Die Straße

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Krom

Mitglied
Daniel Schenkel
danielc.schenkel@web.de

Guten Tag zusammen,

dies ist mein erster Beitrag für Leselupe, ein bisher unveröffentlichter Text. Ich hoffe, ich habe ihn im richtigen Forum gepostet. Falls nicht, einfach verschieben.



Die Grenze


Is it any wonder I can’t sleep?
Smashing Pumpkins


Wir treffen uns im Cafe. Carsten, Gon, Peter und ich.
Wir haben in diesen Tagen nur wenig zu tun und davon sind wir erschöpft; das Cafe mit seinen endlosen Nachmittagen und den immer gleichen Gesprächen ist unsere letzte Zuflucht.
Heute jedoch hat Carsten eine Idee. Er habe, behauptet er, eine Möglichkeit gefunden, dem ewigen Grau zu entfliehen.
„Einfache Sache, aber dabei könnte was rumkommen“, sagt er.
Was wir dafür tun müssen?
Wir müssen die Grenze überqueren, auf der anderen Seite etwas abholen und dieses Etwas in die Stadt bringen. Alles ganz einfach, wenn man Carsten glaubt.
„Klingt zweifelhaft“, sagt Peter.
Ich teile seine Bedenken. Es existieren Regeln, die jeder Stadtbewohner beachten muss; unausgesprochene und ungeschriebene und doch äußerst strenge Regeln.
„Ihr müsst euch keine Gedanken machen“, sagt Carsten. „Wir werden keinen Verstoß begehen, das versichere ich euch.“
Ich sehe aus dem Fenster, betrachte die Menschen auf der Straße. Sie tun Dinge, die mich nichts angehen und mich nicht interessieren, hier gibt es nichts für mich und für die anderen auch nicht. Möglicherweise ist dies unsere letzte Chance, dem Grau den Rücken zu kehren und sei es nur für kurze Zeit.
Also aus der Stadt.
Ein Auto mieten.
Über die Grenze fahren.
Bei Nacht.
Wenn das Scheinwerferlicht den Asphalt erhellt und die Büsche am Straßenrand nur Ahnungen sind. Wenn wir schweigend im Wagen sitzen, weil wir schon lange kleine Lust mehr zu reden haben und wenn die Stadt zu einer verschwommenen Erinnerung geworden ist, unwirklicher als jeder Schatten im Gehölz.
Carsten als Fahrer, Gon als Beifahrer, Peter und ich auf dem Rücksitz.
Hinter der Grenze wird der Radioempfang rasch schlechter. Bald fließt nur noch Knistern aus den Lautsprechern, Kurzwellenechos in dem Stimmen oder Musik bestenfalls zu erahnen sind.
„Versteht das jemand?“, fragt Peter. „Was soll das alles?“
Niemand antwortet ihm.
Die Abzweigung kommt so plötzlich, dass Carsten das Steuer herumreißen muss. Die ruckartige Bewegung schleudert mich zur Seite und ich ramme Peter meinen Ellenbogen in den Magen.
„Pass doch auf, verdammt noch mal.“
„Tut mir leid.“
Der Wagen hüpft über Schlaglöcher und das Scheinwerferlicht zittert. Bald erreichen wir einen quadratischen Betonbau ohne Fenster.
KALYPSO – MÄDCHEN UND MEHR
steht auf einem Neonschild über dem Eingang.
Unser Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz.
Drinnen erwarten uns dämmrige Beleuchtung und so leise Musik, dass sich ihre Unverständlichkeit nicht vom Geflüster des Radios unterscheidet.
Stühle und schmale Tische stehen in Nischen. In der Raummitte erhebt sich eine Bühne mit einem Standmikrofon.
An der Bar lehnt ein Mann in einem dunklen Anzug; außer ihm und uns ist niemand hier.
„Warum sind keine Mädchen da?“ Gon klingt enttäuscht.
Der Anzugmann winkt uns zu sich.
„Schön Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten herzukommen. Heutzutage kann man die Grenze ja nicht mehr so einfach überqueren.“
„Haben Sie heute geschlossen?“, will ich wissen.
Die Leblosigkeit des Raumes, der so offenkundig für eine große Menschenmenge ausgelegt ist, gibt mir ein ungutes Gefühl.
Der Anzugmann lächelt. „Sie missverstehen die Situation. Tatsächlich drängen sich heute Abend die Leute; sie steigen einander auf die Füße, so wenig Platz ist vorhanden. Die Sängerin auf der Bühne trägt ihr blondes Haar offen und ihr Lied, vorgetragen mit kristallklarer Stimme - ein bisschen traurig und dabei doch kraftvoll - rührt uns alle zu Tränen. Schweiß, Parfüm und Zigarettenqualm tränken die Luft. Man darf bei uns noch rauchen, müssen Sie wissen.“
Ich sehe mich um und immer noch sind wir alleine. Da ist keine Sängerin und da ist auch kein Lied.
„So ein Blödsinn.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Der Anzugmann greift hinter die Theke und holt einen Koffer hervor.
Carsten nimmt ihn entgegen.
„Das ist alles, was Sie brauchen“, sagt der Anzugmann.
„Was ist da drin?“, fragt Peter. „Sie müssen uns wenigstens sagen, was da drin ist. Immerhin fahren wir damit in die Stadt zurück.“
Der Anzugmann lächelt wieder und schüttelt den Kopf. „Wie ich schon sagte, ist dies ein Missverständnis Ihrerseits. Aber das würde nun wirklich zu weit führen und die Nacht wird immer dunkler. Es wird besser sein, sie machen sich auf den Weg.“
Wir haben die Türschwelle gerade überschritten, als Gon stehen bleibt und die Augen aufreißt.
„Ich sehe es. Ich kann alles sehen.“ Seine Stimme klingt schrill und kippt über. Tränen laufen über seine Wangen. „Die Leute drängen sich. Sie stehen Schlange vor dem Eingang und sogar auf dem Parkplatz sind jede Menge Menschen. Ich kann auch die Sängerin auf der Bühne hören, sogar hier draußen kann ich sie hören. Sie singt wirklich wunderschön. Jetzt verstehe ich, warum die Zuhörer von so weit her kommen.
Ich will noch nicht gehen. Ich will abwarten, nur ein ganz klein wenig. Vielleicht singt sie ja noch ein weiteres Lied für uns, das wäre doch möglich.“
Wir steigen in den Wagen und Gon bleibt vor dem Eingang des Betonbaus zurück.
Ich winke ihm zum Abschied. Er erwidert meinen Gruß und scheint ganz alleine in der Nacht glücklich zu sein.
Wieder fahren wir über den Schlaglochweg. Wieder hüpft das Scheinwerferlicht über den Asphalt. Die scharfe Kurve, unsere Reifen quietschen und wir sind auf der Hauptstraße.
Carsten versucht erst gar nicht, das Radio in Gang zu bringen.
Peter rutscht vor unterdrückter Nervosität hin und her. „Ich will endlich wissen, was in dem Ding drin ist.“
Der Koffer steht zwischen Carstens Knien, gerade so balanciert, dass unserem Fahrer genug Platz bleibt, die Pedale zu bedienen.
„Wir dürfen ihn nicht öffnen“, sagt Carsten. „Das wäre ein schwerwiegender Verstoß.“
„Aber ich muss wissen, was da drin ist, verdammt noch mal.“
„Das können wir nicht machen“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt sofort an.“ Peter spuckt vor Aufregung Speicheltröpfchen und eines trifft mich am Ohr.
„Wir halten jetzt nicht“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt an oder ich flipp aus. Mir ist schlecht, verdammt. Halt an.“
„Also gut.“ Carsten fährt an den Straßenrand.
„Gib mir das Scheißding. Gib ´s mir.“
Peter greift zwischen Carstens Beinen hindurch und packt den Koffer. Bevor Carsten reagieren kann, reißt er die Wagentür auf. Er springt in die Nacht.
„Vollidiot. Trottel.“ Carsten hechtet ebenfalls hinaus. „Du brockst uns Riesenärger ein, du Trottel.“
Sie stürmen die Straße entlang, tolle Hunde, die einander jagen.
Ich bleibe sitzen, bis beider Silhouetten zu Schemen verschmolzen sind, dann verlasse auch ich den Wagen.
Carsten hat den Motor abgestellt. Als ich die Straße hinuntergehe, sind meine Schritte das einzige Geräusch.
Nach kurzem Weg treffe ich meine Begleiter wieder. Sie stehen sich gegenüber, wenig mehr als Scherenschnitte, statuenhaft stumm, der Koffer zwischen ihnen.
„Habt ihr genug?“, will ich wissen.
„Du missverstehst die Situation“, sagt Carsten.
„In diesem Raum drängen sich die Menschen“, sagt Peter.
„Da war überhaupt keiner.“ Ich schreie, so wütend bin ich. „In dem ganzen Laden war keiner und der Parkplatz war ebenfalls leer. Wenn jemand etwas anders behauptet, dann lügt er. Die Geschichte ist eine Lüge und zwar vom Anfang bis zum Ende.“
Peter schüttelt den Kopf. „Auch vor dem Eingang und auf dem Parkplatz sind Leute. Sie stehen Schlange, um hereinzukommen. Willst du das nicht sehen?“
„Hier darf man noch rauchen.“ Carsten zieht eine Schachtel aus seiner Jackentasche und zündet sich eine Zigarette an. „Wenigstens das musst du anerkennen.“
„Das Lied klingt wunderschön und es gibt stehenden Applaus“, sagt Peter. „Ich bin so froh, hergekommen zu sein und dieses Lied gehört zu haben.“
Ich bücke mich. Öffne den Koffer. Eine Pistole liegt darin, ihr Knauf liegt kalt in meiner Hand.
Carsten und Peter stürzen auf den Asphalt. Ihre Gesichter erstarren zu Totenmasken und um ihre Köpfe bilden sich schwarze Pfützen. Menschenpuppen, deren Fäden ich durchtrennt habe.
Das Lied ist zu Ende.
Mit Koffer und Pistole kehre ich zum Wagen zurück.

