Die Rose "Tausendschön" *

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Rose "Tausendschön" *

„Papa.“
„Was gibt es, Sternchen?“
„Bei mir gibt es nichts, aber bei meiner Freundin Claudi.“
„Und was gibt es bei ihr?“
„Sie ist in letzter Zeit so furchtbar traurig. Die Kinder ärgern sie ständig in der Schule, weil sie doch ein wenig dicker ist.“
„Das ist nicht schön, Sternchen. Aber du hältst doch zu ihr…..Mehr geht nicht, meine Kleine.“
„Och Papa! Mir glaubt sie nicht. Ich sage ihr doch immer, dass die anderen Kinder Idioten sind und keine Ahnung haben. Keine Chance."
„Vielleicht solltest du ihr die Geschichte von der Rose Tausendschön und der Distel Immergrau erzählen.“
„Ich kenne die Geschichte nicht, Papa.“
„Na dann hör zu…..“
Es war einmal am Rande einer Wiese. Dort stand die Rose Tausendschön und prahlte allen Pflanzen und Blumen ihrer Umgebung ihre Schönheit.
„Ich bin die Rose „Tausendschön“, die Königin der Welt. Schwer ist es zu ertragen, mich umgeben zu sehen, von so viel Unrat und Mist. Eine Schande seid ihr für mein rotes Augenlicht. Zum Glück hab ich die Sonne und den Himmel. Nach oben geht mein Blick. Ich mag euch unglückliches Kraut nicht sehen. Eines Tages wird ein hübscher Jüngling kommen und mich pflücken. Seiner Herzallerliebsten wird er mich schenken und durch mich ihr seine Liebe beweisen. Sie wird an mir riechen und wissen, dass es die große Liebe ist. Ich bin das Zeichen der Liebe. Ich bin das Glück, das Leben….“
Neben der wilden Rose „Tausendschön“ fristete die Distel „Immergrau“ ihr graues Dasein.
Tag für Tag musste sie sich das überhebliche Gerede der Rose anhören. Doch mit der Zeit glaubte sie ihr. Wenn sie so an sich herunterschaute, erkannte die Distel „Immergrau“ ihr graues Einerlei. Nichts von der Farbenpracht der Rose, kein Duft ging von ihr aus, der des Menschen Herz hätte betören können. Sie war ein graues Nichts.
Eines Nachts kroch eine Schnecke direkt neben der Distel auf ihrem Weg. Den Schnecken eilte ein großer Ruf in der Tier- und Pflanzenwelt voraus. Sie waren die Weisen der Welt.
Langsam und mit Bedacht folgten sie der Welten Lauf und vergaßen in ihrer Langsamkeit nichts.
„Hör doch, Schnecke. Ich bin es, die hässliche unbedeutende Distel „Immergrau“. Kannst du mir helfen? Ich führe ein tristes Leben neben der Rose „Tausendschön“ und fühle mich jeden Tag geringer. Sie ist so schön, die Rose, ihr Duft verführt die Welt. Und ich? Ich bin ein graues Nichts, unbedeutet, für niemanden ein Gewinn.“
„Hm“, sprach die Schnecke und betrachtete sich Distel und Rose. Wohl eine Stunde ruhte die Schnecke in Gedanken, bevor sie antwortete.
„Höre“, liebe Distel, sprach die Schnecke in ihrer eigentümlich langsamen Sprache. Und die Schnecke sprach, und die Distel hörte und verstand.
Am nächsten Morgen, kaum das sich die Sonne am Horizont zeigte, begann die Rose mit ihrer Litanei.
„Ich bin so einzig einzigartig. Ich lasse euch an meiner Schönheit teilhaben, an meinem Duft, der alle Welt betört.“
Die Distel sah den Sonnenaufgang und lächelte still. Heute war alles anders.
In des Mittagssonnenschein hinein kam ein Liebespärchen den Weg am Wiesenrand entlang gelaufen. Kaum hatte die Rose die Menschenkinder wahrgenommen, begann sie auch schon zu schwadronieren…“
„Er wird mich pflücken. Ja, dass wird er. Wen sonst? Ich bin der Liebe Beweis. Ihr hässliches Gestrüpp könnt hier verdorren, bis ans Ende eurer Zeit.“
Als die Menschenkinder schon ganz nahe waren, sprach die Distel „Immergrau“ zur Rose…
„Liebe Rose „Tausendschön“. Gewiss wird dich der Mensch gleich pflücken. Du wirst zum Geschenk für seine Liebste. Sie wird an dir riechen und von deiner Schönheit plaudern. Deine Wurzeln wirst du verloren haben und in nur kurzer Zeit vergehen. Dann werden dich die Menschenkinder wegwerfen, ohne einen Gedanken an dich zu verschwenden.
Ich werde hier stehen bleiben, liebe Rose. Mein Lebenszweck ist ein anderer. Ich wurde geboren, damit meine starken Wurzeln der Erde Halt geben. Man sagt sogar, dass aus unseren Wurzeln irgendwann die Erde gewachsen ist.“
Die Rose „Tausendschön“ hörte die Worte und begann bitterlich zu weinen.

„Und was soll das bedeuten, Papa? Ich verstehe nichts….“
„Entschuldige Kleines. Ich vergaß zu erwähnen, dass sich die Geschichte von der Rose „Tausendschön“ vor langer Zeit zugetragen hat. Man sagt, dass die Rosen ringsherum die Worte vernahmen und begannen, an ihrem Lebenszweck zu zweifeln. Mit der Zeit wuchsen ihnen Dornen, denn sie begannen zu verstehen, dass Schönheit vergänglich ist und das Leben einen anderen Sinn hat."

„Weißt du Papa. Ich verstehe deine Worte oft nicht richtig, aber fühlen kann ich sie gut. Kann ich zu Claudi gehen? Ich möchte ihr von einer Rose erzählen."
"Von einer Rose? Die Geschichte würde ich auch gerne hören. Na dann ab mit dir......."
 



 
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