagt er, und eisig kalter Schatten nimmt sie in die Arme.
Dann schlägt die Türe zu.


Kennen Sie Madame?


Was, Sie kennen sie nicht, die Dame, die in Parterre wohnt, und die den ganzen Tag am Fenster sitzt? Madame hört nicht mehr gut, seit ihre Ohren abgeschnitten sind. Die Polizei war da und suchte die Ohren.
Verschwunden waren sie und sind es noch.
Madame war still.
Kein Wort hat sie gesagt. Sie saß nur da, mit stumpfem Blick.

Ihr Sohn ist nach Paris verzogen, heißt es.
 
O

Orangekagebo

Gast
Gut geschrieben, Marcus.

Was mir auffiel:

Sie hört den Russen ab (die Russen?)

wie der Mariannengraben. (Marianengraben)

bohrt ein Messerscharfer Blick (messerscharfer)

Weiter eigentlich nichts. Spannend und glaubwürdig und gern gelesen.

LG, Karsten
 
Hallo Orange,
danke für das Lob. Ja, ist ganz gut gelungen.
Mal was anderes.

Man sagt tatsächlich der Russe oder der Franzmann, wenn man ein ganzes Volk klassifizieren möchte. Jedenfalls kenne ich das aus verschiedenen Zusammenhängen. Ich glaube mich an sowas erinnern zu können wie "der Russe steht vor Berlin" oder ähnliches.

Für den Marianengraben danke ich dir herzlichst. Das ist wirklich ein wunderbar dämlicher Fehler!

Bis dahin,
Marcus
 



 
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