Die Sonnenuhnr

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Raniero

Textablader
Die Sonnenuhr

Beim Verlassen des Gebäudes blickte Raymund Ockerstein auf seine Armbanduhr, dann auf die große Uhr am Hauptportal.
„Verflucht“ knurrte er, „sie geht schon wieder nach, eine funkelnagelneue Uhr, das gibt’s doch gar nicht!“
Diese funkelnagelneue Uhr war ein Geschenk seiner Ehefrau, die erste neue Armbanduhr seit mehr als zwanzig Jahren, denn Raymund hatte keinen großen Verschleiß an Uhren.

Raymund Ockerstein war in der Tat alles andere als ein Uhrenfetischist.
Er hatte weder ein Faible für Markenstücke in der Preisklasse eines Mittelklassewagens noch betrachtete er sie als besonderen Armschmuck für jede Tages- und Nachtzeit, für ihn stellte eine Armbanduhr lediglich das dar, wozu sie seit Urzeiten diente; ein praktischer Zeitmesser, jederzeit verfügbar, nicht mehr und nicht weniger.
Einen kleinen Anspruch allerdings stellte er doch; genau sollte sie schon sein, so eine Uhr, und weder vor- noch nachgehen.
Seine letzte Armbanduhr hatte diesen Anspruch voll erfüllt, über all die Jahre und war ihm treu geblieben sozusagen bis zu ihrem mechanischen Tod.
Darüber hinaus kostete sie ihn in der ganzen Zeit nicht einen Cent an Verbrauch, denn ihre Aufziehfunktion speiste sich nicht aus kleinen Wechselbatterien, sondern ausschließlich aus der Muskelkraft ihres Trägers sprich aus der Bewegung des menschlichen Armes, an dem sie befestigt war.
Zugegeben, in der ersten Zeit übertrieb Raymund es wohl ein wenig hinsichtlich der erforderlichen Bewegung, als er sich damals spontan einen Sandsack zulegte und jedes Mal mit der rechten Faust darauf loshämmerte, wenn er der Meinung war, die Uhr müsse aufgezogen werden.
Auch fand seine Frau es recht merkwürdig, dass Raymund, wenn sie sich im Urlaub befanden und der Sandsack nicht zur Verfügung stand, von Zeit zu Zeit im Hotel eine leichte Schlägerei anzettelte, da er fest glaubte, seine Uhr habe dieses nötig.
Die alte Armbanduhr aber hatte ihm das nie übel genommen, nie Kritik geübt und sie war immer pünktlich, vom ersten Tag an.
Jetzt aber trug er eine andere am linken Arm, eine, die gleich nach drei Tagen versagte, es war geradezu ungeheuerlich.

