Die Stadtstreicherin

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pablo

Mitglied
Die Stadtstreicherin

Lange schon ist der Schmerz
ihr ständiger Begleiter.
Zu viel Wein und alte Lieder
brachten ihr die Jugend
zurück, heute Nacht
für ein paar Stunden.

Ein scheues Lächeln huscht
über das welke Gesicht.
Mein Blick streift ihre
nassen Augen.
Gebrochenes Leben
spult sich darin ab.

Durch ihr Reich aus
Straßensilber und Wermutgold
stolpert die graue
Asphaltfürstin den
Schlafplatz in der zugigen
Bahnhofsnische an.

Ihr Zepter: der Krückstock.
Die Krone: das Leid.
 
N

nachtlichter

Gast
Hallo Pablo,

Du hast die Stadtstreicherin vor meinen Augen lebendig werden lassen. Ich sehe sie vor mir, wie sie in staubige Altkleider gehüllt in sich versunken zu ihrem schäbiges Taglager humpelt.

Gut gelungen!

nachtlichter
 

pablo

Mitglied
Liebe Regina,

vielen Dank für Kommentar und Bewertung.

Es sind die Gestrandeten, die Fürsten in Lumpen und Loden, in deren Augen sich Weisheit und Wissen um den raschen Wechsel des launischen Schicksals spiegelt.
Die Verabschiedung aus den vorgegebenen Normen der Gesellschaft muss nicht zwangsläufig den Verlust von Würde und Stolz nach sich ziehen.

Herzlichst
Pablo
 

nisavi

Mitglied
hallo pablo, ein schöner, sehr menschlicher text, den ich mir gut in kombination mit einer schwarz-weiß-aufnahme vorstellen könnte.
erinnert mich ein wenig an "streets of london" von ralph mctell.

lg

n.
 
N

nachtlichter

Gast
Hallo nisavi,

"...Have you seen the old girl who walks the streets of London
Dirt in her hair and her clothes in rags
shes no time for talking she just keeps right on walking
Carrying her home in two carrier bags..."

das könnte sie sein - "Streets of London" ist eine gute Assoziation mit pablos Gedicht - ich glaube, ich schreibe meine schon seit Jahren unvollendete Geschichte über einen Obdachlosen doch weiter...

Liebe Grüße
nachtlichter
 

pablo

Mitglied
Liebe Regina, liebe nisavi,

über eure Kommentare habe ich mich sehr gefreut.

Den Song kannte ich bisher leider noch nicht. Aber die von dir, liebe Regina, zitierten Zeilen berühren mich.
Believe me, the "Streets of London" are everywhere. Look around you and you will see the face of that old girl in your own town.

Prima, dass dich, liebe Regina, mein Gedicht dazu angeregt hat, deine seit Jahren unvollendete Geschichte über einen Obdachlosen weiterzuschreiben. Ich bin schon sehr gespannt darauf.

Liebe Grüße an euch beide
Pablo
 
D

dockanay

Gast
lieber pablo,

Ihr Zepter: der Krückstock.
Die Krone: das Leid.
das thema ist durchgehend beherrscht. ich fühlte mich in der heimat meiner jugend. und der abschluss ist sprachlich absolut gelungen.
ein gedicht für das herz. wunderschön.

lg dockanay
 
B

Burana

Gast
Hallo Pablo - das ist Dir wirklich gelungen!
Liebe Grüße, Burana
 
pablo, sehr anrührig,

dein gedicht ist durch seine nüchternheit sehr tief in die seele schneidend.

dies hier scheint mir allerdings ein bisschen zu aufgeblasen, wobei ich es in einem gedichtverwertet akzeptieren würde.

Es sind die Gestrandeten, die Fürsten in Lumpen und Loden, in deren Augen sich Weisheit und Wissen um den raschen Wechsel des launischen Schicksals spiegelt.
ich habe selbst aus grosser neugier nicht gescheut mit pennern, dirnen, bettlern und strassenkindern gespräche zu suchen.
sie sind oft sehr erstaunliche menschen, erst recht wenn sie noch nicht lange auf der strasse leben. die meisten scheitern wirklich an ihren gegebenen umständen.
doch letztendlich hat sich ein jeder für sein leben in dieser form entschieden. irgendwann bleibt das gefühl für würde auf der strecke, es geht nur noch ums nackte überleben. gefressen oder gefressen werden, knallhart.
hast du übersehen das sich dieses menschen nicht selten gegenseitig die letzten habseligkeiten klauen? das sie menschen umgeld anbetteln um alkohol zu kaufen, menschen mit zottigen wortenbeschimpfen, wenn ihrer bitte nicht entsprochen wurde?

wir die wir in einigem wohlstand leben, gemessen an dem was ein obdachloser hat, haben da gut reden...aber die realität sollten wir nun dochbei aller lyrik nicht vereiteln.
schlaf gut heike
 

Inu

Mitglied
Hallo Pablo

Du verwendest eine gefährliche Romantisierung. Deine Worte gefallen mir auch. Aber leider malst Du eine Fantasiegestalt. Das ist keine Pennerin, die Frau in Deinen Versen. Wenn Du solche Leute und ihr Leben wirklich kennen würdest, würdest Du wissen: sie leiden wie die Hunde und Krückstöcke sind niemals Zepter und ihr Leid kann nur ein naiver Dichter als Krone empfinden. Sie selbst würden darüber verständnislos den Kopf schütteln.

Liebe Grüße
Inu
 

pablo

Mitglied
Lieber dockanay,

gerade, dass du in meinem Gedicht die Heimat deiner Jugend wiedererkennst und mir bescheinigst, dass ich das Thema durchgehend beherrscht habe, sehe ich als großes Kompliment. Vielen Dank für deine Worte.

