Die Spur des Elefanten.

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Als ich zehn war, starb mein Onkel Erhard. Die Erwachsenen sagten mir, Onkel Erhard würde nun vom Himmel auf uns herabschauen. Das war mir unangenehm. Bis in meine Träume fühlte ich die Augen von Onkel Erhard. Den Erwachsenen erzählte ich davon nichts. Ihnen schien es wenig auszumachen, von Onkel Erhard beobachtet zu werden. Ich hingegen hatte Angst, dass Onkel Erhard es den Erwachsenen petzte, wenn ich im Traum einmal unartig war. Ich wollte meine Träume für mich haben. Da die Erwachsenen mir aber keine Hilfe waren, musste ich schon selbst mit Onkel Erhard sprechen. Ich wurde Pfarrer.
Seither habe ich viele Predigten gehalten. Von Onkel Erhard, wie er in den Himmel gekommen ist, als ich zehn war. Damit ich immer wieder von Onkel Erhard predigen konnte, ließ ich Onkel Erhard mal als das Lamm, mal als den Sohn Gottes sterben. Wie ich es auch anfing, immer schien die Gemeinde befriedigt, so bald Onkel Erhard im Himmel angekommen war.
Wenn die Gemeinde schlief, floh ich hinaus in eine Nacht ohne Träume. Aber selbst im stillsten Winkel des Parks ließ Onkel Erhard nicht ab von meinen Sünden. Bald fühlte ich mich unter seinen Augen, als wäre ich mein Leben lang unartig gewesen. So sehr ich auch betete wie man es mich gelehrt hatte, mir schien, als gäbe es im gesamten Himmelsrund nicht ein Wort des Trostes für mich.
"Bist Du der Pfarrer?" klang es hinter mir.
Es war der Vorabend des Weihnachtsfestes, und ich sperrte gerade das Tor zur Kirche ab. Ich drehte mich um. Für einen Augenblick war ich geblendet vom Schnee, der hell im Mondlicht leuchtete. Dann sah ich das Mädchen. Fünf, vielleicht sechs Jahre jung.
"Ich will dies hier vor den Kühen retten!" Das Mädchen hielt mir einen Umschlag hin. "Kannst Du es nicht segnen?"
Wortlos nahm ich den Umschlag.
"Nicht öffnen! Es ist nicht für Dich bestimmt!"
"Wie kann ich segnen, was ich nicht kenne?"
"Du segnest nur, was Du nicht kennst. Weil auch Du eine Kuh bist."
"Dir muss doch kalt sein!" Ich erkannte das Nachthemd unter der Winterjacke des Mädchens. Ein Nachthemd, wie ich es oft in Krankenhäusern gesehen hatte, wenn man mich ans Bett rief.
"Segnest Du es?"
Ich erinnerte, wie ich als Kind eine Mütze, die man mir zu tragen befohlen hatte, in den Fluss warf. Meine Ohren waren taub vor Kälte, als ich die Mütze warf so weit ich konnte.
"Gehen wir in die Kirche", sagte ich.
"Keine Licht!" forderte das Mädchen
"Aber dann sehen wir nichts."
"Was Kühe sehen, wollen sie fressen." Flink pustete das Mädchen alle Kerzen aus, die am Altar brannten.
Beide standen wir nun mitten im Kirchenschiff auf einer Insel des Mondlichts. Meine Hände hielten sich an dem Umschlag fest, den das Mädchen mir gegeben hatte. Nur mit Mühe gewöhnte ich mich an die Dunkelheit ringsum.
"Siehste, jetzt sieht Dein Onkel da oben auch nichts mehr."
Tatsächlich... wo waren die Augen von Onkel Erhard? Mit mir schienen auch sie ihre Orientierung verloren. Beinahe wollte ich aufblicken und Onkel Erhard die Zunge rausstrecken.
Ungeduldig zupfte das Mädchen an meinem Ärmel: "Kannst Du Dir einen Elefanten vorstellen?"
Ich dachte an Afrika. An jene Welt aus Tag und Nacht, die nach keinem Priester je verlangt hatte. "Ja", sagte ich, "ich kann mir einen Elefanten vorstellen."
"Du hältst ihn in der Hand. Er ist in dem Umschlag drin. Es ist spät. Er will schlafen."
