Die Parkbank

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Pesse

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Die Parkbank

EDIT 6.5.06: Geschichte überarbeitet

„Ja, es ist lange her.“
Sie lächelte. Die Sonne hatte den Himmel fast vollständig erklommen und gab ihren grünen Augen einen wundersamen Glanz.
Noch vor einer halben Stunde war jeder eigenen Plänen gefolgt und hatte auf seinen Anschlusszug gewartet. Sie in Richtung Hamburg, er in Richtung Konstanz. Wie hoch war wohl die Chance gewesen, dass sie sich nach fünfzehn Jahren ausgerechnet am Frankfurter Hauptbahnhof wieder treffen würden, wo doch jeder von ihnen sein eigenes Leben und sein eigenes Ziel hatte?
Er hatte sich in Gedanken auf die bevorstehende Konferenz eingestimmt, als er einen überraschten Ausruf hinter sich hörte. Noch ehe er sich ganz umgedreht hatte und aus seinen Überlegungen auftauchen konnte, schlangen sich auch schon zwei Arme um seinen Hals. Er hatte sie sofort erkannt.
Vom plötzlichen Wiedersehen in diese besondere Art von Euphorie versetzt, hatten sie ihre Pläne geändert und saßen nun in einem der kleinen, friedlichen Cafés, wie es sie in allen verwinkelten Gassen einer Fußgängerzone gibt.
„Aber du hast recht. Im Juni hatten wir unsere Abschlussfahrt und zwei oder drei Wochen später bekamen wir die Abschlusszeugnisse. Abi ´90.“ Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, grinsend.
„Und wie immer warst du besser als ich.“ Ein leichtes Lachen drang aus ihrer Kehle. Heiter, unbesorgt, mit dem Leben zufrieden.
„Ach was, in Mathe habe ich total versagt! Das war für mich immer ein Buch mit sieben Siegeln.“ Sie sahen sich an. Forschten im Blick des Andern. Die Luft war erfüllt von friedlicher Geschäftigkeit. Der Geruch von Staub und Trockenheit wurde von einem Hauch Jasmin begleitet. Ein wenig betreten sah sie zu Boden. So lange her, so viel Zeit vergangen.
„Und, was machst du so? Wolltest du nicht Kunst studieren?“
Sie nickte. Ein Anflug von Unsicherheit überschattete für einen Moment ihren Blick.
„Ja, wollte ich.“
Fragend sah er sie an. Sie lächelte verlegen, doch nur einen Moment, dann war die unbeschwerte Heiterkeit in ihr Gesicht zurückgekehrt.
„Ich habe mich anders entschieden und schließlich Sozialpädagogik studiert. Um ehrlich zu sein: Ich wusste nicht so recht, was ich studieren sollte.“ Wieder das Lächeln, wieder konnte es nicht über die mitschwingende Unsicherheit hinwegtäuschen.
„Ist ja toll, und was machst du jetzt genau?“
„Ich arbeite in einer Einrichtung für soziale Brennpunkte. Wir arbeiten mit Jugendlichen zusammen, die sozusagen vom Leben benachteiligt wurden.“
„Das scheint ja mal wirklich ein interessanter Job zu sein.“ Sein Blick forschte in ihren Augen. Drang tief in sie ein in der Hoffnung, den eisernen Wall zu ihrem Innersten, ihren wahren Gedanken und Gefühlen nochmals zu durchbrechen.
„Ja, kann man schon sagen.“ Sie konzentrierte sich auf ihren Kaffee, in dem sich einige Bläschen miteinander verbanden und ein neues Gebilde ergaben, das wie selbstverständlich zusammengehört. Eine Spur zu energisch verwischte sie das Bild mit ihrem Löffel und blickte ihn fragend an.
„Und du? Was ist mit dir? Den Pulitzerpreis schon einkassiert?“ Um ihre Mundwinkel bildeten sich zwei kleine, neckische Fältchen, und für einen Augenblick fühlte er sich wie damals, vor fünfzehn Jahren.
„Ich arbeite als Redakteur bei einem Trendmagazin. Nichts Herausragendes, aber es macht Spaß.“