Entschlossen steuerte Raymund den Laden an, in dem sein Weib dieses Geschenk für ihn erstanden hatte.
Der Uhrenhändler, ein kleiner pfiffiger Zeitgenosse, musste zuerst einen nicht enden wollenden Redschwall an Beschwerden über sich ergehen lassen, bevor er Raymund antworten konnte.
„Aber mein lieber Herr Ockerstein, ich muss ehrlich sagen, ich habe nicht so richtig verstanden, was Sie mir eigentlich sagen wollten. Sie erwähnten Sandsäcke, auf die Sie einschlagen wollen, spezielles Hanteltraining, sogar Schlägereien in Ihrem Büro, die Sie in Erwägung ziehen, und all das, um Ihre Uhr, wie Sie sich ausdrückten, wieder auf Vordermann zu bringen. Ich verstehe das wirklich nicht. Diese Armbanduhr ist eine Solaruhr, eine spezielle auf Solarenergie basierende Uhr, das habe ich Ihrer Frau beim Kauaber doch gesagt.“
Raymund starrte den Verkäufer an, mit offenem Mund.
„Eine Solaruhr? Was ist das denn?“
„Na, wie gesagt, eine Uhr, die den Verbrauch aus Sonnenenergie bestreitet, sie speist sich direkt oder indirekt aus Sonnenstrahlen.“
„Aus Sonnenstrahlen. Eine Sonnenuhr?“
Der Verkäufer kratzte sich am Kopf.
„Na, ja, eine Sonnenuhr im klassischen Sinn ist sie allerdings nicht…“
„ Jetzt verstehe ich Sie nicht“ maulte Raymund, „Sie sagten doch, dass meine Uhr sich aus Sonnenstrahlen speist, also ist sie doch eine Sonnenuhr.“
„Wenn Sie es so sehen“ seufzte der Uhrenhändler, „also gut, wie ich feststelle, geht Ihre Uhr nicht richtig, sie geht zehn Minuten nach, und das kann nur einen Grund haben.“
„Und was für einen Grund bitte?“
„Nun ja, direkt herausgesagt, die Uhr war praktisch zu wenig an der Sonne, in den letzten Tagen.“
„Wie bitte?“
„Nun, die Uhr hat in den letzten Tagen einfach zu wenig Sonnenstrahlen mitbekommen. Das ist die logische Erklärung dafür. Wie pflegen Sie Ihre Armbanduhr zu tragen?“
„Am Arm natürlich, wie hatten Sie denn gedacht?“
„Ich meine, hatten Sie die Uhr irgendwie verdeckt, in dieser Zeit? Wie ich sehe, tragen Sie langärmelige Hemden und sogar einen Pullover darüber.“
„Was soll ich denn sonst tragen“ knurrte Raymund, „im Winter?“
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen natürlich nicht zu nahe treten. Aber das scheint wohl die Ursache dafür zu sein, dass Ihre Uhr nachgeht.“
„Wie bitte? Wollen Sie damit sagen, dass meine Uhr nachgeht, weil ich langärmelige Hemden und Pullover trage, im Winter, wie tausend andere Menschen auch? Sie belieben zu scherzen.“
„Nein, im Ernst, glauben Sie mir, genau das wird tatsächlich der Grund sein. Sehen Sie, die Uhr muss ab und zu mal raus, aus dem Pulloverversteck, an die frische Luft, salopp gesagt, ich meine, an die Sonne, es ist schließlich eine Solaruhr.“
Raymund wurde nachdenklich.
„Sie meinen wirklich, die Uhr hat zu wenig Sonnenstrahlen abbekommen?“
„In der Tat, so ist es.“
„Und wie soll ich ihr die notwendigen Sonnenstrahlen beschaffen?“
„Einfach, indem Sie ab und zu mal den linken Ärmel ein wenig hochkrempeln, nur ab und zu, während des Tages, das reicht schon.“
Raymund aber reichte das nicht.
Von diesem Tage an krempelte er nicht nur ab und zu seinen linken Ärmel hoch, sondern sein ganzes Leben um, denn Raymund war beileibe kein Mann für halbe Sachen.
Seine Frau Elfriede aber zeigte sich mehr als überrascht, als sie vom Stadtbummel zurückkehrte und ihren Mann am späten Nachmittag nicht wie gewohnt, vor dem Fernseher, sondern auf dem Liegestuhl auf der Terrasse vorfand, mit nacktem Oberkörper, bei fünf Grad Minus.
„Bist du verrückt geworden, Raymund? Was machst du denn da halbnackt auf der Terrasse, im Winter? Hast du getrunken?“
Geduldig erklärte Raymund seiner Gattin den Zweck seines ungewöhnlichen Aufenthaltes auf der Terrasse, in dem noch ungewöhnlicheren Outfit, zu dieser Jahreszeit.
Er berichtete ihr von seinem Besuch beim Uhrenhändler, von der freundlichen Beratung, die ihm hierbei zuteil geworden war und von den atemberaubenden Erkenntnissen, die er dabei gewonnen hatte.
„Stell dir vor, Schatz, die Uhr muss an die Sonne, das ist es, was ihr fehlte. Wenn ich das gewusst hätte, ja, wenn ich das bloß gewusst hätte, dass du mir eine Sonnenuhr geschenkt hast, dann hätte ich die doch nicht tagelang unterm Ärmel versteckt.“
„Aber deshalb musst du doch nicht im nackten Oberkörper draußen sitzen“ schüttelte Elfriede den Kopf; sie war ja schon eine Menge gewohnt, von ihrem Herzallerliebsten.
„Besser ist besser“ entgegnete ihr Mann mit leuchtenden Augen, „und der Uhr kann das auf keinen Fall schaden.“
Der Uhr schadete es in der Tat nicht, wohl aber ihrem Besitzer.