***

Im Cafe sind unsere Stammplätze leer. Ich bestelle ein Bier und warte.
Nach einiger Zeit kommt Carsten durch die Tür.
„Wie geht’s denn so?“ frage ich.
„Könnte besser sein.“ Er setzt sich mir gegenüber.
Wir bleiben zu zweit. Peter ist krank und Gon hat irgendetwas mit einem Mädchen.
„Es gibt da so eine Sache“, sagt Carsten. „So eine Sache hinter der Grenze. Eine Gelegenheit für uns, verstehst du?“
„Das wird nichts. Nicht mit mir, tut mir sehr leid.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Es wäre gegen die Regeln.“
„Ist das alles, was du dazu sagen kannst?“
„Das ist mehr als genug.“
„Du willst mir nicht helfen?“
„Auf keinen Fall.“
Carsten verlässt das Cafe ohne ein Abschiedswort. Durch das Fenster sehe ich ihn mit hängenden Schultern den Bürgersteig entlangschlurfen. Seine Enttäuschung drückt ihn nieder.
In dieser Stadt, wo das Banale schon vor langer Zeit die Macht übernommen hat, verrinnt unsere Lebenszeit. Mit jedem Tag kommt uns ein klein wenig mehr abhanden und in einer nicht allzu fernen Zukunft werden wir lediglich Hülsen sein, bar aller Ambitionen und Leidenschaft.
Lange beobachte ich die Straße, ohne sie zu sehen. Ich denke an die Grenze und an das, was dahinter auf uns warten mag.
 
A

Architheutis

Gast
Hallo und willkommen auf der Leselupe.

Puhh, selten ein anstrengenderes Erstlingswerk hier gesichtet.

Isoliert betrachtet finde ich, dass du eigentlich gekonnt schreiben kannst. Du verwendest viele Hauptsätze, hauchst ihnen durch viele aktive Verben Leben ein und meidest Füllwörter. Eigentlich ist dein Stil damit prädestiniert, deinem Leser einen gut verständlichen Text zu gönnen.

Jetzt kommt das Aber:

Ich musste mich hart durch deinen Text kämpfen. Es ist sicher Absicht, dass du ständig Sprünge machst und nicht verrätst, wohin du als nächstes springst. Der Text hat etwas von einer Collage einzelner Fragmente. Jedes Fragment bleibt unscharf, die Gesamtschau bleibt daher diffus.

Ich hatte bei jedem Satz das Gefühl, etwas zu lesen, dass ich für mein Verständnis nicht benötige. Der Text ist geradezu eine permanente Androhung der Bedeutungslosigkeit. Zum Glück bleibt es m.E. bei der Androhung.

Ich finde deinen Text aber interessant, da er doch vom Einheitsbrei erheblich abweicht, ohne dass es gekünstelt wirkte.

Du lässt mich aber mit der Empfindung zurück, dass deinem Text irgendwas fehlte. Ich kann für mich kein "Ergebnis" ziehen, ich hänge im luftleeren Raum. Es wird hierauf sicher wieder jemand antworten, dass dies doch in der Literatur Geltung hat. Mag sein, ich brauche aber etwas handfestes, eine Orientierung. Ich bin auf die Deutungen und Meinungen anderer gespannt. Vielleicht bin ich auch nur wieder zu lahm im Kopf.

Etwas holprig finde ich den Schluß. Ich dachte, Carsten sei per Kopfschuß ins Jenseits befördert. Stattdessen taucht er im Schlußabsatz wieder im Cafe auf. Hier überziehst du es meiner Meinung nach mit der diffusen Doppeldeutung der Handlungen.

Ich würde gerne mal etwas von dir lesen, dass etwas leichter erzählt und mich weniger quält. Ich glaube nämlich, dass dein gekonnter Stil dir eine Tür öffnet, ein richtig guter Erzähler zu werden.

In diesem Sinne, lass bald was von dir sehen. :)

Gruß,
Archi
 

Krom

Mitglied
Hallo Archi,

vielen Dank, dass Du Dich mit meinem Text beschäftigt hast und schön, dass Dir mein Sprachstil gefallen hat.

Die Unschärfe der Handlung, die Dir aufgefallen ist, war tatsächlich die Hauptintention für diese Geschichte. Ich möchte nicht allzu viel erklären, da das dem Sinn des Textes zuwiderlaufen würde. Aber als Hinweis kann ich geben, dass im Text sehr oft von einer Grenze die Rede ist und Grenzen müssen nicht zwangsläufig räumliche Grenzen sein.

Man könnte sich auch die Frage stellen, ob der Erzähler das Cafe jemals verlassen hat oder ob die Geschichte linear erzählt wurde.

Habe ich schon erwähnt, dass ich ein großer Anhänger von David Lynch bin?


Zum Schluss nochmals vielen Dank und bis auf Weiteres viele Grüße,

Krom
 

Krom

Mitglied
Daniel Schenkel
danielc.schenkel@web.de

Guten Tag zusammen,

dies ist mein erster Beitrag für Leselupe, ein bisher unveröffentlichter Text. Ich hoffe, ich habe ihn im richtigen Forum gepostet. Falls nicht, einfach verschieben.



