Die Studie

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Raniero

Textablader
Die Studie

‚Was soll’s, die haben ja Recht‘, dachte Eberhard Frank, nachdem er wieder einmal eine gute Viertelstunde kniend auf dem Teppichfußboden seines Büroraumes verbracht hatte, um eine Büroklammer aufzuspüren, die ihm aus der Hand entglitten war, und er erinnerte sich an die Arbeitsanweisung, die vor einigen Monaten per Rundschreiben durchs Haus gegangen war und sich auf die Studie eines renommierten amerikanischen Wirtschaftsinstitutes über effektivere Arbeitszeitnutzung bezog.
Diese Studie besagte, dass bei bürointernen Arbeiten in der freien Wirtschaft wie auch bei Behörden im täglichen Geschäftsverkehr viel zu viel Geld verschwendet würde für unnutze Tätigkeiten wie das Aufsammeln von Kleinstutensilien wie beispielsweise Büroklammern, weil die Zeit, die einem Betrieb hierdurch verloren ginge, viel wertvoller sei als der materielle Gegenwert solcher Gegenstände.
Die Empfehlung, die schließlich aus dieser Anweisung abgeleitet wurde, lautete schlicht und einfach: ‚Lassen Sie das Zeug liegen! Der Staubsauger ist effizienter und vor allem billiger als Ihre wertvolle Arbeitszeit. Nutzen Sie diese Zeit, dieses kostbare Gut, für wichtigere Vorgänge!‘
Zu Anfang hatte Eberhard diese Empfehlung nicht gutgeheißen, nicht gutheißen können; mehr als vierzig Dienstjahre auf dem Buckel ließen sich nicht so einfach wegleugnen und vermochten auch nicht, einen stets korrekt handelnden Beamten grundlegend zu verändern.
Nur zu gut noch konnte er sich an die Zeit zu Anfang seiner Laufbahn zurückerinnern, als bei diesen geringfügigen Büroartikeln, wie sie nun hießen, absolute Mangelware herrschte und man beispielsweise gezwungen war, sich Büroklammern im wahrsten Sinn des Wortes täglich aufs neue zu erkämpfen, Auge um Auge, Zahn um Zahn, und nun sollte er, Eberhard Frank, diese Dinger einfach auf dem Boden liegen lassen, nur weil die Amerikaner es so wollten?
‚Nein, mit mir nicht, so einfach geht das nicht, schließlich haben wir noch gelernt, was der Taler wert ist‘, sagte sich Eberhard verbittert, ‚wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert!‘
Mit der Zeit jedoch war er ins Grübeln gekommen, und des öfteren, wenn ihm wieder einmal eine Büroklammer entglitten war und er sich daran machte, sie aufzufinden, was sich als nicht ganz einfach herausstellte, auf dem rostroten Teppichboden, kam ihm die Studie über die Arbeitszeiteinsparung in den Sinn.
‚Was tue ich hier eigentlich?‘, fragte er sich immer häufiger, während er auf dem Boden herumrutschte, ‚in der Zeit könnte ich ja weiß Gott was Sinnvolleres machen‘.
Und so hatte er in der Tat schließlich eines Tages das Ganze satt und traf eine einsame, aber folgenschwere Entscheidung.
Eberhard Frank beschloss, sich der Arbeitanweisung, die auf der amerikanischen Studie basierte, zu beugen und künftig keine Büroklammern vom Fußboden aufzuheben, nie mehr. Er traf diese Entscheidung in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass sein Büro relativ weit abseits von den übrigen Büroräumen der Verwaltung lag und praktisch nie von professionellen Putzkräften gereinigt und infolgedessen auch der Teppichboden nicht gesaugt wurde.
‚Ich werde allerdings vorsichtiger sein müssen, in Zukunft, im Umgang mit meinen Büroklammern‘, nahm er sich vor, ‚denn wenn ich sie demnächst liegen lasse, wird eines Tages ein Punkt erreicht sein, an dem ich statt eines weichen Teppichs nur noch harte Stahlklammern unter den Füßen habe‘.
Doch soweit kam es zum Glück nicht.
In den ersten Tagen geschah zunächst einmal nichts Besonderes.
Eberhard ging wie gewohnt seiner Tätigkeit nach, besuchte zwischendurch auch zuweilen einige Kollegen in entfernten Räumen auf – er selbst bekam keine Besuche, weil er soweit abseits vom Nabel des täglichen Bürogeschehens residierte – und hielt das eine oder das andere Plauderstündchen mit ihnen ab.
Im Umgang mit den Büroklammern legte er jedoch äußerste Behutsamkeit an den Tag, schließlich hatte er ja noch einige Berufsjahre vor sich und konnte sich daher nicht schon jetzt allzu viele von diesen Klammern auf dem Fußboden erlauben.

