Die Reise mit Nina

Somerset

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Die Reise mit Nina
Wer würde es mir schon glauben, wenn ich sagte, daß diese Reise rein platonisch war?
Na ja, es ist wahrscheinlich auch sekundär, ob man es mir glaubt oder nicht – jedenfalls hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Nicht wegen Nina, sondern wahrscheinlich deshalb, weil sie Fotos machte, während ich schwitzte wie ein Esel.
In der Abfertigungshalle des Flughafens sagte ich zu Nina, ich sei gleich wieder da, und ging hinüber zu dieser Bar und ließ mir ein Glas Wasser geben. Dann setzte ich mich wieder auf meinen Platz und schwitzte weiter.
Nina war glücklich. Sie hatte gerade ihre Beziehung mit einem Schnösel beendet und freute sich nun auf den Urlaub mit mir.
Kurz vor den großen Ferien fragte sie mich, ob ich mit ihr verreisen würde, und ich sagte: \"Warum nicht?\"
Niemals wieder war ich so spontan und unbeschwert. Wir arbeiteten im gleichen Kindergarten – sie machte dort ihr Praktikum und ich das meine. Und so fuhren wir eben.
Ich kann keinem Menschen sagen, wie sehr sie sich auf diesen Urlaub freute. Ich gönnte Nina ihr Glück. Sie hatte es sich verdient.
Endlich wurden die Passagiere aufgerufen.
Ich glaube, wir waren die letzten, die an Bord gingen.
Mein Sicherheitsgurt funktionierte nicht, und ich sagte zu Nina, daß mein Sicherheitsgurt nicht funktioniere. Dann probierte sie es, schaffte es aber auch nicht. Schließlich riefen wir die Stewardeß zu uns und meldeten, daß mein Sicherheitsgurt nicht funktionieren würde. Sie ging hin und her, her und hin. Dann kam eine andere, die sich sehr lange mit dem Gurt beschäftigte – endlich funktionierte er. Nach was weiß ich wievielen Stunden startete die Maschine, und wie immer, wenn ich später in ein Flugzeug stieg, dachte ich:
Wie es wohl sein würde, wenn die Maschine abstürzte?
Sie stürzte nicht ab, sondern legte wohl eine Musterlandung hin...
*
Das Hotel war, trotzdem es billig war, sehr gemütlich.
Wir beendeten unser Frühstück und unternahmen einen Spaziergang. Fünf oder sechs Häuserblocks, und das war schon der ganze Ort.
Alle waren 17 Jahre alt und saßen lustlos herum. Na gut, nicht alle. Es gab ein paar Touristen, ältere Semester, die wild entschlossen waren, einen schönen Urlaub zu verbringen. Sie sahen sich stirnrunzelnd die Auslagen der Geschäfte an, dann gingen sie weiter, stampften die Pflastersteine platt und sandten ihre Signale aus: Ich habe Geld, wir haben Geld, wir haben mehr Geld als ihr, und wir essen was wir wollen...
Da gingen sie mit ihren Hawai-Hemden und vollgefressenen Hängebäuchen und karierten Shorts und leeren Augen und nicht vorhandenen Mündern, deren Lippen so dünn waren wie Striche...
Mittags legten wir uns auf das Bett und versuchten zu schlafen, aber die Hitze hinderte uns daran. Was heißt uns? Mich hinderte sie. Nina schlief nach wenigen Minuten wie ein Stein, auch wenn sie noch Monate danach behauptete, sie hätte kein Auge zumachen können.
Ich hatte damals so eine kleine Reiseschreibmaschine, auf der ich mich jetzt festkrallte. Nicht einmal das Geklapper hörte oder störte sie. Aber sie hatte angeblich kein Auge zumachen können.
Damals wollte ich Schriftsteller werden und dachte zudem noch, ich könnte es schaffen. Aber dann saß ich da und es kam nichts. Es gab keine tieferen Einsichten, nach denen ich mich sehnte, und es gab nicht mal einen Ansatz einer Idee. Ich konnte kein Wort auf das Papier kriegen. Ich ahnte zum erstenmal, daß das mit der Schriftstellerei wohl nicht so einfach werden würde. Das war noch nicht mal so schlimm, denn ich sagte mir damals schon: Na ja, man braucht ja bloß zu sterben.
Die Bücher, die ich zu der Zeit las, inspirierten mich, besser zu schreiben als die Schriftsteller es vermochten. Die Bücher von damals hatten nicht mehr Seele als ein Zinnsoldat.
Einen guten Schriftsteller gab es nur alle 300 Jahre, und man selber war es nicht, und die anderen waren es eindeutig auch nicht.
*
Es mochten gut und gerne 2 Stunden vergangen sein, bis Nina erwachte. Kaum öffnete sie die Augen, behauptete sie schon, sie hätte kein Auge zugetan.
\"Nina, du hast geschlafen wie ein Stein,\" sagte ich.
\"Ich bin vielleicht ein bißchen eingedöst,\" meinte sie darauf, \"aber geschlafen habe ich nicht.\"
Ich beließ es dabei; es war ja schließlich nicht wichtig, ob sie schlief oder nicht. Ich wußte nur eins: Die verdammten Kirchenglocken, die hier alle 15 Minuten donnerten, störten sie nicht die Bohne, während ich schon überlegte, was ich gegen sie unternehmen könnte...