All die Kirchen kamen mir in den Sinn, die sich mir als Kind verschlossen, als ich um meine Vorstellungen von Wahrheit und Lüge gekämpft hatte. "Dann müssen wir einen Ort finden, wo er ruhig schlafen kann."
"Endlich begreifst Du!"
Das Mädchen nahm mich bei der Hand. Wir verließen die Insel des Mondlichts und traten ein in das Dunkel, das um den Beichtstuhl herrschte.
"Hier gehen die Erwachsenen ihre Sünden abladen, nicht wahr?"
"Wenn sie ganz stark an den lieben Gott als ihren Schöpfer glauben, ja."
"Kinder auch?"
"Es gibt Lehrer, die führen ihre Klasse geschlossen zur Beichte, ja."
"Beichten Kinder viele Sünden? Ich meine, ist Dir das nicht peinlich?"
Ich schwieg.
"Bei uns durchleuchten sie die Kinder sogar. Um zu sehen, ob etwas Böses in ihnen ist. Das finde ich frech!"
Ich schwieg. Vielleicht, weil es für einen Erwachsenen sehr ungewohnt ist, im Dunkeln zu sein. Mit den Jahren verlernen Erwachsene, die Dunkelheit zu respektieren, glaube ich.
"Kannst Du mir erklären, wie der Elefant hier in den Umschlag gekommen ist?" forderte das Mädchen.
"Jäger werden ihn eingefangen haben. Für den Zoo." Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Vielleicht war ich wirklich eine Kuh, die gleichmütig eingefangene Elefanten begafft.
Das Lachen des Mädchens hallte bis hinauf zum Kirchengebälck. "Kühe glauben, man würde später ihr Herz in einen Umschlag tun und an den Himmel adressieren."
Ich sank auf eine der Kirchenbänke. Viele Jahre hatte ich mir das Leben der Erwachsenen eingeübt. Nur mit Mühe konnte ich anderen Menschen noch Zuhören. Und bei Kindern schüttelte ich bereits den Kopf, kaum dass eines schüchtern seine Stimme hob. Welcher Frieden mochte wohl darin liegen, mit einem Elefanten in einem Umschlag zu reisen? Von Kinderhänden durch die Welt getragen. Plötzlich kamen mir all die Tage verloren vor, an denen ich es für unwahrscheinlich gehalten hatte, dass ein Elefant in einen Briefumschlag passt. Würde ich diese Tage mit einem schwarzen Stift aus dem Kalender streichen, es blieben von meinem Leben wohl nur wenige weiße Flecken.
Das Mädchen stampfte mit dem Fuß auf. "Nun mach schon, sing dem Elefanten ein Schlaflied!"
"Aber Elefanten sind das doch nicht gewohnt."
"Tote etwa? Selbst auf einem Gottesacker seid Ihr noch am lärmen. Also los!"
Ich legte den Briefumschlag neben mich. Für Minuten war nichts als Dunkelheit um uns.
"Du könntest die ganze Welt entzwei schlagen, nicht wahr?"
"Wir haben bei uns so viele Zimmer..." Das Mädchen schien zu träumen. "Wenn alles in dem Umschlag für Dich wäre, würdest Du wissen, wie schwer es ist. Wer von uns schon schreiben konnte, hat etwas hinein geschrieben. Und von denen, die nicht schreiben konnten, haben wir uns erzählen lassen, was wir für sie hinein schreiben sollen."
Leise begann ich ein Schlaflied zu singen. "Oh liebe Nacht, oh weiser Wind, in Eurer Hand zu sein ganz tief, ist wie die Macht, ist wie das Licht, das mich ins Leben rief."
Einen Augenblick war Stille. Dann flüsterte das Mädchen: "Er schläft."
"Und Du bist kein bisschen müde?"
"Doch, sehr."
"Vielleicht sollte ich Dich heimbringen."
"Heimbringen! Nun tu doch nicht so, als wenn Dich etwas anderes erwarten würde als Dein Kuhstall."
Obwohl das Pfarrhaus einen Kamin hatte, war mir nie in den Sinn gekommen, dort Feuer zu entfachen. Ich achtete darauf, dass kein Staub lag und der Rasen gemäht war. Mehr nicht. Nun tat es mir leid, Onkel Erhard beinahe die Zunge rausgestreckt zu haben. Wo sollte ich denn jetzt hin? Die Sterne waren für alle. Und im Augenblick kamen sie mir auch recht gleichgültig vor. Onkel Erhard hingegen war die ganze Zeit nur für mich gewesen.