Die Straße


Is it any wonder I can’t sleep?
Smashing Pumpkins


Wir treffen uns im Cafe. Carsten, Gon, Peter und ich.
Wir haben in diesen Tagen nur wenig zu tun und davon sind wir erschöpft; das Cafe mit seinen endlosen Nachmittagen und den immer gleichen Gesprächen ist unsere letzte Zuflucht.
Heute jedoch hat Carsten eine Idee. Er habe, behauptet er, eine Möglichkeit gefunden, dem ewigen Grau zu entfliehen.
„Einfache Sache, aber dabei könnte was rumkommen“, sagt er.
Was wir dafür tun müssen?
Wir müssen die Grenze überqueren, auf der anderen Seite etwas abholen und dieses Etwas in die Stadt bringen. Alles ganz einfach, wenn man Carsten glaubt.
„Klingt zweifelhaft“, sagt Peter.
Ich teile seine Bedenken. Es existieren Regeln, die jeder Stadtbewohner beachten muss; unausgesprochene und ungeschriebene und doch äußerst strenge Regeln.
„Ihr müsst euch keine Gedanken machen“, sagt Carsten. „Wir werden keinen Verstoß begehen, das versichere ich euch.“
Ich sehe aus dem Fenster, betrachte die Menschen auf der Straße. Sie tun Dinge, die mich nichts angehen und mich nicht interessieren, hier gibt es nichts für mich und für die anderen auch nicht. Möglicherweise ist dies unsere letzte Chance, dem Grau den Rücken zu kehren und sei es nur für kurze Zeit.
Also aus der Stadt.
Ein Auto mieten.
Über die Grenze fahren.
Bei Nacht.
Wenn das Scheinwerferlicht den Asphalt erhellt und die Büsche am Straßenrand nur Ahnungen sind. Wenn wir schweigend im Wagen sitzen, weil wir schon lange kleine Lust mehr zu reden haben und wenn die Stadt zu einer verschwommenen Erinnerung geworden ist, unwirklicher als jeder Schatten im Gehölz.
Carsten als Fahrer, Gon als Beifahrer, Peter und ich auf dem Rücksitz.
Hinter der Grenze wird der Radioempfang rasch schlechter. Bald fließt nur noch Knistern aus den Lautsprechern, Kurzwellenechos in dem Stimmen oder Musik bestenfalls zu erahnen sind.
„Versteht das jemand?“, fragt Peter. „Was soll das alles?“
Niemand antwortet ihm.
Die Abzweigung kommt so plötzlich, dass Carsten das Steuer herumreißen muss. Die ruckartige Bewegung schleudert mich zur Seite und ich ramme Peter meinen Ellenbogen in den Magen.
„Pass doch auf, verdammt noch mal.“
„Tut mir leid.“
Der Wagen hüpft über Schlaglöcher und das Scheinwerferlicht zittert. Bald erreichen wir einen quadratischen Betonbau ohne Fenster.
KALYPSO – MÄDCHEN UND MEHR
steht auf einem Neonschild über dem Eingang.
Unser Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz.
Drinnen erwarten uns dämmrige Beleuchtung und so leise Musik, dass sich ihre Unverständlichkeit nicht vom Geflüster des Radios unterscheidet.
Stühle und schmale Tische stehen in Nischen. In der Raummitte erhebt sich eine Bühne mit einem Standmikrofon.
An der Bar lehnt ein Mann in einem dunklen Anzug; außer ihm und uns ist niemand hier.
„Warum sind keine Mädchen da?“ Gon klingt enttäuscht.
Der Anzugmann winkt uns zu sich.
„Schön Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten herzukommen. Heutzutage kann man die Grenze ja nicht mehr so einfach überqueren.“
„Haben Sie heute geschlossen?“, will ich wissen.
Die Leblosigkeit des Raumes, der so offenkundig für eine große Menschenmenge ausgelegt ist, gibt mir ein ungutes Gefühl.
Der Anzugmann lächelt. „Sie missverstehen die Situation. Tatsächlich drängen sich heute Abend die Leute; sie steigen einander auf die Füße, so wenig Platz ist vorhanden. Die Sängerin auf der Bühne trägt ihr blondes Haar offen und ihr Lied, vorgetragen mit kristallklarer Stimme - ein bisschen traurig und dabei doch kraftvoll - rührt uns alle zu Tränen. Schweiß, Parfüm und Zigarettenqualm tränken die Luft. Man darf bei uns noch rauchen, müssen Sie wissen.“
Ich sehe mich um und immer noch sind wir alleine. Da ist keine Sängerin und da ist auch kein Lied.
„So ein Blödsinn.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Der Anzugmann greift hinter die Theke und holt einen Koffer hervor.
Carsten nimmt ihn entgegen.
„Das ist alles, was Sie brauchen“, sagt der Anzugmann.
„Was ist da drin?“, fragt Peter. „Sie müssen uns wenigstens sagen, was da drin ist. Immerhin fahren wir damit in die Stadt zurück.“
Der Anzugmann lächelt wieder und schüttelt den Kopf. „Wie ich schon sagte, ist dies ein Missverständnis Ihrerseits. Aber das würde nun wirklich zu weit führen und die Nacht wird immer dunkler. Es wird besser sein, sie machen sich auf den Weg.“
Wir haben die Türschwelle gerade überschritten, als Gon stehen bleibt und die Augen aufreißt.
„Ich sehe es. Ich kann alles sehen.“ Seine Stimme klingt schrill und kippt über. Tränen laufen über seine Wangen. „Die Leute drängen sich. Sie stehen Schlange vor dem Eingang und sogar auf dem Parkplatz sind jede Menge Menschen. Ich kann auch die Sängerin auf der Bühne hören, sogar hier draußen kann ich sie hören. Sie singt wirklich wunderschön. Jetzt verstehe ich, warum die Zuhörer von so weit her kommen.
Ich will noch nicht gehen. Ich will abwarten, nur ein ganz klein wenig. Vielleicht singt sie ja noch ein weiteres Lied für uns, das wäre doch möglich.“
Wir steigen in den Wagen und Gon bleibt vor dem Eingang des Betonbaus zurück.
Ich winke ihm zum Abschied. Er erwidert meinen Gruß und scheint ganz alleine in der Nacht glücklich zu sein.
Wieder fahren wir über den Schlaglochweg. Wieder hüpft das Scheinwerferlicht über den Asphalt. Die scharfe Kurve, unsere Reifen quietschen und wir sind auf der Hauptstraße.
Carsten versucht erst gar nicht, das Radio in Gang zu bringen.
Peter rutscht vor unterdrückter Nervosität hin und her. „Ich will endlich wissen, was in dem Ding drin ist.“
Der Koffer steht zwischen Carstens Knien, gerade so balanciert, dass unserem Fahrer genug Platz bleibt, die Pedale zu bedienen.
„Wir dürfen ihn nicht öffnen“, sagt Carsten. „Das wäre ein schwerwiegender Verstoß.“
„Aber ich muss wissen, was da drin ist, verdammt noch mal.“
„Das können wir nicht machen“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt sofort an.“ Peter spuckt vor Aufregung Speicheltröpfchen und eines trifft mich am Ohr.
„Wir halten jetzt nicht“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt an oder ich flipp aus. Mir ist schlecht, verdammt. Halt an.“
„Also gut.“ Carsten fährt an den Straßenrand.
„Gib mir das Scheißding. Gib ´s mir.“
Peter greift zwischen Carstens Beinen hindurch und packt den Koffer. Bevor Carsten reagieren kann, reißt er die Wagentür auf. Er springt in die Nacht.
„Vollidiot. Trottel.“ Carsten hechtet ebenfalls hinaus. „Du brockst uns Riesenärger ein, du Trottel.“
Sie stürmen die Straße entlang, tolle Hunde, die einander jagen.
Ich bleibe sitzen, bis beider Silhouetten zu Schemen verschmolzen sind, dann verlasse auch ich den Wagen.
Carsten hat den Motor abgestellt. Als ich die Straße hinuntergehe, sind meine Schritte das einzige Geräusch.
Nach kurzem Weg treffe ich meine Begleiter wieder. Sie stehen sich gegenüber, wenig mehr als Scherenschnitte, statuenhaft stumm, der Koffer zwischen ihnen.
„Habt ihr genug?“, will ich wissen.
„Du missverstehst die Situation“, sagt Carsten.
„In diesem Raum drängen sich die Menschen“, sagt Peter.
„Da war überhaupt keiner.“ Ich schreie, so wütend bin ich. „In dem ganzen Laden war keiner und der Parkplatz war ebenfalls leer. Wenn jemand etwas anders behauptet, dann lügt er. Die Geschichte ist eine Lüge und zwar vom Anfang bis zum Ende.“
Peter schüttelt den Kopf. „Auch vor dem Eingang und auf dem Parkplatz sind Leute. Sie stehen Schlange, um hereinzukommen. Willst du das nicht sehen?“
„Hier darf man noch rauchen.“ Carsten zieht eine Schachtel aus seiner Jackentasche und zündet sich eine Zigarette an. „Wenigstens das musst du anerkennen.“
„Das Lied klingt wunderschön und es gibt stehenden Applaus“, sagt Peter. „Ich bin so froh, hergekommen zu sein und dieses Lied gehört zu haben.“
Ich bücke mich. Öffne den Koffer. Eine Pistole liegt darin, ihr Knauf liegt kalt in meiner Hand.
Carsten und Peter stürzen auf den Asphalt. Ihre Gesichter erstarren zu Totenmasken und um ihre Köpfe bilden sich schwarze Pfützen. Menschenpuppen, deren Fäden ich durchtrennt habe.
Das Lied ist zu Ende.
Mit Koffer und Pistole kehre ich zum Wagen zurück.

***

Im Cafe sind unsere Stammplätze leer. Ich bestelle ein Bier und warte.
Nach einiger Zeit kommt Carsten durch die Tür.
„Wie geht’s denn so?“ frage ich.
„Könnte besser sein.“ Er setzt sich mir gegenüber.
Wir bleiben zu zweit. Peter ist krank und Gon hat irgendetwas mit einem Mädchen.
„Es gibt da so eine Sache“, sagt Carsten. „So eine Sache hinter der Grenze. Eine Gelegenheit für uns, verstehst du?“
„Das wird nichts. Nicht mit mir, tut mir sehr leid.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Es wäre gegen die Regeln.“
„Ist das alles, was du dazu sagen kannst?“
„Das ist mehr als genug.“
„Du willst mir nicht helfen?“
„Auf keinen Fall.“
Carsten verlässt das Cafe ohne ein Abschiedswort. Durch das Fenster sehe ich ihn mit hängenden Schultern den Bürgersteig entlangschlurfen. Seine Enttäuschung drückt ihn nieder.
In dieser Stadt, wo das Banale schon vor langer Zeit die Macht übernommen hat, verrinnt unsere Lebenszeit. Mit jedem Tag kommt uns ein klein wenig mehr abhanden und in einer nicht allzu fernen Zukunft werden wir lediglich Hülsen sein, bar aller Ambitionen und Leidenschaft.
Lange beobachte ich die Straße, ohne sie zu sehen. Ich denke an die Grenze und an das, was dahinter auf uns warten mag.
 