„Wirklich? Bei welchem denn?“
Er sagte es ihr, während er sich einmal mehr dabei ertappte, wie er sie intensiv musterte. Die rötlichen Haare noch immer locker zusammengebunden, noch immer die widerspenstigen Strähnen, die ihr mit unendlicher Ausdauer immer wieder ins Gesicht fielen.
„Na ja, ich bin mir sicher, das mit dem Pulitzerpreis klappt auch noch. Ehrlich gesagt habe ich deine Gabe fürs Schreiben immer schon bewundert.“ Neckisch sah sie ihn an, während sie sich bemühte, nicht auf die Oberfläche ihres Kaffees zu achten, auf dem sich neu gebildete Partnerschaften unbeschwert im Kreis drehten. Er hatte sich verändert, aber nicht so sehr, dass sie ihn nicht auf den ersten Blick erkannt hätte. Zwar waren seine Gesichtszüge markanter geworden, der Bartschatten dunkler, und er trug sein Haar nicht mehr ganz so provokant wie damals. Doch das war es nicht gewesen, woran sie ihn vorhin wieder erkannt hatte.
Für einen Moment herrschte seltsam betretenes Schweigen, und jeder suchte sich etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Dann trafen sich ihre Blicke, und für einen Augenblick drohte sie in seinen dunklen, geheimnisvollen Augen zu versinken, die sie niemals vergessen würde.
„Und sonst, was machst du so?“
Ihre Gedanken waren an einem anderen Ort. Genau wie seine. Die Luft heizte sich langsam unter der Glut der Sonne auf. Es würde Regen geben. Am Spätnachmittag wahrscheinlich. Und dann einen jener lauen, friedlichen Abende, die eine ganz eigene Magie haben, eine eigene Realität, eigene Versprechen und Gelöbnisse, die nur in jener abgehobenen, romantischen Welt existieren können, in der sie damals, vor fünfzehn Jahren, gemeinsam schwebten.
„Hm, was soll ich darauf antworten? Ich koche immer noch gerne, ich hasse Fußball noch immer – so viel hat sich nicht geändert bei mir.“
Mit einem Grinsen legte er die linke auf die rechte Hand und verdeckte so wie zufällig den kleinen, goldenen Ring, den er seit elf Jahren trug. Er wusste, dass sie ihn gesehen hatte. Doch sie sagte nichts, lächelte nur auf diese Art und Weise, die ihm nachts den Schlaf geraubt hatte. Damals, vor fünfzehn Jahren. Er hätte ihr von Damaris erzählen können. Von ihren gemeinsamen elf Jahren, die doch eigentlich sehr schön gewesen waren. Von den guten und den schlechten Tagen. Von den Momenten unbeschreiblichen Glücks und den Problemen eines emotionslosen, mechanischen Alltags, von den Dingen, die er so sehr an seiner Frau liebte und den geheimen Wünschen, die manchmal in ihm schwelten und die sich wohl niemals erfüllen würden. Er hätte ihr nochmals den Blick in seine Seele erlauben, die geheimsten Gedanken seines Gemüts zeigen können, hätte sich nochmals so mit ihr verbinden können, als wäre sie selbst ein Teil von ihm. Für einen Augenblick verspürte er den unbändigen Wunsch, es zuzulassen.
„Immer noch der Alte…“ sagte sie, nur um die Stille zu unterbrechen. Sie war in Gedanken gewesen dort am Bahnsteig, wäre beinahe an ihm vorüber gegangen. Er benutzte noch immer das gleiche Aftershave wie früher, das ihm einen unverwechselbaren Duft verlieh, doch das war es nicht gewesen. Irgendwie hatte sie ihn gespürt, noch bevor sie ihn gesehen hatte. Wie ein warmer Hauch aus einer unbeschwerten Vergangenheit hatte seine Gegenwart sie umschmiegt. Vielleicht sah er sogar noch besser aus, noch interessanter als damals. Die Schultern waren breiter geworden, sein Gesicht hatte einige Falten bekommen. Beinah zögerlich zwang sie sich, nicht an jene Zeit zu denken. An das intensive Rot des Sonnenuntergangs und die von der Sonne aufgeheizten Holzlatten der Parkbank.