"Verstehst Du nun, was uns Kindern die Elefanten sind, die Indianer, die Piraten? Versuch nie wieder, ein Kind heimzubringen in einen Kuhstall."
"Ist es denn so schlimm, wenn wir es gut miteinander meinen?"
"Du meinst nichts, Du glaubst nichts. Du kannst doch nur bestimmen!" Beinahe spürte ich, mit was für Empörung das Mädchen hinauf zur Kanzel blickte. "Ihr Erwachsenen tut von oben herab immer so, als müsstet Ihr nie weinen und niemals schreien. Dabei müsst Ihr es doch. Ihr habt bloß Angst, dass Euch dann keiner mehr lieb hat."
"Wenn Menschen ganz fest an den lieben Gott glauben, tut ihnen jeder Mensch weh, der zweifelt. Einige Gläubige werden dann sehr böse. Wieder andere versuchen, den Zweifler mit Liebe zu umschlingen. Und manche sind fest entschlossen, sich in den Tod zu stürzen, gäbe es keinen lieben Gott. So sinnlos erscheint ihnen das Leben und das, was sie als Unrecht empfinden."
Wort für Wort stieg Kälte in mir empor. Mir war, als rückten aus jedem Winkel des Kirchenschiffes Schatten an mein Herz. Die Geister all jener, die ihr Seelenheil meinem Glauben anvertraut hatten. All die Menschen, die auf dem Sterbebett nach meiner Hand griffen, während ich nur die Lippen bewegte. Konnte es denn sein, konnte es denn wirklich sein?
"Mit jeder Predigt habe ich die Verzweiflung meiner Gemeinde ein Stück weit auf mich genommen. Ihnen allen versprach ich ein Land, von dem ich mir immer weniger vorstellen konnte, dass ich es je finden würde."
"Pah, zu uns kommt auch immer so ein Typ, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hat. Was die Kinder draußen nicht mehr haben mögen, das schenkt er uns. Fühlt sich ganz großartig dabei der Typ. Und die ganze Zeit tut er so, als würde er den Weihnachtsmann auch spielen, wenn er dafür keinen Umschlag voll Geld bekäme... Ihr Erwachsenen spannt doch selbst vor der Kirche Schirme auf! Euer lieber Gott wird ans Kreuz geschlagen, während Ihr auf jede Pfütze achtet."
Der Bruder von Onkel Erhard kam damals mit dem Taxi. Die ganze Beerdigung über schien er sich zu sorgen, dass er nicht nass wurde.
"Stell Dir vor, Dein Briefumschlag läge draußen im Schnee. Zerlaufen und mit einer Eisschicht überzogen. Es würde dem Elefanten, der ja in dem Briefumschlag lebt, kaum gut tun. Glaubst Du nicht, wir haben die Aufgabe, für das Leben zu sorgen, das in uns ist - für die Indianerreservate und für die Schatzinseln?"
Das Mädchen aber blieb unerbittlich: "Elefanten sind im Leben wie im Tod. Was Euch Kühe vor Angst plemplem macht, ist dem Elefanten wie als würde ein Traum stillstehen. Über die Zäune Eurer Weiden steigt er drüber weg. Jäger, die ihm Böses wollen, werden nur einen Briefumschlag finden, der kalt ist und leer."
Mondlicht fächerte sich über dem Altar bis hinein in die ersten Bänke. Mir war, als sähe ich diese Kirche zum ersten Male. Ein Boden, der so hart war, dass er mich zerschmettern würde, Fenster, die wie Raubvögel auf mich lauerten. Und vor allem fühlte ich mich leicht, so leicht, als wäre etwas in mir gelöst worden. Ich hätte das Wort Gottes beiseitelegen können und nie mehr anschauen mögen. In jenem Augenblick hatte ich etwas gefunden, das sich wahrer anfühlte, als all das, was mir die Erwachsenen je zu lesen aufgegeben hatten. Ich nahm den Briefumschlag es Mädchens in beide Hände und hielt ihn gegen das Mondlicht. Mir war nun, als wenn mich Trommeln riefen und die Tiere des Urwaldes nach mir schrien.