A

Architheutis

Gast
Hallo Krom,

Handlungen dürfen unscharf bleiben, Sprünge sind ein gängiges Stilmittel - alles kein Ding. Der Leser braucht aber kleine Möglichkeiten, sich an der Geschichte entlanghangeln zu können.

Die Gefahr dieses Stils ist klar: Entweder, man schreibt so flach, dass sämtlich Ecken und Kanten fehlen, an denen der Leser Halt finden könnte. Oder die Handlung springt immer tiefer ins Dunkel, und der Leser findet sie nicht mehr wieder.

Beide Gefahren hast du umschifft. Die Grenz(-erfahrung) nimmt man schon mit, unabhängig von Zeit und Raum. Mir fehlt aber sowas wie eine Schlußfolgerung. Ich stelle mir beim lesen unbewusst die Testfrage "Der Protagonist sondiert/verliert Grenzen, daher/das hat die Folgen...". Ich würde mein Problem gerne genauer schildern, allein mir fehlen die Worte. Mag welche geben, denen es nicht abgefahren genug sein kann; ich gehöre nicht dazu.

Probleme habe ich mit Ansätzen wie "ich wollte mal was schreiben wie..."; das kann nur in die Hose gehen. Dein Stil öffnet dir eigene Türen, mach was draus. Niemand sieht die Welt mit deinen Augen, lass uns teil daran haben, wie du die Welt siehst. Darum geht es bei echter Literatur, um nichts sonst. Was anderes hast du nicht nötig und sollte nicht dein Anspruch bleiben. ;-)

Wie gesagt: Ich bin gespannt auf weitere Werke.
 

Lio

Mitglied
Hi Krom,

vor der Lektüre deines Textes habe ich sofort an "The road" von MC Carthy gedacht und mir gedanklich die Hände gerieben. Im Verlauf des Lesens wurde mir aber recht schnell klar, dass deine Handlung nicht direkt etwas mit der Apokalypse zu tun hat. Ich hage mich dann gefragt, ob ich mir überhaupt die Mühe machen will über ihn nachzudenken, tue es hiermit jetzt aber doch.

Erstens Mal, du kannst gut erzählen. Das hat mein Vorredner ja schon gesagt. Das Gleichgewicht Erzählung/Dialog ist ausgeglichen. Die Figurenrede schaltet sich unmittelbar ein, du füllst die Handlung nicht mit unnötigen "sagte er, sagte sie" (das geht mir bei Martin Walser so auf die Nerven). Bis auf ein paar Ausnahmen machen deine Sätze auch alle Sinn. Ausnahmen:

Drinnen erwarten uns dämmrige Beleuchtung und so leise Musik, dass sich ihre Unverständlichkeit nicht vom Geflüster des Radios unterscheidet.Sie sind doch drinnen, wie können sie da noch das RAdio hören?

Der Koffer steht zwischen Carstens Knien, gerade so balanciert, dass unserem Fahrer genug Platz bleibt, die Pedale zu bedienen.Hier entsteht der Eindruck, als ob es einen fremden Fahrer gäbe. Gerade so balanciert, dass ihm genug Platz bleibt... wäre verständlicher.

Lange beobachte ich die Straße, ohne sie zu sehenWenn man etwas beobachtet, sieht mann es immer. Lange schaue ich zur Straße, ohne sie zu sehen, ginge.

Zu deinen Figuren

Deine Figuren sind mir grundsätzlich zu ähnlich, deshalb besteht die Gefahr, dass man sie beim Lesen verwechselt. Warum zum Beispiel weiß der Ich-Erzähler plötzlich, dass das Konzert eine Ilusion ist, wenn Carsten die Spazierfahrt angeregt hat? Wenn der Ich-Erzähler den Durchblick hat und auch am Ende behält, muss das von Anfang an angedeutet werden.

Zum Inhalt

Ich höre nicht Smashin Pumpkins, deshalb ist mir das Zitat am Anfang keine Verständnishilfe. Auch der Name des Bordells, der wahrscheinlich irgendeine Bedeutung trägt und der vorletzte Satz während der Reise ("Das Lied ist zu Ende") bringen mich nicht weiter. Ich habe ´mal ein Buch von José Revueltas Sánchez gelesen, es hieß "El luto humano". Dort war ein Fluss die Grenze zwischen Irdischem Leben und Totenreich. Wahrscheinlich erfüllt deine Straße einen ähnlichen Zweck.
So weit, so gut, aber jetzt wird es problematisch. Die fantastische Welt, die du nach dem Überquerren der Straße darstellst, ist meines Erachtens aber IN SICH instabil. Denn zum einen können die vier Typen zwar mit Figuren dieser Welt interagieren, hören aber nicht alle das gleiche (Gon kann die Sängerin hören, die anderen nicht), zum anderen können sie in diser Welt sterben und sind später dann doch nicht tot. Man weiß nicht genau, machen die vier Typen einen Ausflug in ihre eigene Vergangenheit? Oder ist die graue Stadt eine Art Wartezimmer der Untoten und sie unternehmen einen Trip in UNSERE REALITÄT? Ein Blick auf die Motivation der Figuren (Langweile) bringt einem beim Verstädnis da nicht weiter, die Faszination für den Koffer, in dem der Ich-Erzähler eine Pistole weiß, ist mir ein vollkommenes Rätsel. Als Leser hat man es daher bei dieser Geschichte schwer.


Viele Grüße, Lio
 

Krom

Mitglied
Guten Tag zusammen,

dies ist mein erster Beitrag für Leselupe, ein bisher unveröffentlichter Text. Ich hoffe, ich habe ihn im richtigen Forum gepostet. Falls nicht, einfach verschieben.



