Die Seuche

Rainer Heiß

Mitglied
Die Seuche

1. Der Augenblick, in dem sie Menschen waren

Die Irrenanstalten begannen überzuquellen, aber der Strom der dort zu internierenden, um - insgeheim war schon früh bekannt, dass es praktisch unmöglich war - sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern, riss nicht ab; er wurde größer und mächtiger und die Zahl überschritt alle, selbst die verwegensten Schätzungen um ein Vielfaches.
Geschäfte blieben geschlossen, Feldarbeit blieb unerledigt liegen, Kinder verstummten, bevor sie noch gelernt hatten zu laufen, liebevolle, fürsorgliche Mütter verfielen der Trunksucht, die verdorbensten Elemente übernahmen die Regierungsgeschäfte, da die Rechtschaffenen als erste von der Epidemie weggerafft wurden, die Vornehmen gingen nachts auf die Äcker, Kartoffeln zu stehlen, Pfaffen predigten Krieg, Gott verließ die Menschheit...und die Seuche kam näher.
Das Flagellantentum war in Mode wie in den 60er, 70er Jahren das Kiffen. Lange, teilnahmslose Prozessionen zogen durch die Straßen, um sich mit Geißeln die verkrustete Haut am Rücken erneut blutig zu schlagen. Pflichterfüllung über die Selbstaufgabe hinaus. Geben, was man konnte. Doch die Seuche, der sie den grasierenden Irrsinn, wie sie richtig vermuteten, verdankten, wurde dadurch nicht eingedämmt. Vielmehr wütete sie gnaden- und schrankenlos, egal, was die Menschen unternahmen.
Langsam und unaufhaltsam wie ein Lavastrom war sie auf das Land zugekrochen, wie ein Reptil, leckend, schmeckend, nach Beute züngelnd. Beinahe ein Jahr hatte es gedauert, bis sie die Stadtgrenzen erreicht hatte, nachdem die Nachricht dort eingetroffen war und mit einem Schlag die Menschen gleichgemacht hatte; dann war sie, obwohl noch in eiliger, schreiender Ekstase wahllos beschuldigte Bürger nach namenloser Folter verbrannt worden waren, in die Stadt eingezogen, um ihr uneingeschränktes Regiment anzutreten.
Inzwischen herrschte sie bereits über vier Monate in dem einst so sicheren Hort, den die Mauern bildeten. Nun waren sie zur Todesfalle geworden. Für alle, die von ihr ergriffen wurden, bedeutete sie den absoluten Irrsinn, den Wahn. Was vorher die Sinne meinten, als Welt wahrzunehmen, existierte nicht mehr. Man kann nicht beschreiben, was an die Stelle der alten Ordnung trat. Chaos, schwarzes, nie gesehenes Chaos.
Verschiedenste Abhilfepläne der besitzenden Schichten wurden fiebrig geschmiedet und, kaum ausgesprochen, manifestierten sie sich in verzweifelten, aber nutzlosen Taten.
Die Infizierten, die sich binnen weniger Tage wie im Veitstanz gebärdeten, die nackt und schlammverschmiert durch die engen Häuserschluchten der Innenstadt torkelten, wie im Rausch. Kehlige Laute, jenseits aller Sprache: Nichts mitzuteilen, niemand ansprechbar. Die Qualen, die sich in ihren Gehirnen und Körpern abspielten, die ihre Eingeweide gleich krampfigen Knoten fühlen machten, besaßen weder Worte noch Chance auf verständiges Gehör. Die Anstalten, in die sie gepfercht wurden, von Wärtern mit Atemmasken, wurden nicht mehr gereinigt, seit sich ein Großteil des freiwilligen Personals selbst - dort oder anderswo konnte nicht festgestellt werden - angesteckt hatte, und so vegetierten sie frei und stinkend in ihren eigenen Exkrementen. Von außen spritzten Beherzte bisweilen mit Schläuchen kaltes Wasser in die Anstalten, um von dort sich ausbreitende Folgeseuchen, ausgelöst durch die hygienischen Zustände, die die vom Unsagbaren Verdrehten, im Irrsinn dahintreibenden Sterbenden sich schaffen können oder wollen, einzudämmen, vergebens.
Animalisches Stöhnen und Grunzen kam als einzige Antwort. Auch diese hygienischen Massnahmen zeitigten keinen Erfolg. Der Wahn griff weiter um sich, um die Infizierten binnen Stunden zu entmenschen, sie dann einige Tage, manche gar bis zu zwei Wochen, siechen zu lassen, dann erst sterben zu dürfen. Zuletzt ohne entfernte Ähnlichkeit mit einem Menschen, ja überhaupt mit einer von Gott geschaffenen Kreatur. Eitrig schwarz verquollene Haut, aufgedunsen, stellenweise aufgeplatzt, um dicke, stinkende Flüssigkeit zu ergiessen. Die Haare im Schmerz ausnahmslos ausgerissen, in Büscheln. Gesichter, oder was einst Gesichter waren, verzerrte Grimassen, stumme Zeugen der namenlosen Qualen. Von Kopf bis Fuß beschmiert mit den eigenen, blutig-eitrigen Körperausscheidungen, die nun nicht mehr nur durch die dafür vorgesehenen Öffnungen ihren Weg ins Freie sich bahnten, sondern gleichsam durch die ledrige Haut aus den zitternden Leibern aussickerten. Vom Fieberwahn weit aufgerissene, panische, matt-glänzende, gelbliche Augen und das nie endenwollende ursprüngliche, urwüchsige, in Vergessenheit geratene Schreien, das die Menschheit nach so vielen Jahrtausenden wieder eingeholt hatte.
