Die Suppenesser

Die Suppenesser



Es war schon weit nach Mitternacht. Friedrich spähte angestrengt aus dem Fenster der Straßenbahn. Vier Stationen, hatte der Mann in der Kneipe gesagt. Die Straßen waren leer und trostlos. Friedrich war der einzige Fahrgast.

Er war zu einer Fachtagung der Buchhändler in die Stadt gekommen. Eigentlich hätte er heute wieder nach Hause fahren sollen. Aber dann war er mit einigen Kollegen, die er hier kennengelernt hatte, noch in eine Bar gegangen. Die Großstadt lockte. Wann hat man als Provinzler schon mal so eine Gelegenheit.

Schließlich war er dann in dieser altertümlichen Bierkneipe gelandet, wo die Kellnerinnen gekleidet waren wie vor hundert Jahren, mit langen Röcken und langen weißen Schürzen mit Rüschen und großen Schleifen. Einige der Tische standen auf Podesten, die von Holzgeländern eingefaßt waren. Alles war alt und pittoresk und strahlte Tradition aus. Dort hatte Friedrich diesen Typ kennengelernt. Der Mann war offenbar Stammgast. Irgendwie paßte er in die Gaststätte. Friedrich wurde bei seinem Anblick an eine Karikatur von George Grosz erinnert. Er war stämmig und untersetzt und sein Kopf war rund und kahl wie eine Billardkugel. Seine kleinen, hell bewimperten blauen Augen blinzelten durch eine Brille mit runden, schwarz umrandeten Gläsern, die fast wie ein Kneifer aussah. Seine Gesichtsfarbe war rosig und er lächelte fortwährend amüsiert mit einem kindlichen Schmollmund. Er lud Friedrich ein, mit ihm Bier zu trinken, das in diesem Lokal ganz vorzüglich war und aus einer besonderen Brauerei stammte. Später lud er Friedrich auch zum Essen ein. Friedrich aß süßsaures Ragout nach Art des Hauses. Eine alte, ortstypische Spezialität. Es schmeckte delikat. Das Fleisch war hell und sehr zart. Dazu gab es fingerdicken Spargel und Kartoffeln.

Friedrichs neuer Freund war überzeugter Vegetarier. Er hatte sich einen Krautsalat bestellt. Er war der Ansicht, daß die Menschen den Tieren gegenüber verbrecherisch handelten. Der Abend war schon fortgeschritten und Friedrich nicht unerheblich alkoholisiert. Darum hörte er geduldig und verständnisvoll den merkwürdigen Theorien seines spendablen Zechgenossen zu.

„Nehmen Sie die Schweine,“ sagte der. „Das sind hochsensible, intelligente Wesen. Das Schwein könnte dem Menschen ein Freund und Gefährte sein. Statt dessen werden diese bedauernswerten Kreaturen wie seelenloser Rohstoff behandelt. Ein millionenfaches Martyrium findet in den Schlachthöfen dieser Welt statt, tagein, tagaus. Wenn man das mit Hunden oder Katzen täte, ginge ein Aufschrei der Empörung durch die zivilisierte Menschheit. Aber mit den Schweinen hat niemand Erbarmen. Dabei stehen sie in der Rangordnung der Evolution ungleich höher als Hunde oder Katzen. Man könnte sie den Delphinen gleichsetzen. In mancher Hinsicht, was zum Beispiel bestimmte Bereiche der Wahrnehmung und Sensibilität betrifft, sind sie sogar den Menschen überlegen. Aber man tut so, als hätten sie keine Seele. Ich frage Sie, könnten Sie nach bestem Wissen und Gewissen beschwören, daß ein Schwein keine Seele hat?“

Je länger Friedrich dem rosigen Kahlkopf zuhörte, um so mehr mußte er ihm Recht geben. Die Menschen begingen wirklich ungeheuerliche Verbrechen an den Tieren. Die gesamte menschliche Zivilisation beruhte auf fabrikmäßig betriebenem Mord und mitleidloser Grausamkeit. Das wußte jeder, aber niemanden kümmerte es.

„Das ist nicht christlich,“ sagte Friedrichs neuer Freund düster. „Ein Schwein hat eine Seele, ebenso wie ein Mensch. Christus ist auch für die Tiere am Kreuz gestorben. Solange das die Menschen nicht erkannt und bereut haben, können sie nicht erlöst werden. Ein Fluch lastet auf ihnen und auf ihren Werken. Was sie auch ersinnen und unternehmen, es wird ihnen kein Glück bringen und sich letztlich gegen sie wenden.“

Er bestellte noch zwei weitere halbe Liter. Friedrich protestierte. Er mußte sich noch ein Quartier für die Nacht besorgen. Ein preiswertes Hotelzimmer oder eine Pension.

„Das ist kein Problem,“ sagte der Tierfreund. „Ich habe hier eine Bude in der Nähe, da können Sie übernachten. Ich selber schlafe bei einer Freundin. Bei meinem Bratkartoffelverhältnis.“

Er hatte ihm dann einen Schlüssel für die Wohnung gegeben und ihm erklärt, wie er dorthin gelangte.

