Die Spur der Freiheit

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Elenore May

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DIE SPUR DER FREIHEIT

Wo war er, und wie kam er überhaupt hierhin? Er wusste es nicht. Irgendwie fühlte es sich jedoch sehr gut an, obwohl sich alles verändert hatte: Er lag weich, neue Geräusche und Gerüche umgaben ihn, und selbst die Dunkelheit kam ihm seltsam anders vor.
Nur dieses ständige Rascheln und Wispern neben ihm, das machte ihn nervös, dieses unruhige Vorbeihuschen! Das kannte er nicht. Rascheln hing für ihn mit sich im Schlaf drehenden Körpern zusammen; das hier war fremd und machte ihm etwas Angst.

Trotzdem blieb er liegen und hörte den Geräuschen angespannt zu. Nach und nach stellte er fest, von ihnen ging keine Gefahr aus. Sie kamen nur von kleinen Tieren, die eifrig auf Nahrungssuche unterwegs waren und ihn noch nicht mal beachteten.

Vorsichtig hob er den Kopf und spähte in die Dunkelheit. Da war Licht, ganz weit weg, aber es war da. Und es sah ebenfalls anders aus als das Licht, wie er es bisher kannte. Nicht grob und grell, sondern fast schmeichelnd schaute es ihn aus der Ferne an.

Er rückte sich etwas zurecht und merkte, eines der hinteren Beine tat weh. Er streckte es vorsichtig aus; ja, das zog ein bisschen, aber es war nicht schlimm. Er reckte den Hals höher, auch da tat etwas weh, aber auch das konnte er ganz gut aushalten; es würde bald wieder vergehen, sagte ihm ein Gefühl.

Und immer noch sah ihm dabei das große Licht zu – unbeweglich und still.

Wegen seiner tiefen Erschöpfung schlief er unter diesem wundervollen Licht wieder ein – und als er Stunden später erwachte, war es hell und freundlich um ihn, wie er das noch nie gesehen hatte.

Licht außerhalb der Dunkelheit erlebte er bisher nur als kalt und Schrecken verbreitend – zu oft wurde hart nach ihm gegriffen, Schmerzen wurden ihm zugefügt, er wurde gestoßen und angeschrien. Doch jetzt quälte in niemand. Kein Strick wurde um seinen Hals gehängt, niemand zog ihn brutal fort und quetschte ihn zwischen zwanzig ebenfalls Geschlagene und Geschundene.

Und endlich gehörten auch diese brüllenden Tiere auf zwei Beinen der Vergangenheit an. Die, die ihn bei einsetzender Morgendämmerung mit Stöcken stießen und ihm in die Flanken traten, nur damit er in dieses harte Etwas stieg, das sich fürchterlich laut anhörte und ebenso fürchterlich stank.

Selbst seine vor Angst brüllenden Leidensgenossen waren wie von Geisterhand verschwunden. Dafür hatten neue Laute den Platz der Elendstöne eingenommen: Ein melodisches Singen aus vielen Kehlen, sonores Brummen und sanftes Rauschen, wenn sich dieses eigenartig Zarte um ihn herum bewegte, in dem er so weich eingebettet lag.

Plötzlich kam die Erinnerung zurück: In maßloser Panik stand er dicht gedrängt zwischen den anderen. Es rüttelte, lärmte ohrenbetäubend und schmiss sie alle hin und her. Lange ging das so; einige stürzten, wurden getreten, schrien und konnten sich doch nicht mehr aufrichten, es war einfach zu eng. Durst und Hunger quälte sie, sie schrien ihre Pein heraus; aber niemand hörte sie, oder wollte sie hören.
Und dann - ein lauter Krach, ein Quietschen, ein Bersten, alles wirbelte durcheinander - er flog, schlug hart auf und wusste von da an nichts mehr.