„Und du? Was ist mit dir?“ Sein Lächeln konnte seine Befangenheit nicht ganz überdecken, auch wenn sie es irgendwie süß fand. Wie er krampfhaft versuchte, gelassen zu wirken, während ein zarter Lufthauch den verführerischen Duft ihres Parfüms in seine Nase trieb.
„Ich meine… bist du verheiratet oder hast du vielleicht sogar schon Kinder?“
Sie schüttelte den Kopf und starrte wieder auf ihre Hände. Er hätte sich am Liebsten die Zunge abgebissen. Er wusste, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Er hatte das immer gewusst. Alles in ihm verlangte danach, aufzustehen und sie an sich zu ziehen, sie in den Armen zu wiegen und ihr Geborgenheit zu geben. Nochmals ihre Nähe zu genießen. Nochmals ihr Held zu sein.
„Nein… ich habe wohl den Richtigen noch nicht gefunden.“ Sie konnte sie riechen, als sie aufblickte und ihm direkt in die Augen sah: die laue Luft jener Abende, an denen sie mit ihm zusammen gewesen war.
In Gedanken sah sie sich an ihn gekuschelt auf der roten Parkbank, deren Farbe schon langsam abblätterte.
Die Prüfungen waren vorbei gewesen, der Druck verflogen. Sie meinte, den sachten Wind in ihrem Haar zu spüren, wie er die aufgestaute Hitze in der Toskana jeden Abend auflockert, wie er sie auch damals aufgelockert hatte. Es war nicht so, dass sie das Traumpaar der Klasse gewesen wären, das es in jedem Abschlussjahrgang gibt und das doch eigentlich nur von der Aufmerksamkeit der anderen lebt. Nein, es war etwas anderes gewesen. Zumindest in dem Augenblick.
Unsicher rührte sie mit dem Löffel in ihrem Kaffee herum. Damals war alles so einfach gewesen. So klar. Die Träume hatten im Vordergrund gestanden und die Freude über den erfolgreichen Abschluss eines Lebensabschnitts hatte alles überdeckt. Natürlich war es eine Traumwelt gewesen, eine Realität, die nur temporär existenzberechtigt ist. Und dennoch konnte sie sich nicht dagegen wehren, dass die Erinnerungen in ihr aufstiegen. Ein Schleier von Wehmut legte sich über ihren Blick, mit dem sie ihn ansah, während seine Hand sich langsam und wie zufällig der Ihren näherte. Ihr Hals fühlte sich plötzlich zu eng zum Atmen an und seine Fingerspitzen verharrten Millimeter vor dem Ziel, während sie erneut seine warmen, gefühlvollen Lippen auf ihrem Mund spürte. Wieder hörte sie seine Versprechen. Versprechen, die die Verliebtheit diktiert und dieser Welt aus purer Romantik entspringen. Sie hatte sich nie so wohl gefühlt wie damals. Vor fünfzehn Jahren.
Und während sich tief in ihr ein uralter, verzehrender Schmerz breit machte, wusste sie, dass der Abschied längst gekommen war.
Abrupt blickte sie auf die Uhr. Mit einem entschuldigenden Lächeln sah sie ihn an.
„Mein nächster Zug…“
Er nickte. Gedankenverloren.
„Klar.“
Sie standen auf. Er bezahlte.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof sprachen sie kein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken und Träumen nach. Sie ließ es zu, dass er einen Arm um sie legte, so wie damals auf der Parkbank.
Sie verabschiedeten sich, während der Zug einfuhr. So wie alte Bekannte sich verabschieden. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und das kleine Stückchen romantische Illusion der letzten zwei Stunden hörte auf zu existieren.
 