Im Westen der Stadt, durch die Bahnanlagen von den übrigen Stadtvierteln abgeschnitten, lebte zu dieser unglückseligen Zeit ein fast noch junger, einst hoffnungsvoller Mensch. Inzwischen hatte er, unabhängig von dem Entsetzen, das unter seinen Mitmenschen wütete, das Leben aufgegeben. Teilnahmslos schlenderte er und kraftlos durch das schäbige Wohnviertel, in dem er ein halbwegs akzeptables Quartier gefunden hatte. Die Schatten der Vergangenheit, das wusste er, fielen weit voraus auf seine Zukunft. Zu oft war alles, was er versucht hatte, fehlgeschlagen.
Bespuckt hatten sie ihn in seiner Heimat und getreten, weil er anders war als sie. Feinfühliger, gerechter. So hatten sie ihn vertrieben aus seiner Heimatstadt, umhergezogen als Heimatloser war er seitdem. Die Stelle, die er dort angenommen hatte, war ebenfalls nur auf ein halbes Jahr befristet, mit Option auf ein weiteres halbes Jahr, dann jedoch ohne Verlängerungsmöglichkeit. Doch dann kam die Seuche. Kurz zuvor hatte er noch eine junge Kollegin, die der Zufall wie ihn in dieses verlassene, zukunftslose Stück Land getrieben hatte, kennengelernt.
Ganz spontan hatte er sich in sie verliebt; von ihr schien menschliche Wärme auszugehen, Zärtlichkeit, Leben. Vorsichtig näherten sie sich einander, führten schüchterne, weltver-gessene Gespräche, beschenkten sich gar.
Dann kam der Winter und mit ihm die alles Gewesene beendende Seuche. Ihre Wohnungen wurden von einer Schneise des Wahnsinns, die das Hereingebrochene durch die Stadt gemäht hatte, voneinander getrennt. Kurze Zeit noch konnten sie telefonisch ihren jugendlich-unschuldigen Kontakt aufrecht erhalten, der sich gerade erst entwickelte, dann wurde das zarte Band jäh zerschnitten.
Da begann sich in ihm, von ihr wissen wir das nicht, sein alter Elan seiner kämpferischen Jugend, aus der Zeit, als er sich noch meinte wehren zu können, zu regen. Aus Tatendrang, aus der Gewissheit, etwas tun zu können und zu müssen, wurde Wut. Hass, auf alles und jeden, der ihm seinen Weg zu ihr verstellen könnte. Die Viertel, in denen die Seuche aufgetreten war, wurden, nachdem die Betroffenen ausquartiert worden waren, unter Quarantäne gestellt, so als ob irgendeine Massnahme helfen hätte können. Wie immer meinten die Menschen, mit Maßnahmen, mit offensichtlich schwachsinnigem Aktionismus, mit Verwaltungsmaßnahmen, sich zu Herren des Schicksals aufzuschwingen. Verzweifelt stand er nachts an den errichteten Barrieren und schrie seinen Hass und seine Ohnmacht in die Dunkelheit hinaus, bis ihn die selbsternannte Seuchenmiliz mit Waffengewalt zurücktrieb. Erschöpft, aber innerlich kochend, kehrte er in seine vier Wände zurück, wo ersterbende Nachbarn, die man am gestrigen Tag, als routinemäßig die Infizierten zusammengetrieben worden waren, noch für gesund gehalten hatte, an den Wänden schabten, die an seine Wohnung grenzten. Stöhnen, teilweise noch erstickende, bald schwächer werdende Schreie, ein leises Schaben: das waren also die Geräusche, die Sterbende machten. Teilnahmslos registrierte er sie kaum - seine Gedanken waren bei ihr, nur bei ihr. Selbstignoranz wie die Flagellanten, nur mit weit höherer Inspiration.
So beschloss er eines Nachts, sich um die Posten ,die durch die entmenschten Straßen patroullierten, herumzuschleichen, sie weiträumig zu umgehen, falls nötig aus der Stadt hinaus, um sie herum, um auf ihrer Seite wieder einzudringen. Es gelang nicht beim ersten Mal. Heiser hatten ihn die nervösen Beschützer gestellt. Ohne zu zögern hatte er ihren Anweisungen, obwohl er sie, und wie er vermutete, die Wache selbst, als völlig unwirksam erkannte, Folge geleistet. Zum Zerreißen angespannte Nerven, bewaffnet, natürlich, das bedeutete unbedingten Gehorsam, sofortige Selbstentäußerung, um nicht einem misstrauischem Stahlmantelgeschoss zum Opfer zu fallen. Aber er versuchte es erneut, an anderen Stellen, um nicht den Unmut des Wiederholungstäters auf sich zu ziehen.
Schließlich gelang es: er verließ sein Wohnviertel. Es war ein heruntergekommenes Fleckchen, das vor wenigen Jahrzehnten noch bewaldet, jetzt vor allem Migranten aus Osteuropa als Heimat, nein, als Wohnstätte diente; als Stützpunkt für ihre unterbezahlte Lohnsklaverei.
Er ignorierte die Kälte, die Schreie, die wie zerfetzte Laken im Wind durch die Nacht wehten. Die Stadt war wie ausgestorben; nicht nur war tatsächlich bereits ein Großteil der ehemals ansehnlichen Einwohnerzahl dahingerafft oder in die Anstalten an den Rändern der Stadt verschafft worden. Auch die Restbevölkerung wagte sich nicht ins Freie, saß angespannt in ihren ungeheizten, dunklen Zellen und wartete. Streunende Hunde stritten sich um stinkende menschliche Kadaver, die tags nicht beseitigt worden waren. Misstrauisch, aggressiv knurrend zerrten Köter Tote in dunkle Ecken, rissen Fleischfetzen aus den verwesenden Leichen.