Als er erwachte lag er behaglich und alleine auf etwas, das neu für ihn war. Es fühlte sich kühl und warm zugleich an, es gab federnd nach, kitzelte in der Nase, roch frisch und eigentümlich vertraut.
Zuerst noch zögernd, dann immer mehr zupfte er daran und kaute ein wenig darauf herum. Ja, man konnte es essen, es schmeckte vorzüglich. Noch nie hatte er es bisher gesehen, oder davon gegessen; sein bisheriges Leben fand auf einer engen Fläche zusammen mit anderen statt, wo die Nahrung in Kübeln an Gitterstäben hing und sie nur ein wenig Stroh vor der Härte des Bodens bewahrte.

Er streckte seine Glieder aus und merkte, die Schmerzen waren verschwunden. Er blieb ruhig liegen und mit einem Mal spürte er ein wohliges Gefühl, als Wärme seinen Körper zu streicheln schien und etwas sanft über ihn strich.

Er probierte wieder von dem Feinem um ihn herum und eine Sehnsucht stieg in ihm auf, die er nicht deuten konnte. Die sich, ohne dass er es ahnte, nach weichem Muttermund sehnte - der seine Flanken liebkosend leckt und seinen Kopf mit rauer Zunge trocknet. Der ihn auffordernd stupst, damit er endlich aufsteht, um sich zwischen Hinterbeine zu stellen und den Saft zu trinken, der sein Lebenselixier ist, der extra für ihn geschaffen wurde.

Doch dieser Wunsch wurde bei seiner Geburt nicht erfüllt. Ein kurzer Blick zwischen seine Schenkel und sein Schicksal war besiegelt. Er wurde weggezogen, rau scheuernd abgetrocknet und in einen Verschlag gesperrt, zu fünf anderen seiner Art.
Doch jetzt erfüllte sich wenigstens einer seiner dumpfen Sehnsüchte – in diesem Weichen zu liegen, das eigentlich schon immer zu ihm gehörte; aber auch das wusste er nicht.

Er stand auf. Ein rostbraunes Bullenkalb mit einer sternförmigen Blesse auf der Stirn stand da im knietiefen Gras. Beim Unfall des Viehtransporters wurde er herausgeschleudert, landete nebenan in der großen Wiese und blieb erst noch benommen liegen. Dank der ganzen Aufregung entging den Zweibeinern anfänglich sein Verlust; und als später bei der Zählung der toten und verletzten Kälber eines fehlte, war er längst über alle Berge.

Er lief einfach los, hinein in diese wundervolle Freiheit, die Leben sein kann – und brach erst nach unzähligen Metern Lauf zusammen; geschwächt, leicht lädiert aber sehr lebendig. Vor Erschöpfung schlief er ein und erwachte unter sanftem Vollmond, in lauer Nacht, mit den Tieren der Dunkelheit als Gefährten.

- - -

Das Glück blieb ihm hold, sie konnten ihn nicht mehr finden; er lief einfach weiter und weiter. Was er für sein Leben brauchte, wuchs um ihn herum. Raubtiere, die ihm gefährlich werden konnten, gab es nicht, und das Land war wenig besiedelt.

Er folgte seinem Instinkt. Wenn er in der Ferne eines dieser zweibeinigen Tiere sah, versteckte er sich, ließ sich in das hohe Gras fallen und verschmolz mit dem undurchdringlichen Gestrüpp vor den Bäumen.

Einige Zeit später traf er auf eine Gruppe von Wildpferden. Zuerst waren sie skeptisch und versuchten ihn zu vertreiben. Doch er blieb in ihrer Nähe und folgte ihnen hartnäckig. Nach und nach tolerierten sie ihn, ließen ihn mit sich ziehen, und er fügte sich in ihre Gemeinschaft ein. Bis er irgendwann glaubte auch ein Pferd zu sein - wenn er sich mit ihren Jüngsten auf den weiten Hügeln eine ausgelassene Hatz lieferte, die er leider nie gewann...
 

petrasmiles

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Liebe Eleonore,

eine schöne Erzählung.
Durch das 'Geheimnis', um wen (bzw. was) es sich handelt, und die Darstellung des Geschehens aus kreatürlicher Sicht wird der Reiz erhöht.
Man denkt sich dann, dass es sich um ein (Schlacht-)Tier handelt, das bei einem Verkehrsunfall frei kam. Von daher empfinde ich es als Bruch, wenn Du dann vom einheitlichen Erzählpfad in die 'Realität' abbiegst, das Angedeutete konkretisierst und diesen Zukunftsausblick machst.