Gruß
Pablo
 

pablo

Mitglied
Liebe Burana,

auch dir ein herzliches Dankeschön für deinen freundlichen Kommentar. Es freut mich, dass dir mein Gedicht gefällt.

Liebe Grüße
Pablo
 

pablo

Mitglied
Liebe Meral,

das Lob von einer ganz Großen aus der Leselupe, die ich, wie die meisten anderen, sehr bewundere, ist eine Auszeichnung für mich.

Vielen Dank für Kommentar und Bewertung.

Gruß
Pablo
 

Inu

Mitglied
Dieses Lied z.B:

hat mich als junges Mädchen in den reinsten Euphorie-Schub versetzt
ich finde es auch jetzt noch erträglich, weil es zwar glorifiziert, aber auch die Stadt/Landstreicher-Problematik von all ihren Seiten zeigt. Vielleicht war Dir dieses Gedankengut Vorbild, Pablo?


Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht,
Fürsten in Lumpen und Loden,
Ziehn wir dahin bis das Herze uns steht,
Ehrlos bis unter den Boden.
Fidel Gewand in farbiger Pracht
Trefft keinen Zeisig ihr bunter,
Ob uns auch Speier und Spötter verlacht,
Uns geht die Sonne nicht unter.

Ziehn wir dahin durch Braus und durch Brand,
Klopfen bei Veit und Velten.
Huldiges Herze und helfende Hand
Sind ja so selten, so selten.
Weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß
Immer nur hurtig und munter;
Ob uns der eigene Bruder vergaß,
Uns geht die Sonne nicht unter.

Aber da draußen am Wegesrand,
Dort bei dem König der Dornen.
Klingen die Fiedeln ins weite Land,
Klagen dem Herrn unser Carmen.
Und der Gekrönte sendet im Tau
Tröstende Tränen herunter.
Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau,
Uns geht die Sonne nicht unter.

Bleibt auch dereinst das Herz uns stehn
Niemand wird Tränen uns weinen.
Leis wird der Sturmwind sein Klagelied wehn
Trüber die Sonne wird scheinen.
Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht,
Zügellos drüber und drunter.
Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht,
Uns geht die Sonne nicht unter.

LG
Inu
 

pablo

Mitglied
Liebe Heike und liebe Inu,

ich habe mich sehr gefreut, dass ihr an dem Schicksal der Obdachdachlosen so großen Anteil nehmt.

Romantisieren will ich mit meinem Gedicht ganz und gar nicht, eher das Gegenteil.

Ich glaube, es kommt sehr gut rüber, dass die "Straßenfürstin" wie "ein Hund leidet". Sie trägt die Krone des Leids wie Jesus Christus seine Dornenkrone und den Stolz und ihre Ehre hat sie sich, trotz des erbärmlichen Daseins, nicht nehmen lassen. Dafür bewundere ich sie.

Ja, liebe Inu, es waren die wilden Gesellen, jene Fürsten in Lumpen und Loden, die mich inspirierten, diese Zeilen zu schreiben.

Ich habe gerade herumgegoogelt, um den vollständigen Text in die LL setzen zu können. Du bist mir um wenige Augenblicke zuvorgekommen und deshalb bedanke ich mich ganz herzlich für deine Mühe.

Ich wünsche euch beiden einen schönen Tag und hoffe, dass keiner von uns je in eine solche Lage gerät, denn niemand weiß, wohin ihn der raue Wind des Schicksals noch weht.

Gruß
Pablo
 

Astrid

Mitglied
Hallo Pablo

Diese Stadtstreicherin berührt, ich sehe sie nicht nur vor mir, sie kriecht mir förmlich unter die Haut. Bei diesem "Thema" bestünde vielleicht die Gefahr, plakativ zu werden, nichts Neues mehr zu schreiben. Ich finde, in diese "Falle" bist du nicht getappt. Am Meisten mag ich ... brachten ihr die Jugend zurück, heute Nacht für ein paar Stunden/vielleicht sind die beiden Zeilen danach nicht unbedingt notwendig, denn in diesen "Stunden der Jugend" liegt doch alles drin.?

Wunderbar finde ich "ihr Reich aus Straßensilber und Wermutgold". Ja sie ist eine Asphaltfürstin und sie hinterlässt eine Spur und vielleicht sogar einen anderen Blick, wenn uns wieder eine Fürstin oder ein Fürst begegnet. Danke dafür.
Astrid
 

pablo

Mitglied
Hallo Astrid,

schön, dass dich die "Stadtstreicherin" ebenfalls berührt.

Ich habe auch überlegt, ob die beiden Zeilen wirklich unbedingt notwendig sind, glaubte, die Aussage sei vielleicht doppelt gemoppelt. Jedoch es wäre ja durchaus möglich, dass ihre Jugend bereits ebenso von Leid und Elend geprägt war wie die Gegenwart. Da sie allerdings damals bessere Zeiten erlebt hat, habe ich die beiden Zeilen hinzugefügt (um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen).

Vielen Dank für deinen Kommentar und das aufmerksame Lesen.

Liebe Grüße
Pablo
 

Astrid

Mitglied
Hallo Pablo

jetzt habe ich mir diese Zeilen noch einmal angesehen. Ich kann deine Überlegungen nachvollziehen. Warum ich es so empfand, dass die beiden letzten Zeilen überflüssig sein könnten war, dass für mich dieses "brachte ihr die Jugend zurück... für ein paar Stunden" wie eine angenehme Erinnerung klang, als wäre sie glücklich für ein paar Stunden. Aber ich will darauf nun auch nicht rumreiten, sie machen dein Gedicht nicht kaputt und darum höre ich jetzt auch auf, zu "labern", bevor ich das womöglich noch tue. Dafür hat es mich zu sehr berührt.
Herzliche Grüße
Astrid
 



 
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