Seine Sinne waren zum Zerreissen gespannt, die Augen hatten sich an die Nacht gewöhnt, nahmen jede noch so kleine Lichtquelle als Anhaltspunkt, erschlossen aus Schatten die Umgebung, Stück für Stück. Die intensivste Wahrnehmung war der bestialische Gestank. Zu wenige Überlebende waren den zu großen Leichenbergen schließlich nicht mehr gewachsen. Oder war es die Angst vor der Ansteckung? Patroullieren konnten sie noch. Diese Frage zu beantworten bleibt späteren, glücklicheren Generationen überlassen. Der Gestank von verfaulenden Menschen war Fakt. Wie eine Glocke hatte er sich über die gestorbene Stadt gebreitet. Langsam, da die Toten nachts gefroren - es war Winter, ein eisiger Winter - und nur tagsüber auftauten, auftauten um zu verwesen und zu stinken. Durch diese unwirkliche Kulisse schlich der vereinsamte, plötzlich inmitten des Todes zu ungeahntem Leben erwachte, um seine Geliebte, wusste sie, dass er sie liebte, oder kannte er die Menschen wirklich so schlecht?, egal, zu ihr, das war sein ganzer Wille. Was dort kommen würde, war unklar, Hauptsache zu ihr, nur zu ihr! Zu viele Niederlagen hatte er bereits vor dem Hereinbrechen des namenlosen Kulturzerstörers erlitten. Zu viele Menschen, die er durch seinen Beruf oberflächlich kennengelernt hatte, waren, nur Tage zuvor noch zivilisierte Geistesmenschen, als zappelnde Narren zu seinen Füßen krepiert, Schleim und Eiter absondernd, als dass er jetzt Gefühle, Gedanken gar daran verschwenden konnte. Besessen nur von der möglichen Liebe schlich er geduckt, weite Kreise ziehend, um nur nicht wieder entdeckt zu werden, am Boden geduckt, durch die entvölkerten Wohngegenden am Rande der eisigen, abstoßenden Stadt, nordwärts. Wohngegenden - nichts passte schlechter auf das, was er sah. Stinkende Artefakte, das war geblieben von allen Errungenschaften, die Blut, Schweiß und Tränen über viele Menschenalter geschaffen hatten. Er kümmerte sich nicht darum, sondern steuerte zielstrebig ihrem Viertel zu. Ihr Viertel - lebte sie überhaupt noch, und wenn, war sie noch dort, wo er sie vermutete?
Hoffnung kann selbst den Tod besiegen, und der war allgegenwärtig. Nichts hatte er dabei, außer einer Trinkflasche mit Wasser. Wasser, das er sich bei früheren Zügen flussaufwärts, vor den Grenzen der Stadt geholt hatte, sodass die Gefahr der Infektion geringer war. Er nahm einen tiefen Schluck, in der Sicherheit eines Hauseingangs. Weiter, der Morgen dämmerte, als er in die Nähe ihrer einstigen Wohnung kam. Die Wachen hatten sich scheinbar alle vor der schneidenden Kälte in Sicherheit gebracht. Hier und da brannten Feuer aus nicht mehr benötigten Möbelstücken, an denen sich vereinzelte Menschen aufwärmten, wie um sich aus der Wärme neuen Mut zu machen, oder durch den Blick in die züngelnen Flammen der Welt zu entfliehen, nur einen Moment lang.
Er kam unentdeckt an ihnen, die von der entkräftenden Kälte, die die Nacht über die faulende, sterbende Stadt gebreitet hatte, betäubte Sinne hatten, vorbei. Er gelangte an ihre Eingangstür, als er bemerkt wurde. Schnell trat er ein, ohne von dem übermüdeten Wachtposten zur Rede gestellt zu werden. Geschafft, geschafft, doppelt geschafft: bei ihr, nicht entdeckt und bei ihr, endlich bei ihr!
Langsam öffnete er ihre Wohnungstüre, die nur angelehnt war, misstrauisch. Ihre Zimmer waren beinahe leer, keine Möbel mehr, alle im zentral gelegenen Flur verheizt, Wärme war so wichtig, jetzt im Winter. Im hintersten Zimmer fand er sie. Ihre Haut war schwarz und aufgequollen, unförmig bereits ihre Gestalt. Gekrümmt, von den Schmerzen der inneren Auflösung verbogen, kauerte sie in einer Ecke, bemerkte ihn zunächst nicht. Erst nach einigen Momenten, in denen er sie wortlos betrachtet hatte, wurde sie seiner gewahr. Sie drehte ihren einst wunderschönen Kopf zu ihm, sodass er ihr völlig entstelltes Gesicht sehen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sie mit aller Anstrengung noch einmal Mensch, sah ihn mit großen Augen an, Augen, die all ihre Schmerzen widerspiegelten, ihre Sehnsucht, ihr Bedauern, ja, so etwas wie Schuld und Bedauern schien er in ihren großen, wunderschönen Augen auszumachen.
Dann drehte er sich um und ging hinaus. Die Sonne war bereits aufgegangen und schickte ihre kalten blauen Strahlen auf die Überlebenden nieder. Er aber ging wortlos, ohne sich noch einmal nach ihr und ihrem Haus umzudrehen, davon, vorbei an den Wachen, die ihn kraftlos ansprachen, durch sie hindurch und aus der Stadt, über die schneebedeckten Felder, die ein eisiger Nordwind durchschnitt, wo er am Horizont verschwand, ohne sich umzudrehen.