An einem Freitag jedoch, nicht an einem dreizehnten, aber immerhin, war es trotz aller Vorsicht, die er walten ließ, soweit; eine Büroklammer, eine winzig kleine kaum mit den Augen zu erkennende, war ihm aus der Hand gefallen, und nun lag sie vor ihm im Staub resp. auf dem Teppichboden, jedoch er wollte oder konnte sie einfach nicht aufheben.
Schwer atmend warf sich Eberhard in seinen Drehsessel und starrte die Büroklammer an, vor sich auf dem Boden; auf diese Weise vergingen die restlichen Stunden bis zum Feierabend.
Er war sich indes vollkommen bewusst, dass sein Verhalten, stundenlang darüber zu grübeln, ob er die Klammer aufheben sollte oder nicht, absolut nicht im Sinn der Studie über effektivere Arbeitszeitausnutzung entsprach, doch er konnte einfach nicht anders.
Als er am Nachmittag das Büro verließ, warf er einen letzten Blick zurück, auf die Büroklammer; es schien ihm, als riefe diese um Hilfe.
Schweren Herzens schloss er die Tür ab und machte sich mit kummervoller Miene auf den Heimweg.

Eberhard war ein Mann im fortgeschrittenen Alter, und er lebte allein, seit vielen Jahren. Wenn man ihn auf den Grund dafür ansprach, pflegte er zu sagen, dass er noch nicht die richtige Partnerin fürs Leben gefunden habe.
„Ich glaube, ich werde sie auch nicht mehr finden“, fügte er seufzend hinzu.
Das freie Wochenende verbrachte er zu Hause, wie so oft, indem er sich in seinen Büchern vergrub; im Laufe der langen einsamen Jahre war zu einem wahren Bücherwurm geworden und ging vollkommen in diesen auf.
Dieses Mal verhielt es sich jedoch nicht so wie sonst, denn immer wieder unterbrach er seine Lektüre, weil ihn etwas anderes beschäftigte; er musste immerzu an die Büroklammer denken, wie sie so da lag, auf dem Fußboden in seinem Büro, in ihrer Einsamkeit. Wenn er sich doch nur überwinden könnte, sich seinem Herz einen Stoss geben könnte, zu ihr zu eilen, sie aufzuheben und an ihren angestammten Platz zu legen.
Auf der anderen Seite stand jedoch sein fester Entschluss wie ein Fels in der Brandung, dieses auf keinen Fall zu tun, und war er nicht ein Mann von Prinzipien?

Als er am Montagmorgen sein Büro betrat, galt sein erster Blick der Büroklammer.
Gottlob, sie lag noch an der selben Stelle, unversehrt.
Ein wenig unschlüssig setzte Eberhard sich an den Schreibtisch, gab sich schließlich einen Ruck und spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine. Mit voller Kraft hämmerte er in die Tasten, nur ab und an warf er einen verstohlenen Blick auf den Teppichboden. Doch die gewohnte Konzentration wollte sich einfach nicht einstellen, und nachdem er voller Wut die vierte Schreibmaschinenseite in den Papierkorb geworfen hatte, schweifte sein Blick erneut über den Fußboden und ließ ihm die Haare zu Berge stehen.
Die Büroklammer hatte sich aufgerichtet, in voller Größe, wenn man das von einer solchen Klammer auch nur bedingt sagen kann, und sie sprach ihn direkt an, mit dünner Fistelstimme:
„Erschrick nicht, mein Freund, dass ich so unvermutet das Wort an dich richte, aber es bricht mir das Herz, wenn ich dich leiden sehe, und ich kann es einfach nicht mehr mit ansehen. Seit der vorigen Woche schon quälst du dich damit herum, bist du erschüttert, in den Grundfesten deiner Beamtenseele. Lass mich dir helfen, lieber Mann, denn offenkundig hat dich diese blöde Studie aus Übersee dermaßen verwirrt, dass du nicht mehr derselbe bist. Oh, wie habe ich dich bewundert, in den vielen Jahren wegen deines Mutes, gegen den Trend zu schwimmen, wegen deiner unerschütterlichen Standfestigkeit gegen alle unnützen Reformbewegungen innerhalb der Gesellschaft. Mit welcher Genugtuung habe ich es gesehen, dass du nicht einmal über einen Computer verfügst und stattdessen lieber deine alte Schreibmaschine traktierst wie vor Urzeiten, selbst ein Handy hast du dir nicht zugelegt“.
Trotz des anfänglichen Entsetzens machte sich nun ein Lächeln auf Eberhards Gesicht breit, denn er war stolz darauf, weder Handy noch Computer zu besitzen. Gnadenlos jedoch fuhr die Büroklammer fort:
„Tieferschüttert musste ich unlängst jedoch zur Kenntnis nehmen, dass du bereit bist, dich jedoch aufgrund irgendwelcher zweifelhafter an den Haaren herbeigezogenen Erkenntnisse dem Diktat der sogenannten Fortschrittlichen aus Übersee zu beugen.
Kannst du mir diese deine merkwürdige Wandlung erklären? Sprich!“
Eberhard hatte sich soweit wieder in der Gewalt, um antworten zu können; er wunderte sich sogar ein wenig darüber, dass die Büroklammer das Herkunftsland der Studie nicht mit direktem Namen erwähnte, sondern nur den Ausdruck Übersee benutzte:
„Ja, genaugenommen finde ich diese Empfehlung aus Amerika – im Gegensatz zu seiner Gesprächspartnerin nannte er nun unverblümt Ross und Reiter, wobei die Büroklammer, wie es schien, ein wenig zusammenzuckte – auch absolut unzutreffend, das heißt, ich fand sie bisher so, aber zwischenzeitlich, nach längerem Nachdenken, muss ich einräumen, dass es...“
„Dass es besser wäre, mich hier auf dem Boden liegen zu lassen, zu deinen Füßen“, fuhr die Büroklammer in scharfem, wie Eberhard schien, weiblichem Tonfall dazwischen, „wolltest du das sagen?“
„Nein, nein“, beeilte Eberhard sich zu sagen, so war das nicht gemeint“.
Er befand sich in einem Konflikt, einem Konflikt, von dem er nicht mehr wusste, wie er ihn lösen sollte.
„Du hast ja Recht“, antwortete er zögerlich, „wenn du es so siehst, aber andererseits, diese Studie aus Übersee“ – nun übernahm er auch den Ausdruck – „ich weiß selbst nicht genau, was ich machen soll, und das Schlimmste ist, keiner, weder meine Kollegen noch meine Vorgesetzten, keiner kann mir helfen“.
„Keiner kann dir helfen? Ich kann dir helfen, glaube mir, ich kann dir helfen, so zu fühlen wie ich, das heißt, wenn du meine Hilfe annimmst“.
„Du kannst mir helfen?“ zeigte sich Eberhard erstaunt, „wie willst denn ausgerechnet du mir helfen?“
„Ganz einfach“, lachte die Büroklammer, „heirate mich!“