"Kein sehr großes Zimmer hier." Das Mädchen hüpfte den Mittelgang entlang in Richtung des Altars. "Warum habt Ihr es so groß gebaut?"
"Weil wir uns weniger klein fühlen, je größer wir bauen."
"Das kenn ich, das kenn ich!"
Oft hatte ich erleben müssen, zu was für Wahrheiten Kinder fähig waren. Für Kinder schien unser Leben wie eines ihrer Spielzeuge. Und wenn das kaputt war, ja, dann war es eben kaputt. Dann musste man das auch so sagen.
"Was kennst Du denn, das groß wirkt wie eine Kirche?"
"Das Büro vom Zottel!"
"Auch eine Kuh?"
"Ja. Aber das Zottel hat sich einen Zopf wachsen lassen und einen Bart, damit niemand merkt, dass es eine Kuh ist. Eine kleine sogar, die hohe Absätze braucht und Diplome an der Wand."
"Und was macht das Zottel."
"Es spricht mit uns Kindern über den Tod."
Kein Kind hatte in der Stunde seines Todes je nach meinem Trost verlangt. Warum war mir nie aufgefallen, dass die Erwachsenen ringsum gestützt werden mussten, während das Kind in ihrer Mitte weder klagte noch bettelte?
"Dabei macht das Zottel immer ein Gesicht, als würde es uns etwas anbieten, das schlecht ist für die Zähne."
"Es gibt nicht viele Erwachsene, die über den Tod sprechen mögen."
Tatsächlich ging man mich immer nur wegen dem Himmelreich an. Als würde ich oben bei den Kirchenglocken einen Goldschatz hüten. Niemand aus der Gemeinde wollte das Laub in Erwägung ziehen, das sich still unter dem Schnee in den Kreislauf des Lebens fügte.
"Das Zottel hat Angst vor dem Tod. Immer wieder bestellt es uns Kinder ein, um sicher zu sein, dass noch jemand vor ihm an der Reihe ist."
"Aber Ihr Kinder seid doch gerade erst geboren!"
Plötzlich stand alles in mir still. Mein Ausruf sank wie ein Nebel auf mich hinab. War ich all die Jahre Pfarrer gewesen mit dem Ideal einer Gemüsewage? Hundert Gramm Gerechtigkeit bitte. Ich spürte keinen Boden mehr. Gleich einem Pendel schwankte der Stein unter mir. Langsam segelte das Kirchenschiff hinein ins nächtliche Afrika. Wie viele Sterne es gab! Auf den Wipfeln der Bäume wogten Vögel im Wind der Steppe. Ein Elefant brach durch das Unterholz und sah mir vom Ufer aus nach.
"Oh, haben wir den Elefanten aufgeweckt?"
Das Mädchen schwieg. Was Kinder schweigen können! Im Geiste eines stummen Fährmannes schien das Mädchen vor dem Altar zu stehen. Kinder gehen mit den Toten wie mit den Lebenden um. Fingerpuppen aus königlichem Purpur und schwarzer Seide sind ihnen Antwort genug... Unwillkürlich nickte ich zu beiden Seiten des Ufers hin. Die Menschen, die dort standen, schienen mich zu kennen - und ich sie.
"Herr Pfarrer, es ist Zeit für den Segen", sagte das Mädchen endlich.
Ich folgte der Stimme des Mädchens bis vor den Altar. Beinahe hätte ich meine Augen geschlossen. Ich verspürte keine Lust mehr, mit ihnen zu sehen. So aber erkannte ich, wie das Mädchen geschwind zur Seite trat und mich die Kerzen spüren ließ, die erloschen auf dem Altar standen. Ich tastete nach dem Kruzifix. Als ich den fein geschnitzten Leib Christi endlich spürte, schien das Kirchenschiff in einen Hafen zu gelangen.
"Komm, es ist nicht mehr weit", ein letztes Mal nahm das Mädchen mich bei der Hand.
