Die Stautheorie

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Frederik

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Die Stautheorie
Es war einer dieser Sommertage an denen die Bevölkerung nur sehr langsam trinken konnte. Eine schnelle Schluckbewegung hätte jeden Durstenden so sehr ins Schwitzen gebracht, dass er mehr Flüssigkeit verloren als aufgenommen hätte. An eben diesen Tag lief alles schief. Ich stolperte aus dem Bett, nur weil mein Vermieter penetrant eine Viertelstunde lang klingelte. Als Nächstes schrie er mich etwa eine halbe Stunde ausgiebig an. Ich kann nicht genau rekonstruieren, worum es ging, schließlich war es gerade einmal neun Uhr. Es fielen jedenfalls immer wieder die Worte „drei Monate“, „Mietrückstand“ und „so kann es nicht weitergehen“. Gerade er als Arzt dürfte an eine quartalsweise Abrechnung gewöhnt sein.

Der Morgen ging ähnlich weiter: Frühstücksmilch schlecht, Orangensaft umgekippt, Hemd an der Türklinke aufgerissen. In der passenden Stimmung für einen Amoklauf, verließ ich das Haus. Vielleicht konnte ich bei einem Spaziergang abkühlen. Ich konnte nicht. Sogar den Grillen war es zu heiß zum zirpen. In diesem Moment traf ich Tolle.

Ich sollte Tolle erst einmal vorstellen. Tolle ist ein guter Freund, dessen Name seinen Ursprung in der Anordnung seiner Frisur findet. Er ist ein Lebenskünstler, weiß auf alles eine Antwort und fürchtet fast Nichts. Ein Schlitzohr mit einem Hang zum Unkonventionellen, wobei seine Lösungsansätze einer gewissen Genialität nicht ermangeln. So könnte sein Steckbrief formuliert werden.

Tolle strahlte über das Gesicht, sah erholt und zufrieden aus.
„Wie kannst du an einem solchen Tag derart gut gelaunt sein?“, fragte ich vorwurfsvoll.
„Mir ging es heute Morgen auch nicht gut, also habe ich die A 1 Methode praktiziert. Mit Erfolg, wie immer. Es war einfach eine tolle Idee!“, lächelte er.
„Deine Tolle-Ideen kenne ich. A 1 Methode? Was ist das nun wieder?“, fauchte ich, während ich den Schweiß aus meinen Schuhen goss.
„Komm wir gehen zu deinem Auto, ich erkläre es dir unterwegs.“

So saßen wir in einem dunklen Wagen ohne Klimaanlage. Ungehalten erkundigte ich mich nach der Richtung.
„Wir fahren auf die Autobahn A 1, die Zeit ist günstig.“
Ich konnte es nicht glauben. Auf die A 1, an einem Freitag. Das musste innerhalb kürzester Zeit in einem Stau enden.
„Wir werden nicht weit kommen, kennst keinen anderen Weg?“, gab ich zu bedenken.
„Wir wollen auch nicht weit. Der Weg ist das Ziel. Gleich erreichen wir einen wunderbaren Stau. Dort angekommen, werden wir unaufmerksame Autofahrer beschimpfen. PKW Lenker, die nicht schnell genug aufschließen werden mit einem bösen Blick von rechts auf der Standspur überholt. Ferner musst du den Therapieopfern klar machen, dass deine Hupe die Lauteste und deine Lichthupe die Hellste ist. In jedem Fall musst du zwischendurch gemeine Flüche und Beleidigungen aus dem Fenster rufen.“

Ich schluckte. „Das kann doch nicht ernstgemeint sein. Ich fahre auf die A 1, um in einem Stau zu stehen?“
„Red´ keinen Unsinn. Wir stehen nicht in einem Stau. Du wirst uns rücksichtslos hindurchschlängeln, wobei wir übel fluchen werden. Das lässt so richtig Dampf ab. Glaub` mir, das ist ein willkommenes Ventil. Was meinst du wie die Kubakrise gelöst wurde? Präsident Chruschtschow wurde kurz vor Ablauf des Ultimatums einfach in einen künstlich erzeugten Stau geleitet. Nach einer halben Stunde wilden Fluchens war er so entspannt und ausgewogen, dass er seine Raketen schmunzelnd aus Kuba abzog.“

Tolle argumentierte weiter. „Weshalb immer wieder der Führerschein ab siebzehn Jahre im Gespräch ist? Die Regierung will so die Jugendgewalt in den Griff bekommen. Künstlich erzeugte Staus sind inzwischen unverzichtbares Regierungswerkzeug. Oder, was glaubst du passiert während einer Inflation? Die Regierung regt die Gewerkschaften über einen Strohmann an, höhere Löhne im Einzelhandel zu erkämpfen. Der Einzelhandel sieht sich gezwungen Personal zu entlassen und es entstehen Staus an den Kassen. Der Einkaufende ärgert sich, fährt dem Vordermann in die Hacken, schimpft über Rentner, die nach Feierabend noch einkaufen müssen oder schreit einen Vordrängler an. Stolz erzählt er zu Hause, wie er dem Kontrahenten Saueres gegeben hat und ... fühlt sich gut. Niemand denkt mehr an die inflationsbedingt gestiegenen Preise und die Regierung hat bessere Chancen wieder gewählt zu werden... OK, wir sind da!“ Tolle zeigte auf ein Stauanfang, wenige hundert Meter vor uns.

Die Stautheorie klang irgendwie überzeugend, zumindest im Inneren eines auf siebzig Grad aufgeheizten Fahrzeugs. Was die Anspannung zwischen der damaligen UdSSR und USA lösen konnte, sollte auch mir helfen können.

Ich blieb erst gar nicht stehen, sondern überholte die ersten fünf Fahrzeuge über die Standspur, dann nutzte ich eine Lücke, um auf die Mittelspur zu wechseln. Natürlich nicht ohne den zu spät Aufschließenden als träumenden Sonntagsfahrer zu beschimpfen. Wild hupend bedrängte ich einen Golffahrer und zeigte ihm einen Vogel, während ich seinen Außenspiegel abfuhr. Die Insassen rissen ängstlich eingeschüchtert ihre Augen auf. Geschieht ihnen recht! Schließlich legitimiert ein Fahrschulschild nicht dazu blöd im Weg zu stehen. „Straßenterrorist, Schlaftablette, Witzfigur“ waren meine Lieblingsvokabeln in der nächsten halben Stunde. Dann nahmen wir die Abfahrt, um über die Landstraße nach Hause zu gelangen. Immerhin waren wir inzwischen im Verkehrsfunk.

Nachdem mein Adrenalinspiegel gesunken war, fühlte ich mich herrlich entspannt, um nicht zu sagen losgelöst. Nächste Woche bekomme ich meinen Steuerbescheid, dann wollen wir auf die A 30, da soll es eine Großbaustelle mit Fahrbahnverengungen geben.
 



 
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