Diesen Absatz:

Er stand auf. Ein rostbraunes Bullenkalb mit einer sternförmigen Blesse auf der Stirn stand da im knietiefen Gras. Beim Unfall des Viehtransporters wurde er herausgeschleudert, landete nebenan in der großen Wiese und blieb erst noch benommen liegen. Dank der ganzen Aufregung entging den Zweibeinern anfänglich sein Verlust; und als später bei der Zählung der toten und verletzten Kälber eines fehlte, war er längst über alle Berge.
und die beiden nach den drei Gedankenstrichen finde ich überflüssig. Die 'Rettung' ist ja an sich schon ein Wunder und mit dem (dann) letzten Satz:

Vor Erschöpfung schlief er ein und erwachte unter sanftem Vollmond, in lauer Nacht, mit den Tieren der Dunkelheit als Gefährten.
ist das Kälbchen der Natur anvertraut.

Der Bruch besteht darin, dass diese Absätze dem Bedürfnis des Menschen zu entspringen scheinen, dass er ein Happy End haben möchte. Aber besteht nicht das Happy End schon darin, dass das Kalb dem vom Menschen vorbestimmten Schicksal entkommen ist? Dieses Menschen-Happy-End - unterstellt es nicht, dass man es der Kreatur nicht zutraut, sich in seinem Lebensraum zurecht zu finden? Ich will jetzt nicht über die 'Lebenstüchtigkeit' von Rindern philosophieren, die ja schon lange domestiziert sind, aber als Motiv gehören für mich Freiheit und Überlebenskampf zusammen. Das ist doch auch schon ein schöner Ausblick.

Liebe Grüße
Petra
 

Elenore May

Mitglied
Hallo Petrasmiles,
danke für Deine Einschätzung.
Ehrlich gesagt weiß ich jetzt nicht so richtig, was ich Dir darauf antworten soll - ja, es wurde die menschliche Sichtweise eingebracht und ja, es ist ein gewisser Bruch erkennbar.
Aber, da mir hier schon einmal der Vorwurf gemacht wurde zu schnell "das offene Wasser" anzustreben, wollte ich da vorsichtig sein.
Aus Deinen Augen gesehen mag das nicht die richtige Verfahrensweise gewesen sein, doch ich kann damit leben.
Es freut mich trotzdem, dass Dir die Geschichte alles in allem anscheinend gefallen hat - das ist doch schon was.
Es ging ja eher um das "Augen öffnen" und ich hoffe, dass mir das einigermaßen gelungen ist, ohne den Zeigefinger in die Höhe zu halten.
Beste Grüße
Elenore
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Eleonore,

mir hat Deine Geschichte ganz ausgezeichnet gefallen - keine Rede davon, dass sie so wie sie ist nicht schon gut ist!
Ich kommentiere, um einen Dialog anzustoßen, keinesfalls will ich 'Vorwürfe' oder so machen. Manchmal können meine Kommentare zu einem Dialog werden, manchmal nicht. Macht nichts.
Ich habe Deine Geschichte gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Elenore May

Mitglied
Danke Petra und entschuldige bitte, dass ich mich erst jetzt melde.
Aber ich bin kein sonderlich eifriger Leselupenanhänger. Die Gründe dafür möchte ich, so öffentlich, lieber für mich behalten...
Liebe Grüße
(jederzeit zu jeder "Schandtat" bereit)
Elenore
 

Clara

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:)so ein Getöse
wie im Krieg -
an seinen hinteren unteren Beinen erkannte ich, dass es sich um eintier handeln muss

Ich bin ja auch immer sehr für Wahrheit
aber in diesem Fall, dieser Schlacht, täte ich evtl diesenUnfall ganz herauslassen
und erst am Ende zu schreiben: Nach langer Lebenszeit in Freiheit
wurde Schwein397 gefunden - das arme Schwein hatte sich jahrelang in der Freiheit zurechtfinden müssen.