Die Straße


Is it any wonder I can’t sleep?
Smashing Pumpkins


Wir treffen uns im Cafe. Carsten, Gon, Peter und ich.
Wir haben in diesen Tagen nur wenig zu tun und davon sind wir erschöpft; das Cafe mit seinen endlosen Nachmittagen und den immer gleichen Gesprächen ist unsere letzte Zuflucht.
Heute jedoch hat Carsten eine Idee. Er habe, behauptet er, eine Möglichkeit gefunden, dem ewigen Grau zu entfliehen.
„Einfache Sache, aber dabei könnte was rumkommen“, sagt er.
Was wir dafür tun müssen?
Wir müssen die Grenze überqueren, auf der anderen Seite etwas abholen und dieses Etwas in die Stadt bringen. Alles ganz einfach, wenn man Carsten glaubt.
„Klingt zweifelhaft“, sagt Peter.
Ich teile seine Bedenken. Es existieren Regeln, die jeder Stadtbewohner beachten muss; unausgesprochene und ungeschriebene und doch äußerst strenge Regeln.
„Ihr müsst euch keine Gedanken machen“, sagt Carsten. „Wir werden keinen Verstoß begehen, das versichere ich euch.“
Ich sehe aus dem Fenster, betrachte die Menschen auf der Straße. Sie tun Dinge, die mich nichts angehen und mich nicht interessieren, hier gibt es nichts für mich und für die anderen auch nicht. Möglicherweise ist dies unsere letzte Chance, dem Grau den Rücken zu kehren und sei es nur für kurze Zeit.
Also aus der Stadt.
Ein Auto mieten.
Über die Grenze fahren.
Bei Nacht.
Wenn das Scheinwerferlicht den Asphalt erhellt und die Büsche am Straßenrand nur Ahnungen sind. Wenn wir schweigend im Wagen sitzen, weil wir schon lange kleine Lust mehr zu reden haben und wenn die Stadt zu einer verschwommenen Erinnerung geworden ist, unwirklicher als jeder Schatten im Gehölz.
Carsten als Fahrer, Gon als Beifahrer, Peter und ich auf dem Rücksitz.
Hinter der Grenze wird der Radioempfang rasch schlechter. Bald fließt nur noch Knistern aus den Lautsprechern, Kurzwellenechos in dem Stimmen oder Musik bestenfalls zu erahnen sind.
„Versteht das jemand?“, fragt Peter. „Was soll das alles?“
Niemand antwortet ihm.
Die Abzweigung kommt so plötzlich, dass Carsten das Steuer herumreißen muss. Die ruckartige Bewegung schleudert mich zur Seite und ich ramme Peter meinen Ellenbogen in den Magen.
„Pass doch auf, verdammt noch mal.“
„Tut mir leid.“
Der Wagen hüpft über Schlaglöcher und das Scheinwerferlicht zittert. Bald erreichen wir einen quadratischen Betonbau ohne Fenster.
KALYPSO – MÄDCHEN UND MEHR
steht auf einem Neonschild über dem Eingang.
Unser Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz.
Drinnen erwarten uns dämmrige Beleuchtung und so leise Musik, dass sich ihre Unverständlichkeit nicht vom Geflüster des Radios unterscheidet.
Stühle und schmale Tische stehen in Nischen. In der Raummitte erhebt sich eine Bühne mit einem Standmikrofon.
An der Bar lehnt ein Mann in einem dunklen Anzug; außer ihm und uns ist niemand hier.
„Warum sind keine Mädchen da?“ Gon klingt enttäuscht.
Der Anzugmann winkt uns zu sich.
„Schön Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten herzukommen. Heutzutage kann man die Grenze ja nicht mehr so einfach überqueren.“
„Haben Sie heute geschlossen?“, will ich wissen.
Die Leblosigkeit des Raumes, der so offenkundig für eine große Menschenmenge ausgelegt ist, gibt mir ein ungutes Gefühl.
Der Anzugmann lächelt. „Sie missverstehen die Situation. Tatsächlich drängen sich heute Abend die Leute; sie steigen einander auf die Füße, so wenig Platz ist vorhanden. Die Sängerin auf der Bühne trägt ihr blondes Haar offen und ihr Lied, vorgetragen mit kristallklarer Stimme - ein bisschen traurig und dabei doch kraftvoll - rührt uns alle zu Tränen. Schweiß, Parfüm und Zigarettenqualm tränken die Luft. Man darf bei uns noch rauchen, müssen Sie wissen.“
Ich sehe mich um und immer noch sind wir alleine. Da ist keine Sängerin und da ist auch kein Lied.
„So ein Blödsinn.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Der Anzugmann greift hinter die Theke und holt einen Koffer hervor.
Carsten nimmt ihn entgegen.
„Das ist alles, was Sie brauchen“, sagt der Anzugmann.
„Was ist da drin?“, fragt Peter. „Sie müssen uns wenigstens sagen, was da drin ist. Immerhin fahren wir damit in die Stadt zurück.“
Der Anzugmann lächelt wieder und schüttelt den Kopf. „Wie ich schon sagte, ist dies ein Missverständnis Ihrerseits. Aber das würde nun wirklich zu weit führen und die Nacht wird immer dunkler. Es wird besser sein, sie machen sich auf den Weg.“
Wir haben die Türschwelle gerade überschritten, als Gon stehen bleibt und die Augen aufreißt.
„Ich sehe es. Ich kann alles sehen.“ Seine Stimme klingt schrill und kippt über. Tränen laufen über seine Wangen. „Die Leute drängen sich. Sie stehen Schlange vor dem Eingang und sogar auf dem Parkplatz sind jede Menge Menschen. Ich kann auch die Sängerin auf der Bühne hören, sogar hier draußen kann ich sie hören. Sie singt wirklich wunderschön. Jetzt verstehe ich, warum die Zuhörer von so weit her kommen.
Ich will noch nicht gehen. Ich will abwarten, nur ein ganz klein wenig. Vielleicht singt sie ja noch ein weiteres Lied für uns, das wäre doch möglich.“
Wir steigen in den Wagen und Gon bleibt vor dem Eingang des Betonbaus zurück.
Ich winke ihm zum Abschied. Er erwidert meinen Gruß und scheint ganz alleine in der Nacht glücklich zu sein.
Wieder fahren wir über den Schlaglochweg. Wieder hüpft das Scheinwerferlicht über den Asphalt. Die scharfe Kurve, unsere Reifen quietschen und wir sind auf der Hauptstraße.
Carsten versucht erst gar nicht, das Radio in Gang zu bringen.
Peter rutscht vor unterdrückter Nervosität hin und her. „Ich will endlich wissen, was in dem Ding drin ist.“
Der Koffer steht zwischen Carstens Knien, gerade so balanciert, dass unserem Fahrer genug Platz bleibt, die Pedale zu bedienen.
„Wir dürfen ihn nicht öffnen“, sagt Carsten. „Das wäre ein schwerwiegender Verstoß.“
„Aber ich muss wissen, was da drin ist, verdammt noch mal.“
„Das können wir nicht machen“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt sofort an.“ Peter spuckt vor Aufregung Speicheltröpfchen und eines trifft mich am Ohr.
„Wir halten jetzt nicht“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt an oder ich flipp aus. Mir ist schlecht, verdammt. Halt an.“
„Also gut.“ Carsten fährt an den Straßenrand.
„Gib mir das Scheißding. Gib ´s mir.“
Peter greift zwischen Carstens Beinen hindurch und packt den Koffer. Bevor Carsten reagieren kann, reißt er die Wagentür auf. Er springt in die Nacht.
„Vollidiot. Trottel.“ Carsten hechtet ebenfalls hinaus. „Du brockst uns Riesenärger ein, du Trottel.“
Sie stürmen die Straße entlang, tolle Hunde, die einander jagen.
Ich bleibe sitzen, bis beider Silhouetten zu Schemen verschmolzen sind, dann verlasse auch ich den Wagen.
Carsten hat den Motor abgestellt. Als ich die Straße hinuntergehe, sind meine Schritte das einzige Geräusch.
Nach kurzem Weg treffe ich meine Begleiter wieder. Sie stehen sich gegenüber, wenig mehr als Scherenschnitte, statuenhaft stumm, der Koffer zwischen ihnen.
„Habt ihr genug?“, will ich wissen.
„Du missverstehst die Situation“, sagt Carsten.
„In diesem Raum drängen sich die Menschen“, sagt Peter.
„Da war überhaupt keiner.“ Ich schreie, so wütend bin ich. „In dem ganzen Laden war keiner und der Parkplatz war ebenfalls leer. Wenn jemand etwas anders behauptet, dann lügt er. Die Geschichte ist eine Lüge und zwar vom Anfang bis zum Ende.“
Peter schüttelt den Kopf. „Auch vor dem Eingang und auf dem Parkplatz sind Leute. Sie stehen Schlange, um hereinzukommen. Willst du das nicht sehen?“
„Hier darf man noch rauchen.“ Carsten zieht eine Schachtel aus seiner Jackentasche und zündet sich eine Zigarette an. „Wenigstens das musst du anerkennen.“
„Das Lied klingt wunderschön und es gibt stehenden Applaus“, sagt Peter. „Ich bin so froh, hergekommen zu sein und dieses Lied gehört zu haben.“
Ich bücke mich. Öffne den Koffer. Eine Pistole liegt darin, ihr Knauf liegt kalt in meiner Hand.
Carsten und Peter stürzen auf den Asphalt. Ihre Gesichter erstarren zu Totenmasken und um ihre Köpfe bilden sich schwarze Pfützen. Menschenpuppen, deren Fäden ich durchtrennt habe.
Das Lied ist zu Ende.
Mit Koffer und Pistole kehre ich zum Wagen zurück.

***

Im Cafe sind unsere Stammplätze leer. Ich bestelle ein Bier und warte.
Nach einiger Zeit kommt Carsten durch die Tür.
„Wie geht’s denn so?“ frage ich.
„Könnte besser sein.“ Er setzt sich mir gegenüber.
Wir bleiben zu zweit. Peter ist krank und Gon hat irgendetwas mit einem Mädchen.
„Es gibt da so eine Sache“, sagt Carsten. „So eine Sache hinter der Grenze. Eine Gelegenheit für uns, verstehst du?“
„Das wird nichts. Nicht mit mir, tut mir sehr leid.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Es wäre gegen die Regeln.“
„Ist das alles, was du dazu sagen kannst?“
„Das ist mehr als genug.“
„Du willst mir nicht helfen?“
„Auf keinen Fall.“
Carsten verlässt das Cafe ohne ein Abschiedswort. Durch das Fenster sehe ich ihn mit hängenden Schultern den Bürgersteig entlangschlurfen. Seine Enttäuschung drückt ihn nieder.
In dieser Stadt, wo das Banale schon vor langer Zeit die Macht übernommen hat, verrinnt unsere Lebenszeit. Mit jedem Tag kommt uns ein klein wenig mehr abhanden und in einer nicht allzu fernen Zukunft werden wir lediglich Hülsen sein, bar aller Ambitionen und Leidenschaft.
Lange beobachte ich die Straße, ohne sie zu sehen. Ich denke an die Grenze und an das, was dahinter auf uns warten mag.
 

Krom

Mitglied
Hallo Lio,

auch Dir vielen Dank für Deine Kritik. Du hast natürlich recht, der Text ist schwierig und letzten Endes nicht bis ins Letzte erklärbar. Seine Welt ist instabil und ihre Figuren sind es auch. Ich frage mich langsam, ob das überhaupt eigenständige Persönlichkeiten sind und nicht unterschiedliche Aspekte einer einzigen Person zu unterschiedlichen Zeiten oder auf verschiedenen Realitätsebenen.

Dein Gedanke über das Totenreich gefällt mir, auf die Idee bin ich selbst ehrlich gesagt nicht gekommen, aber das ist in Ordnung. Literatur lebt auch von Ihrer Interpretierbarkeit.