B

Burana

Gast
So, und jetzt sitze ich da und hätte gerne noch mehr über 'sie' gelesen. Ist das fies!
Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Sie ist sehr einfühlsam und malt klare Bilder. Allerdings habe ich mich gefragt, wie man jemanden nach 15 Jahren erkennt, der einem den Drücken zudreht und offensichtlich auch älter geworden ist. Es soll mehr Männer geben, die 'das' Aftershave verwenden. Ich glaube, ich hätte ihn vorsichtshalber auch nicht von hinten angesprungen, bevor ich mir nicht ganz sicher gewesen wäre: das isser. Aber vielleicht wolltest Du damit auch zum Ausdruck bringen, dass er seit jener Parkbank nie ganz aus ihrem Leben verschwunden ist? Dass sie ihn einfach überall erkannt hätte, egal wie alt er inzwischen geworden ist? Sag?
Liebe Grüße! Burana
 

Pesse

Mitglied
Hi Burana

Ich hab ja schon nicht mehr daran geglaubt, einen Kommentar zu bekommen - umso mehr freue ich mich jetzt darüber :)

Warum sie ihn erkennt bleibt ein wenig der Phantasie des Lesers überlassen, ich denke auch, man muss nicht immer alles erklären, oder lieg ich da falsch?
Erklärungen gibt es jedenfalls mehr als genug: Weißt du, wie lange sie den Typ schon beobachtet hat, z.B.? :)
Außerdem glaube ich, dass - wie du sagst - die andere person niemals ganz aus dem Kopf verschwunden war. Die beiden waren damals immerhin schon zwischen 18 und 20 - da verändern 15 Jahre nicht ganz so sehr wie z.B. bei 8 und 23 Jahren.

Freut mich jedenfalls, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Gruß Pesse
 
B

Burana

Gast
Hi Pesse!
Man muss nicht alles erklären, stimmt. Ist mir beim Lesen einfach nur so aufgefallen.
Die Geschichte hab ich wirklich sehr gerne gelesen. Gibt's was Neues von Dir? Schau ich dann garantiert auch rein.
Liebe Grüße, Burana
 

Eve

Mitglied
Hallo Pesse,

eine wirklich schöne Geschichte, spannend geschrieben ... ich fühle mich fast ein bisschen allein, jetzt, wo ich nicht weiterlesen kann ...

Viele Grüße,
Eve
 

Pesse

Mitglied
Habe die Geschichte nochmals komplett überarbeitet.

@Eve: Danke fürs Kommentieren :) Ich weiß nicht, ob die Geschichte funktionieren könne, wenn sie nicht genau da aufhören würde, wo sie aufhört...

Gruß Pesse
 
B

Burana

Gast
Ok, Pesse, und wenn Du jetzt noch oben bei 'Thema' reinschreibst, dass Du die Geschichte überarbeitet hast, weiß man schon beim Durchblättern der Foren, wovon Du redest...
Das Ende ist richtig gesetzt. Soll sich jeder selber denken, was er sich dazu denken mag. Das ist ja das Schöne an diesen open-ends!
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende! Burana
 

Eve

Mitglied
Ende

Hallo Pesse,

ja, da gebe ich dir Recht, das Ende muss schon so sein. Ich wollte auch nicht, dass du noch weiter schreibst, sondern wollte nur damit ausdrücken, dass es für mich wichtig ist, dass ich am (physischen) Ende einer Geschichte gern noch ein paar Gedanken fliegen lasse ;-) in die eine oder andere Richtung.

Manchmal sollen Geschichten nur den Rahmen bilden, in dem die Vorstellung dann weiter spinnt ...

Eve.
 
H

HKunert

Gast
Hallo Pesse,
nachdem Du Dich mit meinen Texten so ausführlich befasst hast, wollte ich denn auch mal Deine Geschichte lesen.
Sie ist sehr schön. Und ich hoffe, dass Du bald eine weitere Story in die LL stellst.
Dein Thema ist ja keineswegs originell. Und dann finde ich es besonders bemerkenswert, wenn es einem Autor gelingt, seinen Leser zu bannen. Es muss an Deiner Freude am Detail und Deiner gelungenen Beschreibung des Seelenlebens der beiden Protagonisten liegen, dass der Text einen packt.
Mir hat sich allerdings nicht hundertprozentig erschlossen, warum Du am Schluss von einer romantischen Illusion der letzten zwei Stunden schreibst. Ich hatte schon beim ersten Lesen und sehr früh in der Geschichte das Gefühl, dass hier ein dunkler Schatten über der einstigen Liebe stand. Ich hätte entweder der Illusion noch eine deutlichere Zukunftsperspektive gegeben oder eine längere Passage ohne Negativandeutungen geschrieben. Aber das sind Kleinigkeiten...
Weiter viel Spaß beim Schreiben wünscht,
Heiko
 



 
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