Als allerletzten Satz.


Dür die Darstellung des Transportes nebst Unfall mit Vieh
wirst du zwar von Tierschützern auf die Schulter geklopft bekommen,als einfühlsamer Mensch... der die Realität aufgreift

aber um diese düstere Stimmung zu behalten, täte es gut, den Passus nur als Geräusche stehen zu lassen - GERUCH ist auch dabei eine Sache, wobei ich nicht weiss, ob ein Schwein ein anderes riechen mag oder nicht - Und, Schweine schreien wie verrückt und haben enorme Angst - Kälber sind da wohl ruhiger?
Jedenfalls was so unversehrt herausfällt - fast unversehrt, ist für mich ein Schwein. Plobb - da bin ich.

Hast du aber den Anspruch über die Quälerei von Tiertransporten zu schreiben, wäre dieses sich in das tier versetzen mitmenschlichen eigenschaften anders zu schreiben
aber mir gefiel die Reise so wie sie ist -

Da sie auch Bodenwühler sind, könntest du statt des Wortes tiertransport evtl einflechten, wer wo ein Phänomen entdeckte - villeicht : es wurde ein Schwein inder Heide gesichtet - oder besser: ein ungewöhnliches Tier.. das Wort Schwein_Kalb wäre also weiterhin zu vermeiden. Aber insgesamt wäre es wohl nicht mehr deine Geschichte -diese Idee von mir.
 

Elenore May

Mitglied
Hallo liebe Clara,
diese Kritik ist wohl Dir wohl ein wenig entglitten - musste erst versuchen mich zurecht zu finden, was Du wohl wie meinen könntest... und, sei's drum, bin mir auch jetzt noch nicht so ganz sicher...
Trotzdem, danke für Deine Zeilen,
beste Grüße
Elenore
 

Clara

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ich täte nur den Viehtansport erst am Ende erzählen
im Zusammenhang, das ein Tier mit der Nummer sowieso da und da entweder tot aufgefunden wurde, oder lebend aufgegriffen wurde.

Das Tier hat Angst, es nimmt alles um sich wahr
aber von Transporten hat es keine Ahnung, es kennt auch keine Lastwagen und keine Autobahnen.

nur damit es bei dieser Stimmung bleibt täte ich es ans Ende setzen - also die spannung noch weiter ausreizen.


hoffe ich werde nun verstanden - und ja ich täte es mit einem Schwein schreiben - aber ich habs mir nciht ausgedacht
 

Elenore May

Mitglied
Hallo Clara,
...der Sinn dieser Geschichte liegt nicht in der Darstellung des Leidens vom Schwein, dem Jungbullen, dem Pferd, dem Hund, der Katze - oder den so unendlich vielen, tagtäglich geschundenen Tieren.
Er ist vergraben, und ich nehme mal an, dass zumindest einige Leser ihn erkannt haben.
WO die Sache mit dem Transport steht, und ob es sich -wiederum-, um ein Kalb oder ein Schwein handelt, ist letztendlich unerheblich.

Ich möchte den Dialog mit einem Spruch aus dem ZEN-Buddhismus abschließen:

"Wenn du einen Berg erklimmen willst, der voller Dornengestrüpp ist, brauchst du nicht den ganzen Berg umwickeln; es genügt die Füße zu bandagieren...
In diesem Sinn, beste Grüße
Elenore
 



 
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