Die Smashing Pumpkins höre ich selbst auch nicht und man muss sie nicht kennen, um die Geschichte zu verstehen. Mir gefiel nur die Zeile dieses Liedes in Zusammenhang mit meinem Text, das ist alles.

Nochmals vielen Dank für Deine Kritik und viele Grüße,

Krom
 
Schöne Geschichte, Krom,

kurz, knackig, hat mir sehr gut gefallen.

Hab ich irgendwas zu nörgeln? Nein, eigentlich nicht. Und ich versteh auch nicht, warum hier Architheutis von "Sprüngen" spricht. Ich hab keine Sprünge gelesen. Es beginnt in dem Cafe, sie fahren raus über die Grenze, es kommt zum Finale - der Erzähler sitzt wieder im Kaffee. Das ist ein gerader Zeitverlauf mit Abreise und Wiederkehr. Kann natürlich sein, dass die Ursprungsfassungen andere waren. Falls dem so sei, mögen meine Worte wie Asche in den Wind.

Jedenfalls Grüße und Danke für die gute Geschichte,
Marcus
 

Lio

Mitglied
Hallo Marcus,

war klar, dass früher oder später so eine Antimeinung kommt.Ich glaube Architheutis ging es weniger, um die Sprünge im Text als um den undurchsichtigen Inhalt der Welt hinter der Straße. Die ist nicht schlüssig, das hat der Autor inzwischen ja selbst gesagt. Da fragt man sich, was dich so sehr an der Geschichte begeistert!

Gruß, Lio
 
Hallo Lio,

das Rätsel natürlich! Der ganze Text ist doch von Rätselhaftigkeit durchdrungen. Da haben wir die Stadt mit ihren Regeln, die Grenze, jenen Ort jenseits davon, den Koffer. Und da von der Autorin auf den Regisseur Lynch verwiesen wurde, darf diese Rätselhaftigkeit also durchaus als stilistisches Mittel angesehen werden. Die Nicht- oder nur teilweise Enträtselbarkeit ist damit kein Manko, sondern gewolltes Mittel. Da kann man also nicht einfach daherkommen und sagen, das versteht ja keiner. Genau darum geht es! Auch wenn der Leser sich vom Autor gerne eine geordnete Welt wünscht, kann der Autor diesem Wunsch manchmal nicht nachkommen oder mehr noch, er verweist explizit auf die Unauflösbarkeit gewisser Rätsel, um auf eine Bedrohung, ein unabänderbares Schicksal oder einfach auf die Möglichkeit eines Andersseins der Dinge hinzudeuten.

Und darüber hinaus glaube ich schon, dass der Text sich in einem gewissen Maß enträtseln läßt. Nicht vollkommen, dazu gibt es zu wenig "reale" Anhaltspunkte. Mit dem Wort real will ich hier aber ganz vorsichtig umgehen. Schließlich schreibt Krom: "Die Geschichte ist eine Lüge und zwar vom Anfang bis zum Ende."

Also, fassen wir mal den Inhalt zusammen. Vier P. befinden sich in einer Stadt, in der es Regeln gibt. Eine davon besagt, dass man nicht über die sogenannte Grenze darf. Das aber ist "eine Möglichkeit ..., dem ewigen Grau zu entfliehen", welches das Antriebsmodul der P. darstellt. Ganz offensichtlich fürchten sie sich vor dem "Grau". Eine andere Regel ist, den Koffer nicht zu öffnen, den sie in dem Roadhouse erhalten, und von dem gesagt wird, dass darin alles ist, "was sie brauchen". Dann machen sie sich, bis auf einen, auf den Rückweg, einer öffnet den Koffer und erschießt ganz offensichtlich die beiden anderen. Mit dem Verbrechen endet der Zeitstrahl, und wir erleben zwei der Protagonisten am scheinbaren Anfang der Geschichte: Carsten fordert zu einer Reise über die Grenze auf. Aber etwas hat sich verändert: die Sehnsucht, dem Grau der Stadt zu entfliehen. Selbst der Erzähler hat keinerlei Interesse mehr, dem Grau zu entfliehen, er lehnt ab. Die beiden anderen sind offensichtlich ebenfalls nicht mehr interessiert: "Peter ist krank und Gon hat irgendetwas mit einem Mädchen." Das Grau der Stadt hat sie völlig eingenommen. Der einzige, der noch ein Interesse daran hat, dem Grau zu entfliehen, ist Carsten, der auch versucht hat, den Regelverstoß gegen das Öffnen des Koffers zu verhindern. Aber ohne die drei anderen bleibt auch er in dem Grau gefangen: "Durch das Fenster sehe ich ihn mit hängenden Schultern den Bürgersteig entlang schlurfen. Seine Enttäuschung drückt ihn nieder."

Es ist also fast so, als wäre der Regelverstoß der vier geahndet worden, so dass sie nie wieder dem Grau entfliehen können und "lediglich ... sein (werden), bar aller Ambitionen und Leidenschaft."

So, das mal zum Inhalt.

„Versteht das jemand?“, fragt Peter. „Was soll das alles?“, läßt Krom einen der P. sagen, als im Radio die Stimmen unverständlich werden.

Ich sage JA, das kann man sehr gut verstehen. Denn es soll bekanntlich Menschen geben, die den Fernseher anmachen und da nur grau in grau sehen, die aus dem Fenster schauen und sich manchmal fragen, ob das, was in dem Koffer ist, "alles ist, was sie brauchen." Und auch die Grenze ist wohl so manchem Leser als Gleichnis für alle Grenzen bekannt, eine Grenze vor allem, die auch die "Letzte" sein könnte(worauf der Koffer hindeutet), aber hier auch für viele andere steht. Die P´s stehen damit stellvertretende für die Sehnsüchte des Autors sowie des Lesers, sich über Beschränkungen hinwegzusetzen und mit Geist und Körper in andere Realitäten vorzudringen.

So endet für´s erste meine Interpretation. Der Tag ist lang, und ich habe vor, noch ein wenig Farbe hinein zu bringen.
Für Rückfragen zwecks Übereinstimmung, bin ich dankbar.

Und bleibe dabei, die Geschichte ist sehr gut. Für meinen Geschmack hätte sie noch ein wenig verrätselter sein können, sich noch weiter über die Grenze hinaus wagen, noch mehr Risiken eingehen.

Aber man soll nicht den Himmel herausfordern,
Grüsse, Marcus
 
Und PS:


Es kann natürlich unmöglich sein, dass ein komplizierter Handlungsverlauf in erster Linie den Wunsch nach einer einfachen, ja banalen Erzählweise heraufbeschwört. Und dass dann das auch noch als die Eigenschaft eines "guten Erzählers" proklamiert wird. Genauso wenig darf dieser Geschichte die Heititei-Realität eines Terry Pratchett übergeholfen werden, in der man sich in Todeswartezimmern auf eine andere Elfenwelt vorbereitet. Ich weiß natürlich nicht, ob ich mich als Leser hier nicht zu weit aus dem Fenster wage, wenn ich sage, also ich wünsche mir gewagte und spitzfindige Inhalte, bei denen der Autor keine Angst hat, gewisse Risiken einzugehen. Allein dieses Faktum sehe ich bei dieser Geschichte mehr als erfüllt. Ich will hier sogar noch weitergehen und fragen, was denn der Begriff "instabil" bei einem Handlungsverlauf verloren hat? Damit ist wohl eher gemeint, dass die Geschichte nicht in das gängige Erzählmuster passt, also unkonform ist. Deshalb müssen irgendwelche Konstruktion herangeschafft werden, wie man sie aus Märchenbüchern kennt.

Tja, und natürlich find ich´s schade, dass eine "andere" literarische Ansicht als "Antimeinung" deklariert wird. Meine Meinung ist nämlich überhaupt nicht Anti, sondern Pro – für den Text. Sie wäre Anti, wenn im Mittelpunkt dieses Threads die bisherigen Rezensionen stünden. Tun sie aber nicht.

Also bis bald und nicht die Realitäten verschieben, mit freundl. Grüssen,
Marcus
 

Krom

Mitglied
Hallo Marcus,

ich finde es faszinierend, dass Dich die Geschichte so beschäftigt. Deine Interpretation gefällt mir, auch wenn ich letzten Endes die Gedanken, die Du Dir gemacht hast, beim Schreiben nicht in dieser Form hatte.

Ein klarer und brutaler Regelverstoß am Schluss ist selbstverständlich der motivationslose Doppelmord, der dem ganzen Geschehen auch den Sinn raubt. Was haben diese vier Leute abholen sollen? Ganz offensichtlich die Pistole. Wozu die Pistole? Sie ist nur dazu da, der Hauptfigur die Möglichkeit zu geben, zwei ihrer Gefährten zu erschießen. Ein weiteres Beispiel der Nutzlosigkeit ist das Kalypso, ein Bordell ohne Huren.