Raymund zog sich eine dicke Erkältung zu, die ihn für einige Tage ans Bett fesselte.
Gleichwohl achtete er darauf, dass seine Armbanduhr nicht unter seiner Krankheit zu leiden habe.
Elfried musste ihm feierlich versprechen, das gute Stück gleich bei Tagesbeginn auf der Terrasse zu deponieren, an einer Stelle, wo sie von allen Seiten genügend bestrahlt würde, und sie nicht wiederhereinzuholen, ehe nicht das letzte Tageslicht erloschen war.
Elfriede tat dieses, ohne zu murren oder abfällige Kommentare abzugeben; wer liebt, nimmt halt die Marotten des Geliebten in Kauf.


Raymund verfügte über eine Rossnatur; nach ein paar Tagen war er bereits wieder auf den Beinen, ohne auch nur irgendeine Medizin eingenommen zu haben, darauf war er besonders stolz.
Schon saß er wieder auf der Terrasse, im gleichen Outfit wie zuvor, die geliebte Sonnenuhr am linken Arm, und es sah in der Tat so aus, als könne die Winterkälte seinem Körper nach durchstandener Krankheit nichts mehr anhaben, im Gegenteil.
Bald darauf erschien Raymund Ockerstein wieder an seinem Arbeitsplatz, in der inneren Verwaltung, und die Kollegen trauten ihren Augen nicht, als er sich im nackten Oberkörper präsentierte.
Sein Chef aber traute nicht nur seinen Augen nicht, sondern reagierte mehr als erbost.
Er versuchte, zuerst mit gutem Zureden, schließlich unter Drohungen, Raymund klar zumachen, dass sich ein solches Outfit nicht mit seiner Tätigkeit in der Verwaltung, wenn auch nur in der inneren, vertrug.
Raymund aber blieb beharrlich und sträubte sich, seinen Oberkörper zu bedecken.
Nur wenn man ihm garantiere, und das schriftlich, dass seine Armbanduhr bei normalem Outfit keinen Schaden nähme, würde er wieder zu Hemd und Pullover greifen.
Diese Garantie aber konnte oder wollte ihm der Chef nicht geben, und auch kein höherer Vorgesetzter bis hinauf zum Verwaltungspräsiden sah sich dazu in der Lage.
So ließ man ihn denn gewähren, bis zu seiner verdienten Pensionierung, und tagaus, tagein versah Raymund seine Arbeit im nackten Oberkörper, auf diese Weise sparte er eine Unmenge an Kleidung.


Elfriede aber freute sich unbändig auf den Tag der Zurruhesetzung ihres Mannes, schließlich hatte sie ihm für diesen Tag als Geschenk eine neue Armbanduhr gekauft, batteriebetrieben zwar, doch das gab die enorme Ersparnis an Kleidung schon her, und sie erwartete von nun an ein normales Leben an seiner Seite.
Raymund selbst hatte ebenfalls, wenn auch mit Bedauern festgestellt, dass die Tage seiner geliebten Sonnenuhr sich zu Ende neigten, nachdem diese mehr als fünfundzwanzig Jahre Wind und Wetter getrotzt hatte.
Doch Elfriede hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn am letzten Tag seines Arbeitslebens erhielt Raymund ein weiteres Geschenk, von seinem Arbeitgeber.
Für treue Dienste in der inneren Verwaltung überreichte man ihm feierlich eine funkelnagelneue Solaruhr…
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Raniero,

was willst Du eigentlich erzählen? Dass jemand einer Solar-Uhr nicht genügend Licht schenkt? Räusper....

Vielleicht stehe ich gerade auf einer Leitung und mir bleibt der tiefere Sinn verborgen.

Dennoch: eine Erzählung ist diese Geschichte nicht, vielleicht eine Kurzgeschichte.

Grüße vom Wipfel
 



 
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