2. Endlich Lebenszeichen

Lange, verzehrend lange schleppte er sich teilnahmslos über flache Ebenen, über denen schneidend der Wind herrschte. Waren es sechs, waren es zehn Tage gewesen? Er konnte es nicht sagen, da ihn niemand je fragen würde und es ihm selbst völlig gleichgültig war. In verlassenen, fremd anmutenden Dörfern, die die Seuche zum Teil vollständig entvölkert hatte, hatte er Unterschlupf gefunden, wenn er trotz aller Abwesenheit registrierte, dass die Beine nicht mehr vorwärts konnten, sondern entkräftet umknickten. Wie fluchtartig verlassene Gehöfte, nicht verlassen, nur leergestorben, der Gestank verriet die Leichen, die teils in Hinterzimmern kauerten und vergeblich ihrer Entsorgung harrten, teils verdreht an die dreckigen Dorfstrassen gefroren waren, nackt und schwarz.
Auch das Vieh war bereits der Verwesung anheim gefallen, unausweichlich und sicher. In einem Gehöft war noch ein kleines Mädchen herumgeirrt, rotzverschmierte Mundwinkel, krustig, große, das Unsagbare nie begreifende Augen. Teilnahmslos, stumm, wie er. Kurz schauten sie sich an, dann ließ er sie stehen und ging in ein ehemaliges Wohnhaus. Er wusste, wo er suchen musste, die tüchtige Landbevölkerung hatte Obstvorräte für den Winter, der jetzt und scheinbar schon immer kalt und ehrlich über dem Land lag, angelegt. Rechtschaffen bis in den Tod, wie auch schon Generationen vorher. Der Unterschied war lediglich im Bewusstseinsgrad der eigenen Sterblichkeit, plötzlich schrecklich und unmenschlich. Er biss abwesend in einige Äpfel, das genügte ihm.
An einer einsamen Eiche waren Menschen aufgehängt worden, "schuldig!" hatten die Weiber geschrien, um die Seuche abzuhalten, als Zeichen der stellvertretenden Buße, vergebliches Zeugnis menschlicher Hilflosigkeit. Sie wehten traurig im Wind, wirkten fast noch lebendig, wie sie da so baumelten und ihre Augen weit aufrissen, um ihn anzugaffen. Er beachtete sie nicht, ging an ihnen vorüber, wie er an allem vorüberging, nein, durch alles hindurchging, ohne es zu berühren. Ackergerät war auf den Feldern liegengeblieben, inzwischen vom Wind mit einer feinen Schneehülle bedeckt, ungenutzt, untauglich jetzt, wie aus einer anderen Welt.
Müde schritt er voran, ziellos, nur selten hob er den leeren Blick, lies ihn über die weiten Ebenen schweifen, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, doch es gab nichts Festes, das dem Blick Halt geben hätte können. Verlassen war die Welt, weggespült alles Treiben, als sinnlos enttarnt angesichts des Namenlosen. Endlich hatte sich das Schicksal erfüllt, unausweichlich, da stets nur der Alltag entscheidend, nie die Zukunft anvisiert worden war, und Alltag gab es nun keinen mehr, und mit ihm war auch die Zukunft vergangen.
Irgendwann, nur ein schmaler Streifen seiner grauen Haut war, im Gesicht, sichtbar, so wanderte er durch das entmenschte Land, versuchte er, sich auf den Ausbruch der Seuche und darüber hinaus gar an ihre Ursache zu erinnern. Verschiedene Theorien waren, als das unabänderliche Sterben begann, aufgestellt worden, teils völlig abwegig, teils einleuchtend, was jedoch nichts, überhaupt nichts über ihre Richtigkeit aussagte. Hitzige Debatten hatten sie geführt, die Natur-wissenschaftler und Mediziner, stritten sich mit roten Köpfen über mögliche Ursachen, vergaßen dabei die Bekämpfung des Todes, den hyppokratischen Eid. Beschimpften sich, fielen übereinander her wie Hyänen und bestärkten so die Bevölkerung in ihrer Ahnung, Eigeninitiative ergreifen zu müssen. Erst als große Teile Südeuropas Opfer der Seuche geworden waren, erst als der Tod vor der Haustür stand, war ihnen die Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst geworden, nicht völlig, aber sie spürten das Kommende. Schon vorher waren alle Zuständigkeiten umgeschmissen worden. Wanderprediger waren über das Volk gekommen, mit feurigen, wahnsinnigen Blicken und sicheren Rezepten gegen den Tod. Um so gewaltsamer die Maßnahmen waren, die sie forderten, um so sicherer schien die Wirkung, ein Selbstläufer im Schrecklichen, eine fatale Kettenreaktion. So wütete, bevor die Seuche noch angekommen war, der Mensch unter seinesgleichen, zu richten die Schuldigen, nein, irgend-jemanden, möglichst verdächtige, aber wehrlose Bevölkerungs-gruppen, mit der Hinrichtung Einzelner war offensichtlich nichts mehr zu erreichen. So offenbarte sich das Wesen des Menschen in der Hilflosigkeit, das wahre Gesicht, das ihm geholfen hatte, vom gejagten zum beherrschenden Tier aufzusteigen. Grausam war das Regiment, das der wiedererwachte Volksaberglaube, die Erkenntnis der Notwendigkeit zu handeln, ohne jedoch zu wissen, was zu tun war, führte, ursprünglich und natürlich.
Doch die Seuche kam näher, schlängelte sich durch die Landstriche, nahm Städte in ihren Würgegriff, bis der letzte Atem ausgehaucht war, es gab kein Entkommen. Selbst die abwegigsten, rein aktionistischen Maßnahmen verpufften, wirkungslos, selbstverständlich.
Aufgepeitscht sterbend aktivierte die Menschheit ihre ureigensten Kräfte, zappelte und wendete sich in alle erdenklichen Richtungen, zuckend, um dann verdreht liegen zu bleiben, regungslos, matter Blick: tot.