Versatzstücke eines Thrillers oder Krimis, die jedoch kein Ganzes ergeben, weil der Welt die Sinnhaftigkeit genommen wurde. So bleiben letztlich nur Stereotypen und die Worthülsen, welche die Protagonisten von sich geben. Das Ende der Geschichte entlarvt selbst den Mord als konsequenzlos und eröffnet die Möglichkeit, dass die gesamte Reise einzig und allein im Kopf der Hauptfigur stattgefunden hat.

Ich verbleibe mit vielen Grüßen,

Krom
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo krom,
ich mag solche geschichten, die sich scheinbar im nichts verlieren.
diese hier hat "drive", liest sich spannend, stellt fragen und gibt keine antworten.

willkommen im unterbewußten, denke ich da.

eine stelle gefiel mir besonders:

In dieser Stadt, wo das Banale schon vor langer Zeit die Macht übernommen hat, verrinnt unsere Lebenszeit. Mit jedem Tag kommt uns ein klein wenig mehr abhanden und in einer nicht allzu fernen Zukunft werden wir lediglich Hülsen sein, bar aller Ambitionen und Leidenschaft.

für mich der eigentliche subtext deiner kurzen geschichte.

well done

ralf
 
Nein, nein, nein, Krom, dann hast du deine Geschichte selbst nicht verstanden(!!!) oder einfach zu viel D. Lynch geschaut und dadurch unbewußt ein paar Versatzstücke übernommen, die durchaus eine Bedeutung haben.

Denn dieses Roadhouse, in dem niemand ist und von dem doch behauptet wird, dort wären Musik und Menschen, ist natürlich der Ort des Mystischen, der Ort an dem die Dinge anders herum funktionieren. Es wird ja behauptet, dass dort Musik gespielt wird, dass dort etwas los ist, etwas, wonach die P´s sich gesehnt haben und weshalb sie die Grenze überquert haben.

Tja, und nicht zu vergessen die Worte des Mannes an der Bar, dass sie es nicht verstanden hätten, dass ein Missverständnis vorläge. Ein Missverständnis worüber? Über sich selbst? Über den Ort? Über die Grenze?
Selbst wenn du das ungewollt konstruiert haben solltest,(was du mir tausendmal erzählen kannst) finde ich es doch gelungen. Ich meine, der Satz, dass man dort "noch rauchen dürfe" klingt schon wie einer jener verzauberten Sätze aus einem Lynchfilm, ein Satz, der nur etwas andeutet, als würde sich hinter diesem, ein ganz anderer verbergen. Das ähnelt natürlich stark den Szenen aus Twin Peaks, die aus dem Zimmer mit dem roten Samtvorhang und dem karierten Fußboden. Da werden auch immer wieder Sätze gesagt, die scheinbar ohne Bedeutung sind, aber trotzdem den Schluss nahe legen, dass der Welt noch eine andere zugrunde liegt, eine mit anderen Bedeutungen und anderer Sprache und Wirklichkeiten. Das ist ja das schöne an Lynchs Filmen, jedenfalls an manchen.
Das hast du hier jedenfalls schön übernommen oder instinktiv angewendet, wenn dir das lieber ist. Vielleicht hast du es ja auch unterbewußt kreiert, so wie in einem Lynchfilm, wo jemand etwas sagt und man fragt ihn hinterher danach und er sagt, was, das habe ich nie gesagt.

Oder eben etwas ganz anderes,
Grüsse Marcus.

Achja, und beizeiten mehr davon...
 

Lio

Mitglied
Hallo Marcus,

erst einmal freue ich mich, dass dir die Geschichte so gut gefällt und du darin so viel sehen kannst. Wenn du für den Text argumentierst ist deine Meinung natürlich auch "pro" und nicht "anti", da hast du vollkommen Recht.
Du magst also das Rätselhafte am Text und wünscht dir noch mehr Rätsel. Tendenziell habe ich an einer solchen Meinung nichts auszusetzen. Das Problem an diesem Text ist aber, wie bereits gesagt, die Instabilität der Welt hinter der Straße. Mit Instabilität meine ich nicht irgendein Korsett, in das man eine Handlung zwängen muss, sondern allein die Logik, der die Geschichte zugrunde liegt. Logik ist nicht mit Naturgesetzmäßigkeiten o.ä. gleichzusetzen, Logik kann alles sein, muss aber in sich schlüssig sein. Wenn die vier Typen dem grau entfliehen wollen, dann erwartet man hinter der Straße etwas, das anders tickt. Nicht bloß unmotivierte und unlogische Handlungen der Figuren. Warum kann Gon die Sängerin hören und die anderen nicht?, warum erschießt der Ich-Erzähler seine beiden Kumpels?, warum weiß er, dass die Pistole im Koffer ist? etc. etc. Logisch wäre für mich die Geschichte dann, wenn es die Anfangs- und die Schlussszene nicht gäbe, wenn man als Leser nicht darauf vorbereitet werden würde, dass die vier Typen dem Grau entfliehen, wenn also die Einschlaf- und Aufwachszene wegfallen würde und nur die Aneinanderreihung der skurillen Sequenzen bliebe.


Es grüßt, Lio
 

Krom

Mitglied
Tja, dem einen gefällt die Geschichte, dem anderen nicht so besonders.

Wer hat nun Recht? Ich habe keine Ahnung. Mit unterschiedlichen Bewertungen muss ein Autor einfach leben.

Ich danke trotzdem allen, die sich die Mühe gemacht haben, "Die Straße" zu lesen.


Viele Grüße an alle,

Krom
 
Na dann verbleiben wir doch auf aktuellem Stand, Lio. Manche Argumente sind dargelegt worden, und eine Geschichte will verschiedene Meinungen. Vielleicht wirft man sich bei anderer Gelegenheit wieder die Bälle zu,

Mit frdl.Grüssen Marcus
 

Lio

Mitglied
Hallo Marcus

Ein Text über den es sich lohnt zu diskutieren, ist ein interessanter Text. Hat Spaß gemacht und Krom, auch ich bin gespannt auf Neues von dir. Gruß, Lio
 