Eberhard Frank glaubte seinen Ohren nicht zu trauen; da hatte er mehr als ein halbes Menschenalter nach einer Lebensgefährtin gesucht, und nun stand sie vor ihm, wenn auch in etwas anderer Form, als er sich das vorgestellt hatte.
„Bist du, bist du weiblich?“ begehrte er vorsichtig zu wissen.
„Aber natürlich, du Dummerchen, hast du das denn nicht sofort gemerkt?“
Eberhard hatte es nicht sofort gemerkt, aber nun hob er behutsam die Büroklammer vom Teppichboden auf und drückte sie zärtlich, ganz zärtlich, an sein Herz.
Sodann traf er erneut eine Entscheidung, noch folgenreicher als die, welche er vor einiger Zeit getroffen hatte.
„Ich werde dich zur Frau nehmen, meine Gute, aber vorher werden wir dir noch ein passendes Brautkleid suchen“.

So traten sie denn vor den Traualtar, ein ungewöhnliches Paar; er im tiefdunklen Einreiher und sie mit schneeweißem Kunststoffüberzug, und aus Eberhards bisheriger melancholischer Einsamkeit erwuchs eine wundersame Zweisamkeit, der zwar nicht ein reicher Kindersegen beschert war, die aber langanhaltend und ausreichend vom Glück beschienen wurde.
Dieses Glück strahlt nun auch darüber hinaus auch bis an seinen Arbeitsplatz in seinem einsamen Büro.

Seit jener Zeit nun behandelt Eberhard alle Büroklammern mit ausgesuchter Höflichkeit, und mit so manch einer von ihnen führt er hin und wieder ausgiebige und erquickende Gespräche.
 

herziblatti

Mitglied
Hallo, da bin ich wieder - ich hab ein wenig gesschmöckert. Was soll ich sagen: ich habe von Herzen gelacht!
Eine Kleinigkeit ist mir aufgefallen: das Alter wird zwei- dreimal betont, das ist überflüssig, man weiß bereits ab dem 3. Absatz, zitiere: mehr als 40 Dienstjahre...
Diese Geschichte trifft punktgenau meinen Humor, sie ist kreativ und verdient unbedingt eine Würdigung!
Servus - Heidi
 

Raniero

Textablader
Hallo Heidi,

Ja, da kann ich nichts anderes tun, als Dir von Herzen zu danken, für Würdigung meiner 'Anstrengung'. :):):)

Ich hatte die Story schon unter 'ferner liefen' gebucht, und nun sowas!

Gruß Raniero

PS
Die Bandbreite des Humors ist enorm.
 



 
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