Es musste irgendein bereits von Anbeginn in der Natur gegen Eventualitäten der Evolution angelegter Selbstschutz-mechanismus gewesen sein, den der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings ausgelöst hatte, und der nun, einmal entfesselt, das Gleichgewicht wieder herstellte. Grausam scheinbar, doch mit der Logik des Lebens, faszinierend gleichzeitig. Kalt, emotionslos das Recht einfordernd, von Tür zu Tür ging er, die alte Schuld einzutreiben. Und sie wurde bis zum letzten Pfennig beglichen.
Besser war es, nicht zu denken, wie schon früher, in den Zeiten, da alles noch normal und schrecklich war, nicht wie jetzt natürlich und unausweichlich. Damals schien es, als gäbe es Möglichkeiten des Handelns, Chance auf selbstgewollte Veränderung, trügerisch. Selbstbestimmung, ja ja, zu ändern den Lauf der Dinge: jetzt wurden die Tatsachen wieder zurechtgerückt, nein, nicht zurechtgerückt, nur offen-sichtlich, endlich. Unübersehbar war die Schicksalhaftigkeit, in der die Menschheit dahintrieb, wie schon immer, es aber wie auch schon seit Anbeginn nicht wahrhaben wollte, und sich weiter auf blinden, nur aggressiveren Aktionismus verlegte. Taten verändern die Welt! Männer mit großen Visionen machen Geschichte! Kennenlernen wollten sie Ehre Sieg Untergang, selbstgemacht, versteht sich. Der Griff nach den Sternen war misslungen, gründlich, unmissverständlich, doch die Versuche, handelnd einzugreifen, rissen bis zuletzt nicht ab. Flagellanten zogen durch das hysterisch aufgestachelte Land, viele schlossen sich ihnen an, zu bestrafen den eigenen Leib, biblisch.
Doch die Seuche kam, trat ihr Regiment an, uneingeschränkt, unangefochten, ausschließlich.
Endlich kam er an den Rand einer Stadt, die ebenfalls, nicht äußerlich, die von menschlicher Hand geschaffene Struktur war unverändert, nur innerlich, das Leben war keines mehr, von der Seuche heimgesucht worden war. Dünne Rauchsäulen zeugten von vereinzelter Restbevölkerung. Sollte er sie, die zum Zerreißen Angespannten, zu Allem Bereiten, nachdem sie den Tod, der sonst so brav Abstand hielt, berührt, auf den Lippen geschmeckt hatten, aufsuchen? Leise, wie von fern, spürte er seinen Körper, ausgezehrt, hungrig, nach Nahrung verlangen. Würden fremde Menschen ihm helfen? Nein, nicht früher bereits, jetzt noch weniger. Trotzdem ging er in ihre Richtung weiter, was sollte ihn schrecken? Welcher Abgrund sollte ihm neu, unheimlich sein und so Angst oder sonstige Emotionen abverlangen, unbekannte? Und so ging er, langsam, aber doch plötzlich zielstrebig sich an einer Rauchsäule orientierend, in Richtung auf die Fremden zu. Menschen immerhin, dachte er.
Die Leichen konnten, wie in seiner zwischenzeitlichen Übergangsheimat, auch hier zuletzt nicht mehr beseitigt, entsorgt werden, und so hatte man sie in die Vororte gebracht, notdürftig in Gärten verscharrt. Vom Wind freigeblasen oder von streunenden Hunden wieder hervorgezerrt, ans kalte, blaue Tageslicht, das immer wieder den Dunst durchbrach, zeugten sie vom wütenden Stampfen, mit dem auch hier die Seuche alles zermalmt hatte, wie überall. Gestank, der die Sterbenden bereits vor dem endgültigen Eintreten des Todes, wer hätte bestimmen wollen, ab wann dann tatsächlich der Zeitpunkt des Todes eingetreten war, reine Definitionsfrage, bedeutungslos, doch früher wichtig einmal, erfasste, lag über den Siedlungen. Die Verwesenden waren gezeichnet, entstellt, unmenschlich, ohne Frage. Dunkel aufgequollene Haut, feucht und zäh. Flüssigkeiten sickerten auch den Toten noch aus den Poren, Gemisch aus allem Nassen, das einmal Leben bedeutet hatte in ihren jetzt steifen, am Asphalt und in gepfegten Vorgärten festgefrorenen Körpern.
Verloschene Feuer deuteten auf Ausharrende hin, die nun nicht mehr, oder anders irgendwie, ausharrten. Seltsam still, immer noch unwirklich mutet so eine Stadt an, in der niemand lebt. Gleich kommen schreiend Hunderte von Kindern um die Ecke, aus der Schule vermutlich, toben, doch nein, nicht mehr hier und nicht mehr irgendwo, nicht in dieser Gegenwart, die schnell alles Träumen einholt.
Aus schmalen Augen betrachtete er seine Umgebung, das was um ihn herum nicht mehr geschah, aber als Tatsache sich noch im Toten spiegelte, aufgezeichnet dastand, man musste nur hinsehen und lesen können. Es war nicht schwer, zu lesen, was hier, besser in welcher speziellen Art und Weise es hier über die Menschen gekommen war. Sprache kann es nicht sagen, Augen aber können es sehen, Gehirne nicht verstehen, nur wahrnehmen, registrieren und erinnern, entfernt, weil außerhalb allem Vorstellbaren.
Vorsichtig stieg er über errichtete Barrieren, auch hier waren Stadtviertel abgeriegelt, die Bewohner der Ansteckung und Vernichtung ausgeliefert worden, wie daheim, dachte er.
Langsam, fast tastend, bewegte er sich auf die Zeichen des Lebens zu, als unvermutet hinter einer Häuserecke ein Schatten auftaucht, nein, ein Überlebender, keuchend, und ihm mit einer Holzlatte auf die Schläfe schlägt. Er hatte noch versucht, den Arm hoch zu reißen, doch zu heftig, zu schnell und plötzlich kommt die Attacke. Schmerzen bleiben in diesen Momenten aus, Abwehr ist der einzige Gedanke, nein Affekt, denn der Angriff geht weiter, wortlos, aber schwer schnaufend. Er liegt, vom ersten Schlag benommen, am Boden, als er aufschaut, sieht er nur die Latte, die erneut auf ihn niedergeht. Ein-, zweimal noch sieht er sie, will sie aufhalten, dann nicht mehr.

