Die Stadt der Unsterblichen 4.Teil (Und Ende)

mikhan

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Wochen waren vergangenen seit jenem Tag, an welchem der junge Journalist bei der Stadtverwaltung gewesen war. Carmela hatte er seither nicht mehr gesehen und auch sonst hatte er sich weitgehend zurückgezogen. Es war in dieser Zeit der Einsamkeit, in welcher er seinen Entschluss gefasst hatte. Er hatte beschlossen, bei Nacht in das Stadtkrankenhaus einzudringen und sich auf diese Weise Zugang zu dem Serum zu verschaffen, welches ihm von der Stadtverwaltung verwehrt geblieben war. Zuvor hatte er bei Carmela angerufen, doch nur auf den Anrufbeantworter sprechen können, der seine emotionsgeladene Botschaft vollkommen teilnahmslos entgegennahm.
Seinen Wagen hatte er einige Straßenzüge vom Stadtkrankenhaus geparkt, so dass er den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen musste.
Die Nacht war ausgesprochen finster und von den wenigen Straßenlaternen, die es in dieser Gegend gab, funktionierten auch nicht mehr als die Hälfte. Ab und zu schimmerte das Mondlicht durch den sonst wolkenverhangenen Nachthimmel.
Das Gelände um das Stadtkrankenhaus herum jedoch war strahlend hell beleuchtet, und als er aus dem Dunkel der Straße auf den vorgelagerten Parkplatz trat, kam er sich vor wie ein Verbrecher, dessen düsteres Treiben endgültig aufgeflogen war. Ohne es zu bemerken hatte er seine Schritte beschleunigt und befand sich nun direkt vor dem Haupteingang.
Der Pförtner, der sich unmittelbar dahinter befand, konnte ihn von hieraus noch nicht sehen, aber jeder weitere Schritt hätte ihn bereits verraten können. Daher umging er den Haupteingang und betrat das Krankenhaus durch die Fahrzeughalle, die auch bei Nacht geöffnet blieb. Auch hier gab es einen Pförtner, doch bei all den Krankenwagen, die hier versammelt waren, war es dem jungen Journalisten nicht schwer gefallen, sich dazwischen hindurch zu schleichen. Nun kam er sich tatsächlich wie ein Verbrecher vor. Und in der Tat, er hatte seinen nächtlichen Besuch im Stadtkrankenhaus genauestens geplant. Noch am Tage zuvor hatte er sich mit den Räumlichkeiten vertraut gemacht. So war es ihm ein Leichtes, vollkommen unbemerkt bis zu dem Lagerraum, wo das Serum aufbewahrt wurde, zu gelangen. Es überraschte ihn selbst, wie kaltblütig er dabei vorging. Vielleicht, so dachte er, konnte er so handeln, weil er als Sterblicher ohnehin nicht viel zu verlieren hatte, da ihn so oder so der Tod erwartete.
Der Raum mit dem Serum war in ein eigenartiges blaues Licht gehüllt, überall standen die Ampullen auf den Regalen, und eine Gefrieranlage sorgte für eisige Temperaturen.
Doch davon spürte der junge Journalist kaum etwas, stattdessen füllte er die eigens mitgebrachte Spritze mit dem Serum aus den Ampullen auf und bereitete sich auf die Injektion vor. Seine Hände begannen zu zittern, nicht wegen der Kälte sondern vor Aufregung. Sein ganzes Tun kam ihm selbst absolut unglaublich vor, es war als sei ein Anderer in seine Haut geschlüpft.
Nun war es also so weit. Nun würde er sich die Injektion verabreichen und sich damit den Herzenswunsch seines verstorbenen Freundes erfüllen. Doch war es auch sein eigener Wunsch? Ein plötzlicher Zweifel überkam ihn.
Konnte es sein, dass er die Unsterblichkeit gar nicht wollte, so wie er es damals seinem Freund gegenüber angedeutet hatte? Und was war mit dem alten Mann, der ihm gesagt hatte, dass er keine Angst vor dem Tod habe. Gab es denn eigentlich einen Grund diesen zu fürchten? War die Existenz des Todes nicht sogar Grundlage allen Lebens?
Langsam führte er die Spritze näher an seinen entblößten Unterarm heran, fast so als könnte er die Bewegungen seines Armes nicht mehr länger kontrollieren. Die seltsam grüne Flüssigkeit in der Spritze leuchtete auf unheimliche Weise. Sie schien ihr eigenes Leben zu führen, kleine Blasen stiegen in ihr auf. Draußen auf dem Gang ertönten Schritte, die lange nachhallten. Sie kamen näher, ganz nahe schließlich und verschwanden dann wieder, ein bedrohliches Echo hinter sich lassend.
Plötzlich wurde es ihm furchtbar kalt in diesem Raum. Beinahe wäre ihm die Spritze aus der unkontrolliert zitternden Hand entglitten. Die Schatten, die sein Körper auf die mit Regalen bestückten Wände warf, schienen sich zu verselbständigen und begannen um ihn herum zu tanzen.