Der Bootssteg führte hinein in ein dunkles Grün, das sich mir entzog, je näher wir ihm zu kommen schienen. Schwüle lastete auf mir, eine fiebernde Art der Erwartung. Mein Talar, er fühlte sich Stück für Stück unpassender an. Mit der schmalen Hand eines Zehnjährigen hielt ich den Briefumschlag des Mädchens. Segnen sollte ich ihn, und hatte doch alle Segnungen meines Pfarramtes längst vergessen. Tiere wichen zurück ins Buschwerk, und beäugten uns mit einer Neugier, wie man sie unter den Menschen gelegentlich im Kindesalter noch fand, ehe sich eitle Erwartungen an ihre Stelle drängten und den Gefühlshaushalt bestimmten.
"Sieh!" rief das Mädchen.
Inmitten des Urwaldes waren wir auf einer Lichtung angelangt. Um uns ein Heulen des Windes, das aus Höhlen tief unter der Erde zu stammen schien. Gebeine erkannte ich, weiß wie das Elfenbein. Sterbliche Überreste, die in das Grün Afrikas gelegt waren, als wären sie der Schmuck der Erde.
"Hierher kommen die Elefanten, wenn sie müde sind."
"Woher kennst Du den Ort?" Ich war überzeugt davon, dass vor uns kein Mensch je diese Lichtung betreten hatte.
"Du hast mich hingeführt."
Das Mädchen wirkte enttäuscht, als hätte ich wieder einmal etwas nicht verstanden. Tatsächlich kam die Lichtung mir bekannt vor. Wo nur hatte ich sie schon einmal gesehen?
"Für einen Jungen sollte ich schreiben, dass das Leben durch die Elefanten hindurch scheint, kurz bevor sie hier ihren Frieden finden. Als wären sie aus Glas. Eigentlich konnte der Junge selber schon schreiben. Aber er hat sich nicht getraut, sein Bett zu verlassen."
In der Nacht, als Onkel Erhard starb, hatte ich leise die Tür meines Kinderzimmers geöffnet, um zu horchen, was die Erwachsenen atemlos am Telefon besprachen. Ein Spalt Licht fiel in das Kinderzimmer und spiegelte sich auf den drei gläsernen Elefantenminiaturen, die nahe der Fensterbank standen. Ein Mutter, ein Vater und ein Junges. Alle drei verbunden durch goldfarbene Kettchen.
Weinen hörte ich in jener Nacht niemanden. Stattdessen traf man Reisevorbereitungen. Als wäre es am Wichtigsten, den Tod von Onkel Erhard zu regeln. Während die Erwachsenen so gestimmt ihre Koffer packten, fiel ich in einen atemlosen Traum.
Und mit einem Male erkannte ich alles wieder! Das kniehohe Gras strich über meinen Schlafanzug. Die Erde unter den Füßen war noch warm von der gerade erloschenen Sonne. Um mich lauter Gebeine von Elefanten. Onkel Erhard ruhte unter einem Baum inmitten des Elefantenfriedhofes. Noch nie hatte ich als Kind solch einen Baum gesehen. Tausend Jahre und mehr schien der Baum alt zu sein. Erst wirkte es, als wäre Onkel Erhard mit seiner Pfeife im Mund eingeschlafen. Doch dann tat er die Augen auf und lächelte mir verschmitzt zu. Komm! Aber ich schüttelte nur den Kopf, wandte mich von Onkel Erhard ab und rannte so schnell ich konnte durch den Urwald zurück in mein Bett...
"Nun geh schon", sagte das Mädchen, "Dein Onkel hat lange auf Dich gewartet."
Der Baum stand noch da, wie ich ihn in meiner Kindheit zurück gelassen hatte. Als wäre seit jenem Traum nicht ein Tag vergangen. Onkel Erhard breitete seine Arme aus. Nie in meinem Leben hatte ich solch eine Güte gespürt.
Neben dem Altar sah ich mich liegen. Die Beine angewinkelt, als hätte ich noch versucht zu knien, bevor ich rücklings auf den Kirchenboden fiel. Der Mund geöffnet wie zum Gebet. Den Briefumschlag hielt ich in meiner Faust geborgen. Nach der Messe hatte ihn mir die Schwester Oberin eines Kinderkrankenhauses gegeben. Fürbitten schwerkranker Kinder. Ich war nicht mehr dazu gekommen, hinein zu schauen. Das würden nun andere tun müssen.
Meine Flucht, die in jener Nacht begann, als Onkel Erhard starb, hatte nun ihr Ende gefunden. Alle Himmel der Welt taten sich vor mir auf, bevor ich einging in seine Hände.
 



 
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