*
Am zweiten oder dritten Tag eröffnete mir Nina ganz nebenbei, daß ihr der Typ in der Eisdiele gefalle. Dies erwähnte sie ganz beiläufig, und zwar alle paar Minuten.
\"Dann geh hinein und kauf dir ein Eis. Ich würde dir auch eines kaufen, aber so lernst du ihn nie kennen,\" sagte ich.
\"Ich kann doch nicht einfach reingehen und mir ein Eis kaufen,\" entgegnete sie entsetzt.
\"Und warum nicht? Wenn dir der Typ nicht gefallen würde, würdest du ja auch hineingehen und dir ein Eis kaufen, oder nicht?\"
\"Doch, dann schon.\"
Das verstand mal einer! Ich jedenfalls nicht.
Stundenlang, tagelang redete sie von dem Eisverkäufer, ohne daß sie ein einziges Mal die Eisdiele betrat. Sonst war Nina nicht gerade eine scheue Person, wenigstens nicht als Kollegin. Sie war lustig und brachte einen oft zum Lachen, was ich gerne mochte an ihr – aber jetzt stellte sie sich an wie der erste Mensch, der aus zwei Teilen bestand: einem mutigen und einem feigen Teil, und beide Teile stellten sich gegenseitig ein Bein.
Ihr erster Gedanke am Morgen galt dem Eisfritz, und dieser Gedanke herrschte den ganzen Tag über sie, bis sie schließlich ins Bett fiel. Ich war gezwungen, mich täglich über Stunden hinweg mit diesem Kerl da unten zu beschäftigen, und Nina stellte mir Fragen, die ich ihr beim besten Willen nicht beantworten konnte. Fragen wie diese:
\"Glaubst du, daß er nett ist?\"
\"Was würde er wohl tun, wenn ich ihn auf ein Eis einladen würde?\"
\"Ob er wohl eine Freundin hat?\"
Irgendwann faßte ich alle Fragen zusammen und erklärte ihr, daß ich nicht wüßte, ob er nett sei oder nicht, ob er intelligent oder ein Trottel war. Es entzog sich auch meiner Kenntnis, ob er eine Frau oder Freundin hatte oder nicht. Und selbstverständlich konnte ich auch nicht wissen, wie er reagieren würde, wenn Nina ihn zu einem Eis einlud.
Ich versuchte Nina begreiflich zu machen, daß unser Urlaub hier nicht ewig dauern würde, und wenn sie beabsichtige, mit ihm auf die eine oder andere Weise ins Gespräch kommen zu wollen, dann ginge dies nur auf eine Art: nämlich es zu versuchen.
Nina jedoch zog es vor, es nicht zu versuchen und mir statt dessen die Ohren voll zu singen von diesem einzigen Mann auf der Welt, der Eisverkäufer war. Dies ging soweit, daß ich mich dermaßen in die Rolle des Eisverkäufers versetzte, bis ich glaubte, ich sei der Eisverkäufer selbst.
Wir beratschlagten uns, erwägten einige Vorgehensweisen, die sie alle ablehnte. Ich stellte mir vor, wie der Kerl wohl bei dieser und jener Situation reagieren würde und so weiter und so fort.
Am fünften oder sechsten Tag lagen wir am Strand, und Nina fing an zu stöhnen:
\"Ist es hier nicht traumhaft?\"
\"Ja.\"
Der Witz, der sonst in ihr wohnte, war dahin. Sie schwelgte dermaßen in ihrem Liebeskummer, daß ich mir gar nicht mehr zu helfen wußte mit ihr.
Schließlich sagte ich zu ihr:
\"Nina, soll ich mal in die Eisdiele gehen und ihn fragen, ob er mit dir ausgehen möchte?\"
\"Bist du wahnsinnig geworden?\" schnellte sie in die Höhe.
\"War ja nur ein Vorschlag.\"
\"Vorschläge hast du! Wie stellst du dir das vor?\"
\"Ganz einfach. Ich gehe rein und frage ihn, ob er mit dir ausgehen möchte. Ich meine, seit Tagen überlegen wir hin und her. Ich habe diesen Kerl schon so gut studiert, daß ich ihn bald schon besser kenne als dich. Inzwischen weiß ich schon genau, wie er sehr wahrscheinlich reagieren würde.\"
\"Ach, du weißt es? Und wie?\"
Ich machte eine Pause und sagte dann:
\"So genau weiß ich es auch wieder nicht.\"
Sie schaute zum Himmel hinauf und meinte dann:
\"Ach laß mal, übermorgen fahren wir ja schon wieder nach Hause. Und was soll ich dann tun?\"
Damit hatte sie recht.
*
Die letzten beiden Tage vergingen. Am letzten Tag hatte ich sogar von dem Eisverkäufer geträumt, träumte alles komplett durch, was sie sagen und was er antworten würde. Ich hielt es für besser, Nina von meinem Traum nichts zu erzählen, denn was der Typ in meinem Traum sagte, ist nicht druckreif.
*
Im Flugzeug wurde Nina traurig. Sie bedankte sich für den Urlaub und wurde immer trauriger, weil er zu Ende war. Sie entschuldigte sich sogar noch, daß sie mir den Urlaub so verdorben hätte wegen dieses Kerls, und ich sagte:
\"Du mußt dich nicht entschuldigen. Ich danke dir sogar dafür.\"
\"Wofür?\"
\"Daß du mir eine Geschichte geschenkt hast. Irgendwann schreibe ich eine Geschichte über einen Eisverkäufer.\"
***
 



 
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