3. Frühling

Während all dies geschah, ging die Seuche weiter von Land zu Land, um uralte Schuld einzufordern. Nur konnte man sie nicht mit Geld begleichen. Letztlich war Leben das einzige, was die Menschen hatten, und damit mussten sie jetzt bezahlen, teuer. Seltsam wurde das Treiben der Menschen, jedoch nur selten nahmen sie Notiz davon. Wenige versuchten, der allgemeinen Hysterie Einhalt zu gebieten, naturgemäß vergeblich. Denn wo Natur waltet, kommt auch die Natur des Menschen deutlich zum Vorschein, und davor bewahre uns Gott!
Die scheinbar durch Zufall sich aufstellende Miliz, eigentlich war von Beginn an klar, wer in der schwerbewaffneten, führungslosen Seuchenmiliz "Dienst" tun würde, trat die Verwaltung des Chaos an, barbarisch. Der sich bald in der Restbevölkerung ausbreitende Hang zur Anarchie wurde mit Stahlmantelanarchie gebrochen. Regiment des Terrors, Menschen über Menschen, seit Urzeiten immer gleich, immer in anderer Form, mit dem selben Resultat: Das Recht des momentan Stärkeren, der Augenblick errang die Herrschaft vor dem Weitblick, in die Zukunft. Und der Augenblick war kurzlebig und sprunghaft, so auch sein Regiment.
Willkürlich wurden Stadtviertel abgeriegelt, Wohnblöcke abgefackelt, Familien samt Grundlagen ausradiert.
Und die Seuche mähte durch das Leben wie die Sense durch das Feld, fette Ernte, ein üppiges Feld, wohlgenährt, gemästet. In den Städten eroberte der Tod Strassenzug um Strassenzug seinen alten Platz zurück, verdrängte das Leben. Verdrängte es nicht, denn dann hätte es woanders weiter existiert, was es jedoch nicht tat, nicht verjagt, ausgetilgt wurde es.
"Plünderer" schrien die Ordnungsmasochisten, die meinten, weiterhin nach Buchstaben, gedruckt auf Papier, das Leben gliedern zu können, in Gut und Böse. Einteilung, Verwaltung, Scheinherrschaft, wie das goldene Kalb leuchtete ihnen diese Erinnerung alles überstrahlend in ihren überanstrengten Gehirnen. "Richtet sie", fielen andere ein, die meinten, auf der Seite eines Gesetzes, Schall und Rauch, zu sein. So blieben ausgestorbene Häuserzeilen unbewohnt, während einen Block weiter Menschen inmitten der Seuche erfroren, menschgemachtes Recht verkörpernd, zu Skulpturen erstarrt.
Die Lebensmittelverteilung brach zusammen, nach kurzer Zeit schon. Die Menschen waren mit dem Sterben beschäftigt genug. Und wie sie starben. Panik schaute aus ihren Augen und verdeutlichte der ganzen Welt, dass dies einmal Menschen waren, die da so faulig auf den Straßen lagen. Panik, darüber, was mit ihnen geschah, Beweis, dass auch sie einst andere Gestalt hatten als jetzt, offene, schwärende Wunden, aus denen blutiger Eiter sich ergoss, stinkend. Die Haut der Infizierten verfärbte sich rasch und unaufhaltsam, unübersehbar. Flecken zunächst, dann auf den ganzen Körper ausgreifende, melanomartige, verdickte Kruste. Porös, um die gärenden, vom Organverfall zeugenden Flüssigkeiten austreten zu lassen, nässend. Dazu kam das Fieber und der Wahn. Das war die Seuche als solche.
Die Reaktionen der "Reinen", wie sie sich bald selbst nannten, das waren diejenigen, die noch verschont geblieben waren, für wie lange? waren unvorhersehbar und willkürlich, aber, wenn auch unkoordiniert, so doch endgültig, weil verzweifelt.
Beim Einzug des Sterbens, während der ersten Wochen, kamen vermutlich, wer kann das wissen? mehr Menschen durch Menschenhand um, als durch den Auslöser, die Naturgewalt. Dem Namenlosen in die Augen zu schauen, vom Ende aus dem Schlaf gerüttelt, dabei tatenlos zu bleiben, unmöglich. Gewohnt, die Welt handelnd zu verändern, wozu? niemand wusste das, ergaben sie sich der Aktion, hilflos, ihren Instinkten gehorchend. Und diese Instinkte sind grausam, messerscharf und glasklar, wenn es darauf ankommt. Du oder ich, heißt es, wenn es darauf ankommt, und es kam darauf an wie nie zuvor. Nur die Seuche blieb davon unbeeindruckt und holte sich ihren Tribut, gründlich.