Krom

Mitglied
Die Straße


Is it any wonder I can’t sleep?
Smashing Pumpkins


Wir treffen uns im Cafe. Carsten, Gon, Peter und ich.
Wir haben in diesen Tagen nur wenig zu tun und davon sind wir erschöpft; das Cafe mit seinen endlosen Nachmittagen und den immer gleichen Gesprächen ist unsere letzte Zuflucht.
Heute jedoch hat Carsten eine Idee. Er habe, behauptet er, eine Möglichkeit gefunden, dem ewigen Grau zu entfliehen.
„Einfache Sache, aber dabei könnte was rumkommen“, sagt er.
Was wir dafür tun müssen?
Wir müssen die Grenze überqueren, auf der anderen Seite etwas abholen und dieses Etwas in die Stadt bringen. Alles ganz einfach, wenn man Carsten glaubt.
„Klingt zweifelhaft“, sagt Peter.
Ich teile seine Bedenken. Es existieren Regeln, die jeder Stadtbewohner beachten muss; unausgesprochene und ungeschriebene und doch äußerst strenge Regeln.
„Ihr müsst euch keine Gedanken machen“, sagt Carsten. „Wir werden keinen Verstoß begehen, das versichere ich euch.“
Ich sehe aus dem Fenster, betrachte die Menschen auf der Straße. Sie tun Dinge, die mich nichts angehen und mich nicht interessieren, hier gibt es nichts für mich und für die anderen auch nicht. Möglicherweise ist dies unsere letzte Chance, dem Grau den Rücken zu kehren und sei es nur für kurze Zeit.
Also aus der Stadt.
Ein Auto mieten.
Über die Grenze fahren.
Bei Nacht.
Wenn das Scheinwerferlicht den Asphalt erhellt und die Büsche am Straßenrand nur Ahnungen sind. Wenn wir schweigend im Wagen sitzen, weil wir schon lange kleine Lust mehr zu reden haben und wenn die Stadt zu einer verschwommenen Erinnerung geworden ist, unwirklicher als jeder Schatten im Gehölz.
Carsten als Fahrer, Gon als Beifahrer, Peter und ich auf dem Rücksitz.
Hinter der Grenze wird der Radioempfang rasch schlechter. Bald fließt nur noch Knistern aus den Lautsprechern, Kurzwellenechos in dem Stimmen oder Musik bestenfalls zu erahnen sind.
„Versteht das jemand?“, fragt Peter. „Was soll das alles?“
Niemand antwortet ihm.
Die Abzweigung kommt so plötzlich, dass Carsten das Steuer herumreißen muss. Die ruckartige Bewegung schleudert mich zur Seite und ich ramme Peter meinen Ellenbogen in den Magen.
„Pass doch auf, verdammt noch mal.“
„Tut mir leid.“
Der Wagen hüpft über Schlaglöcher und das Scheinwerferlicht zittert. Bald erreichen wir einen quadratischen Betonbau ohne Fenster.
KALYPSO – MÄDCHEN UND MEHR
steht auf einem Neonschild über dem Eingang.
Unser Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz.
Drinnen erwarten uns dämmrige Beleuchtung und so leise Musik, dass sich ihre Unverständlichkeit nicht vom Geflüster des Radios unterscheidet.
Stühle und schmale Tische stehen in Nischen. In der Raummitte erhebt sich eine Bühne mit einem Standmikrofon.
An der Bar lehnt ein Mann in einem dunklen Anzug; außer ihm und uns ist niemand hier.
„Warum sind keine Mädchen da?“ Gon klingt enttäuscht.
Der Anzugmann winkt uns zu sich.
„Schön Sie zu sehen. Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten herzukommen. Heutzutage kann man die Grenze ja nicht mehr so einfach überqueren.“
„Haben Sie heute geschlossen?“, will ich wissen.
Die Leblosigkeit des Raumes, der so offenkundig für eine große Menschenmenge ausgelegt ist, gibt mir ein ungutes Gefühl.
Der Anzugmann lächelt. „Sie missverstehen die Situation. Tatsächlich drängen sich heute Abend die Leute; sie steigen einander auf die Füße, so wenig Platz ist vorhanden. Die Sängerin auf der Bühne trägt ihr blondes Haar offen und ihr Lied, vorgetragen mit kristallklarer Stimme - ein bisschen traurig und dabei doch kraftvoll - rührt uns alle zu Tränen. Schweiß, Parfüm und Zigarettenqualm tränken die Luft. Man darf bei uns noch rauchen, müssen Sie wissen.“
Ich sehe mich um und immer noch sind wir alleine. Da ist keine Sängerin und da ist auch kein Lied.
„So ein Blödsinn.“
„Ganz wie Sie meinen.“
Der Anzugmann greift hinter die Theke und holt einen Koffer hervor.
Carsten nimmt ihn entgegen.
„Das ist alles, was Sie brauchen“, sagt der Anzugmann.
„Was ist da drin?“, fragt Peter. „Sie müssen uns wenigstens sagen, was da drin ist. Immerhin fahren wir damit in die Stadt zurück.“
Der Anzugmann lächelt wieder und schüttelt den Kopf. „Wie ich schon sagte, ist dies ein Missverständnis Ihrerseits. Aber das würde nun wirklich zu weit führen und die Nacht wird immer dunkler. Es wird besser sein, sie machen sich auf den Weg.“
Wir haben die Türschwelle gerade überschritten, als Gon stehen bleibt und die Augen aufreißt.
„Ich sehe es. Ich kann alles sehen.“ Seine Stimme klingt schrill und kippt über. Tränen laufen über seine Wangen. „Die Leute drängen sich. Sie stehen Schlange vor dem Eingang und sogar auf dem Parkplatz sind jede Menge Menschen. Ich kann auch die Sängerin auf der Bühne hören, sogar hier draußen kann ich sie hören. Sie singt wirklich wunderschön. Jetzt verstehe ich, warum die Zuhörer von so weit her kommen.
Ich will noch nicht gehen. Ich will abwarten, nur ein ganz klein wenig. Vielleicht singt sie ja noch ein weiteres Lied für uns, das wäre doch möglich.“
Wir steigen in den Wagen und Gon bleibt vor dem Eingang des Betonbaus zurück.
Ich winke ihm zum Abschied. Er erwidert meinen Gruß und scheint ganz alleine in der Nacht glücklich zu sein.
Wieder fahren wir über den Schlaglochweg. Wieder hüpft das Scheinwerferlicht über den Asphalt. Die scharfe Kurve, unsere Reifen quietschen und wir sind auf der Hauptstraße.
Carsten versucht erst gar nicht, das Radio in Gang zu bringen.
Peter rutscht vor unterdrückter Nervosität hin und her. „Ich will endlich wissen, was in dem Ding drin ist.“
Der Koffer steht zwischen Carstens Knien, gerade so balanciert, dass unserem Fahrer genug Platz bleibt, die Pedale zu bedienen.
„Wir dürfen ihn nicht öffnen“, sagt Carsten. „Das wäre ein schwerwiegender Verstoß.“
„Aber ich muss wissen, was da drin ist, verdammt noch mal.“
„Das können wir nicht machen“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt sofort an.“ Peter spuckt vor Aufregung Speicheltröpfchen und eines trifft mich am Ohr.
„Wir halten jetzt nicht“, sagt Carsten.
„Halt an. Halt an oder ich flipp aus. Mir ist schlecht, verdammt. Halt an.“
„Also gut.“ Carsten fährt an den Straßenrand.
„Gib mir das Scheißding. Gib ´s mir.“
Peter greift zwischen Carstens Beinen hindurch und packt den Koffer. Bevor Carsten reagieren kann, reißt er die Wagentür auf. Er springt in die Nacht.
„Vollidiot. Trottel.“ Carsten hechtet ebenfalls hinaus. „Du brockst uns Riesenärger ein, du Trottel.“
Sie stürmen die Straße entlang, tolle Hunde, die einander jagen.
Ich bleibe sitzen, bis beider Silhouetten zu Schemen verschmolzen sind, dann verlasse auch ich den Wagen.
Carsten hat den Motor abgestellt. Als ich die Straße hinuntergehe, sind meine Schritte das einzige Geräusch.
Nach kurzem Weg treffe ich meine Begleiter wieder. Sie stehen sich gegenüber, wenig mehr als Scherenschnitte, statuenhaft stumm, der Koffer zwischen ihnen.
„Habt ihr genug?“, will ich wissen.
„Du missverstehst die Situation“, sagt Carsten.
„In diesem Raum drängen sich die Menschen“, sagt Peter.
„Da war überhaupt keiner.“ Ich schreie, so wütend bin ich. „In dem ganzen Laden war keiner und der Parkplatz war ebenfalls leer. Wenn jemand etwas anders behauptet, dann lügt er. Die Geschichte ist eine Lüge und zwar vom Anfang bis zum Ende.“
Peter schüttelt den Kopf. „Auch vor dem Eingang und auf dem Parkplatz sind Leute. Sie stehen Schlange, um hereinzukommen. Willst du das nicht sehen?“
„Hier darf man noch rauchen.“ Carsten zieht eine Schachtel aus seiner Jackentasche und zündet sich eine Zigarette an. „Wenigstens das musst du anerkennen.“
„Das Lied klingt wunderschön und es gibt stehenden Applaus“, sagt Peter. „Ich bin so froh, hergekommen zu sein und dieses Lied gehört zu haben.“
Ich bücke mich. Öffne den Koffer. Eine Pistole liegt darin, ihr Knauf liegt kalt in meiner Hand.
Carsten und Peter stürzen auf den Asphalt. Ihre Gesichter erstarren zu Totenmasken und um ihre Köpfe bilden sich schwarze Pfützen. Menschenpuppen, deren Fäden ich durchtrennt habe.
Das Lied ist zu Ende.
Mit Koffer und Pistole kehre ich zum Wagen zurück.

***

Im Cafe sind unsere Stammplätze leer. Ich bestelle ein Bier und warte.
Nach einiger Zeit kommt Carsten durch die Tür.
„Wie geht’s denn so?“ frage ich.
„Könnte besser sein.“ Er setzt sich mir gegenüber.
Wir bleiben zu zweit. Peter ist krank und Gon hat irgendetwas mit einem Mädchen.
„Es gibt da so eine Sache“, sagt Carsten. „So eine Sache hinter der Grenze. Eine Gelegenheit für uns, verstehst du?“
„Das wird nichts. Nicht mit mir, tut mir sehr leid.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Es wäre gegen die Regeln.“
„Ist das alles, was du dazu sagen kannst?“
„Das ist mehr als genug.“
„Du willst mir nicht helfen?“
„Auf keinen Fall.“
Carsten verlässt das Cafe ohne ein Abschiedswort. Durch das Fenster sehe ich ihn mit hängenden Schultern den Bürgersteig entlangschlurfen. Seine Enttäuschung drückt ihn nieder.
In dieser Stadt, wo das Banale schon vor langer Zeit die Macht übernommen hat, verrinnt unsere Lebenszeit. Mit jedem Tag kommt uns ein klein wenig mehr abhanden und in einer nicht allzu fernen Zukunft werden wir lediglich Hülsen sein, bar aller Ambitionen und Leidenschaft.
Lange beobachte ich die Straße, ohne sie zu sehen. Ich denke an die Grenze und an das, was dahinter auf uns warten mag.
 



 
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