Dann stach er die Spritze in seinen Unterarm hinein, ein kleiner Bluttropfen entwich und lief an seinem Arm hinab. Alles was er nun zu tun hatte, war das Serum in seinen Körper zu pumpen. Doch genau das konnte er nicht. Es war ihm egal, ob er das später einmal bereuen würde, doch jetzt in diesem Augenblick war es die richtige Entscheidung. Er zog die Spritze wieder heraus, ohne einen Tropfen Serum verschwendet zu haben. Nun entwich noch mehr Blut, denn er hatte nicht sehr genau zugestochen. Aber das störte ihn nicht weiter. Wie im Traum legte er die Spritze einfach auf den Boden vor ihm und verließ den Raum. Ohne die zuvor noch gewahrte Vorsicht wandelte er durch den Gang, als wäre seine Anwesenheit hier ganz selbstverständlich. In diesem Augenblick war sein Kopf ganz leer, kein Gedanke und sei er auch noch so flüchtig, durchbrach seine innere Stille. Es kam ihm vor, als ginge er auf Watte. Fast glaubte er in dem Boden einzusinken.
Ein plötzlicher Schrei ließ ihn wieder zu Bewusstsein kommen. Am anderen Ende des Ganges stand jemand vom Krankenhauspersonal.
„Was haben Sie hier zu suchen? Bleiben Sie stehen!“ rief er noch einmal.
Doch der junge Journalist blieb nicht stehen, vielmehr rannte er wie ein Wahnsinniger den gesamten Weg, den er gekommen war, wieder zurück, zwischen den Krankenwagen hindurch, ohne dabei auf den Pförtner zu achten, der nur ein verblüfftes „Wer?“ zustande brachte.
Er rannte noch lange, doch es war als käme er dabei gar nicht mehr von der Stelle und so wunderte es ihn auch nicht, als er sich nach endlos langer Zeit immer noch auf dem Krankenhaus-Parkplatz wiederfand. Seinen Verfolger hatte er dennoch abhängen können.
Am Rande des Parkplatz, im Halbdunkel stand jemand, der ihn zu beobachten schien. Die Person kam ihm merkwürdig vertraut vor. Langsam ging er auf sie zu, bis er schließlich Carmela erkannte. Sie hatte den Anrufbeantworter also abgehört!
Lange Zeit standen sie still nebeneinander und sagten kein Wort, dann wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin, setzen sie sich in Bewegung. Sie sprachen auch dann noch nicht, als sie den Wagen bereits erreicht hatten und losfuhren.
Erst als sie sich auf der Stadtautobahn befanden und sich einigermaßen sicher fühlten, brachen sie ihr Schweigen.
„Du hast es nicht getan, nicht wahr?“ fragte Carmela.
„Nein.“ Sagte der junge Journalist. „Ich konnte nicht.“
„Du hast das Richtige getan, das spüre ich.“
„Ja, ich denke schon. Ich glaube nur so leben zu können, ich glaube es ist wichtig seine eigene Sterblichkeit zu akzeptieren, statt sich davor zu flüchten.“
„Aber trotzdem bist du dorthin gegangen.“
„Weil ich mir unsicher war, ich brauchte Gewissheit, die ich mir nur so verschaffen konnte. Als ich die Spritze mit dem Serum in der Hand hielt, da ist etwas merkwürdiges mit mir geschehen. Ich kann es eigentlich nicht beschreiben, aber danach wusste ich ganz genau, was ich zu tun habe.“
Dann schwiegen sie wieder. Auf der Autobahn fuhren nur wenige Autos und mittlerweile hatte sich der Himmel so weit gelichtet, dass man den Mond und einige Sterne sehen konnte.
„Es ist schön am Leben zu sein.“ Sagte Carmela.
„Es ist schön.“ Wiederholte der junge Journalist leise zustimmend.
„Und wohin fahren wir jetzt?“
„Raus. Raus aus der Stadt. An einen Ort, wo wir unser Leben leben können“

September 2002
 

Lugh

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Morgen mikhan.

Jetzt wo die Geschichte zu Ende ist kann ich sie als ganzes bewerten. Der philosophische Gedanke über den Tod ist sehr schön zum Ausdruck gekommen, die Idee mit der „Stadt der Unsterblichen“ hat auch etwas sehr bedrückendes.
Allerdings erzählst du in knappen Worten, es ist wenig ausgeschmückt. Manchmal wirkt es dadurch ein wenig teilnahmslos.

Beim letzten Teil frage ich mich am Meisten, wie er eigentlich an das Serum kommt. Es kann doch nicht sein, dass er da einfach nur am Portier vorbei geht und gleich im geöffneten Kühlraum steht. Gibt es in der Stadt der Unsterblichen denn keine Türschlösser mehr? Da sollte man noch plausibel erklären, wie er an das Serum kommt.

Außerdem:
„Es ist schön am Leben zu sein.“ Sagte Carmela.
„Es ist schön am Leben zu sein“, sagte Carmela.

PS: Danke für deine Kritik an "Samuel". Ich hoffe, du gibst auch noch Kommentare zu anderen Werken von mir ab.
 



 
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