Hinrichtungen wie zu Zeiten der Heiligen Inquisition prägten das Stadtbild, Galgen, Scheiterhaufen, Podien für Scharfrichter. Nicht überall wurden Verbrecher, welch ein kaltes Wort für Menschen, die überleben wollen, aber letztlich stimmte es von Beginn an, erschossen. Die meisten, die erst noch, statt sofort standrechtlich hingerichtet zu werden, die Miliz war gut bewaffnet, in diesem Fall jedoch trotzdem schlecht gerüstet, festgenommen wurden, endeten am Scheiterhaufen. Symbol dafür, dass sie nicht gestanden hatten. Gestanden, in welchem persönlichen Kausalzusammenhang sie mit dem Massensterben standen. Biblisch-christliches Fanal für die Gerechtigkeit des Menschengeschlechts. Die Kirchenfürsten taten es ihren spätmittelalterlichen Amtsvorgängern des 14. Jahrhunderts gleich und verbarrikadierten sich in Türmen, in abgeriegelten Penthäusern diesmal, regierten von dort aus wirkungslos an der Hierarchie und den Tatsachen vorbei, abgeschottet und sicher? Ausreiseverbote bestanden längst weltweit, und nur sehr viel Geld an schwacher Stelle konnte sie durchlässig machen. Denn wem nutzte jetzt noch der Menschenfetisch, das einzige bisherige Streben war enttarnt als masochistischer Zeitvertreib, als Spiel, das jedoch Realität war. Außerdem breitete sich die Seuche, hatte sie erst einmal die sogenannte zivilisierte Welt in ihrem Griff, so schnell aus, die Vorzüge der Globalisierung, des transatlantischen und sonstigen Flugpendelverkehrs, dem Busbetrieb von Ort zu Ort nicht allzu lang vergangener Jahrzehnte ähnlich, gebar ihre Früchte, weltweit. Verwaltungsnetze als Überträger. Kürzeste Inkubationszeit wurde nutzbar durch Überschallflüge. Gesunde Menschen stiegen in die Maschinen ein, kränkelnde stiegen in anderen Teilen der Welt wieder aus, Menschen mit Schweiß auf der Stirn stiegen vor Flughäfen in Taxis, millionenfacher Tod stieg wenig entfernt, siegessicher und erhaben lächelnd aus. Dieser beliebige Ortswechsel war lange genug möglich, um den Erreger penibel und gründlich auf allen Kontinenten zu beheimaten. Woher er letztlich kam, konnte niemand mehr sagen. Hitzige Schuldzuweisungen, handfeste Auseinandersetzungen zwischen den Führern der zivilisierten Welt, bald abgelöst von der Schematisierung des Überlebemskampfes. Regeln mussten aufgestellt werden. Auf allen Ebenen, jeder noch so kleine, unbedeutende Ort, versuchte, sich zu schützen, indem er Maßnahmen beschloss, verrückt. Die einstigen Magistrate wurden durch lautere, aktivere ersetzt, verständlich, in Notzeiten braucht es die starke Hand. Was diese starke Hand tut, ist erst einmal Nebensache, Hauptsache, sie handelt, entschlossen. Es war egal, ob die Dienstwege noch eingehalten wurden, ob die Befehle noch die Ausführer erreichten, denn so und so endete alles unweigerlich im Chaos.
Erst als die Seuchenstatistik weltweit nach oben schnellte, das heißt, wenn noch jemand eine Statistik aufgestellt hätte, bereit dazu waren viele, nur fehlten ihnen, ach, leider die nötigen Zahlen, kehrte wieder Ruhe ein. Wie eine Verschnaufpause wirkte, was die Seuche der menschlichen Unrast gönnte, wie Schlaf. Patroullierende Milizen wurden zum Alltagsbild, bis auch sie seltener wurden, schließlich fast gänzlich ausblieben, aber wer hätte das noch sagen können?
Die Restbevölkerung war so klein, dass sie nicht mehr effektiv hätte bewachen können, was an möglichem Besitz von der Zivilisation geblieben war, für spätere Zeiten. Das Überleben war erbärmlich. Nicht verlassen durfte man seine eigenen vier Wände, das war am sichersten, wahrscheinlich, sagten sich die Wenigen. An einer Hand konnte man letzlich die Überlebenden der Stadt, die einst mehreren Zigtausend Heimat, zumindest in ihren Ausweispapieren, geboten hatte, abzählen.
Als der letzte Schnee geschmolzen war, wagten sich einige von ihnen hinaus aus ihren Blöcken und blinzelten in die unwirkliche Sonne, die das Land in trügerischer, noch schwacher Wärme badete.
Sie hatten überlebt, und die Natur des Menschen hat es so eingerichtet, dass vergangene Fehler nie erkannt, immer weiter geht es, immer vorwärts! niemals ausgesprochen werden, und so stritten sie sich um die Neuverteilung, da es zu viel für alle gab.
Die letzten Überlebenden, wer uns das erzählt? - egal, aber es ist wahr, haben sich mit Spaten erschlagen, im Streit um die Welt, so als ob sie ihnen gehören könnte, so wie sie den Menschen vor ihnen offensichtlich auch schon nicht gehört hatte; mit Spaten erschlagen, beinahe wortlos, aber doch wie Menschen.
 

kira

Mitglied
Hallo Rainer

Nachdem ich vor einigen Minuten nur wenige Worte unter ein anderes Werk von dir gesetzt habe, hier etwas ausführlicher meine Meinung zu diesem Text:

Er wirkt auf mich wie ein atmosphärisch dichtes Mosaik aus einzelnen gewaltigen und erschlagenden Sätzen. Deine Aussage wird schnell klar, trotzdem liest man weiter, gebannt, sucht weiterhin nach tieferen Inhalten, nach mehr Erkenntnis.

Dabei - und nun komme ich zur Kritik - ist es allerdings enttäuschend, dass nach den anfangs erspürten Aussagen nichts mehr nachfolgt, du verschießt dein Pulver einfach zu schnell. Deine Geschichte besteht aus einem einzigen langen Höhepunkt, alles scheint ähnlich wichtig zu sein.
Ein Protagonist, an dem ich mich anfangs festhielt - in der Hoffnung er werde mich zur Handlung führen - verschwindet irgendwo sang- und klanglos von der Bildfläche, gegeben hat er dem Leser nichts, was nicht durch den Text an sich schon klar geworden wäre.

Wiederholungen (Eiter, schwarz, Tod, Verwesung, Gestank) mindern die Eindringlichkeit, irgendwann überliest man ganze Passagen (Ja, okay, alle sind tot und stinken) auf der Suche nach neuen Offenbarungen.

Einzelne Bilder sind wunderbar:
"Er ignorierte die Kälte, die Schreie, die wie zerfetzte Laken im Wind durch die Nacht wehten",
andere sind bekannt und ermüdend:
"Kurze Zeit noch konnten sie telefonisch ihren jugendlich-unschuldigen Kontakt aufrecht erhalten, der sich gerade erst entwickelte, dann wurde das zarte Band jäh zerschnitten."

Sätze wie diese -

"Gestank, der die Sterbenden bereits vor dem endgültigen Eintreten des Todes, wer hätte bestimmen wollen, ab wann dann tatsächlich der Zeitpunkt des Todes eingetreten war, reine Definitionsfrage, bedeutungslos, doch früher wichtig einmal, erfasste, lag über den Siedlungen."

"Die Irrenanstalten begannen überzuquellen, aber der Strom der dort zu internierenden, um - insgeheim war schon früh bekannt, dass es praktisch unmöglich war - sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern, riss nicht ab; er wurde größer und mächtiger und die Zahl überschritt alle, selbst die verwegensten Schätzungen um ein Vielfaches."

- sind für jeden Leser qualvoll, sie sind einfach zu schachtelig. Gerade in einem Text wie diesem, der den Leser hin zu einer schauderhaften (Selbst)Erkenntnis treibt, sollten sich Aussagen direkt erschließen, ohne dass Sätze müsam zum Anfang zurückverfolgt werden müssen.

Und noch einmal kurz zu den Zwischenfragen, speziell zu dieser:
"Die letzten Überlebenden, wer uns das erzählt? - egal, aber es ist wahr, haben sich mit Spaten erschlagen..."

Abgesehen davon, dass sie hemmend auf den Lesefluss wirken (wie an anderer Stelle bereits erwähnt): Du bist ein allwissender Erzähler, Rechtfertigungen sind vollkommen unnötig.

Absätze täten dem Ganzen übrigens auch gut.

Das ist erst einmal alles, was mir einfällt. :)
Ich hoffe, es bringt dir etwas.

Und nur falls das so gar nicht mehr in meinem Beitrag rüberkommt: Ich mag deine Texte!

Kira
 

Rainer Heiß

Mitglied
Hi Kira,

du sprichst eine ganze Reihe Punkte an, die ich hoffentlich alle beantworten kann, die Reihenfolge muss egal sein. Zu den Zwischenfragen: Klar stören sie den Erzähl- und Lesefluss, aber vielleicht kommt eine Geschichte gerade dann eindringlicher rüber, wenn der Leser ab und zu innehalten muss; klär mich auf, wenn`s anders ist!
Die story, da hast du Recht, wäre in wenigen Zeilen erzählt (die Seuche kommt, alle sterben), aber es geht mir auch weniger um die story, als um das Szenario. Meiner Meinung nach sollte eine gute Bühne entworfen werden, die dann die Möglichkeit bietet, den Mensch zu sezieren. Ok, klingt recht hochgestochen, zudem habe ich die Geschichte in einem Wutanfall hingeschrieben, weshalb wohl auch die Sezierung des Menschen etwas zu kurz kommt.
Eben merke ich, dass ich mit einer spontanen Antwort überfordert bin; muss erst deine Kritik noch einmal genau durchlesen...
Grüße, Rainer
 

Rainer Heiß

Mitglied
Antwort schuldig

Hallo Kira,

jetzt habe ich mir deine Kritik noch einmal in aller Ruhe durchgelesen und muss dir in einigen Punkten absolut Recht geben: Die Schachtelsätze sind teilweise richtig schlimm! Gerade die Beispiele, die du ausgesucht hast - verheerend! Lag wahrscheinlich an Vorbildern, die das beherrschen (Saramago, Th. Bernhard...). Richtig auch die Kritik an den Wiederholungen; das liegt aber wohl daran, dass die Geschichte zunächst in Einzelteilen entstanden ist. Irgendwie habe ich angefangen, zu diesem Thema zu schreiben und bemerkt, dass es für mich fruchtbar ist. Immer, wenn dann ein Teil abgeschlossen war, hatte ich noch was auf Lager; so entstand wohl auch die "Handlungsführung". Aber, und das ist eben ein altes Leiden von mir: Ich kann mich nur ganz schwer von etwas trennen, das ich einmal geschrieben habe. Vielleicht versuche ich es jetzt doch, denn deine Kritik war wirklich konstruktiv - vielen Dank!
Und irgendwann werde ich mir dann auch die Mühe machen, meine Texte auch in der Leselupe mit Absätzen zu versehen; bei mir haben sie nämlich welche!
Grüße, Rainer
 



 
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