„Sie fahren vier Stationen mit der Straßenbahn. Dann gehen Sie in Fahrtrichtung weiter, bis Sie zu einem großen, alten Fabrikgebäude kommen. Sie können es nicht verfehlen. An der Frontseite ist eine Leuchtreklame. Sie stellt eine Familie dar, die um einen Tisch herum sitzt und Suppe löffelt. In der Fabrik wird Suppenkonzentrat hergestellt. Dort biegen Sie von der Hauptstraße ab und gehen die Straße hinunter. Es sind alles uralte Häuser, irgendwann werden sie wohl demnächst abgerissen. Sie gehen in das Haus gleich hinter der Suppenfabrik. Dort befindet sich die Wohnung im obersten Stock. Machen Sie es sich bequem. Früh können Sie sich einen Kaffee kochen. In der Küche finden Sie alles, was Sie brauchen. Wenn Sie gehen, legen Sie den Schlüssel auf den Tisch und schlagen einfach die Tür hinter sich zu.“

Jetzt war Friedrich hundemüde und wollte nur schlafen.

„Vierte Station,“ murmelte er, stand auf, stellte sich an die Tür und drückte den Knopf an der Haltestange. Die Bahn hielt, die Tür öffnete sich und Friedrich stieg aus. Es war dunkel und menschenleer. Die Bahn fuhr schnell weiter, als wollte sie sich hier nicht länger aufhalten. Friedrich ging in gleicher Richtung die Straße entlang. Bald erblickte er die Leuchtreklame. Sie war wirklich nicht zu verfehlen. Außer vereinzelten Straßenlaternen gab es sonst kein Licht hier. Die Reklame bedeckte die ganze der Hauptstraße zugewandte Schmalseite eines großen Gebäudes. Auf ihr war eine Familie dargestellt, Vater, Mutter, ein Junge und ein Mädchen, das als solches an einem Paar Zöpfen erkenntlich war. Sie saßen an einem Tisch und hatten alle einen Teller vor sich. Sie hielten große Löffel in den Händen, die sie ununterbrochen vom Teller zum Mund bewegten. Ebenso regelmäßig baute sich darunter eine Leuchtschrift auf, die lautete:

„Uns schmeckt‘s. Hmmm ... Eine gute Suppe von Schmacki.“

Friedrich ging auf das Gebäude zu. Es war eine düstere, uralte Fabrik, ein Ziegelbau, der noch aus den Zeiten Adolph Menzels zu stammen schien. Durch ein verschmutztes, mit Spinnweben bedecktes Fenster an der Längsseite konnte man im Inneren große metallene Kessel erblicken, in denen etwas summte. Rohre und metallene Laufschienen, von denen Ketten herabhingen, durchzogen die Produktionshalle. Darüber wölbte sich ein Dach, das aus verrosteten eisernen Streben und rußigem Glas bestand. Am Tag fiel von dort wahrscheinlich trübes Licht herein. Jetzt war alles dunkel und nur wenige rot oder gelb glimmende Lämpchen zeigten an, daß die Fabrikanlage in Betrieb war. Friedrich konnte sich nur mit Schaudern vorstellen, daß hier Lebensmittel hergestellt wurden.

Die Suppenfabrik stand an der Einmündung einer Straße, die von der Hauptstraße wegführte. Die Straße war düster, nur wenige Laternen brannten. Die Häuser sahen heruntergekommen und verlassen aus. Viele Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Es schien hier kaum noch jemand zu wohnen.

Friedrich war sehr müde. Er suchte nur einen Platz zum Schlafen. In welcher Umgebung der sich befand, war ihm mittlerweile egal. Er ging zu dem ersten Haus hinter der Suppenfabrik, wie es der George-Grosz-Typ beschrieben hatte. Die Haustür war offen. Friedrich trat ein und suchte im Dunkeln einen Lichtschalter. Er fand ihn schließlich und drückte auf einen altmodischen Knopf. Was er sah, war nicht sehr ermutigend. Alles war schmutzig, morsch und kaputt. Auf dem Fußboden lagen Bretter, darunter klafften Löcher. Die Treppe, die nach oben führte, bestand aus alten, durchgetretenen Holzstiegen, das Treppengeländer war teilweise zerbrochen. Resigniert, aber zielstrebig stieg Friedrich hinauf. Jede Stufe knarrte und quietschte anders. Egal, nur endlich schlafen.

Schließlich erreichte er das oberste Stockwerk. Drei Wohnungstüren befanden sich hier. Friedrich wandte sich der mittleren zu, die ein Schild mit dem Namen trug, der ihm genannt worden war, und steckte den Schlüssel ins Schloß. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen.

Das Licht ging aus und Friedrich suchte den Knopf für die Treppenbeleuchtung. Er schaltete sie wieder ein und versuchte erneut, in aller Ruhe und mit Gefühl, die Tür aufzuschließen. Es ging nicht. Vielleicht hatte der Mann in der Kneipe ihm den falschen Schlüssel gegeben. Friedrich fühlte Wut und Ärger in sich aufsteigen. Da hatte er sich etwas Schönes eingebrockt. Mitten in der Nacht war er allein in einer gottverlassenen Gegend in einer fremden Großstadt. Hätte er nur nicht diesem Riesenbaby vertraut. Der Mann war offensichtlich ein unzurechnungsfähiger Spinner. Wie sollte er jetzt wieder von hier wegkommen. Außerdem war er todmüde.

Friedrich fühlte Panik in sich aufsteigen. Er kämpfte das Gefühl nieder. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren. Er ging die Treppe wieder hinunter. Der nächste Treppenabsatz sah ähnlich aus wie der obere. Eine der Wohnungstüren war angelehnt. Wahrscheinlich waren etliche Wohnungen in dem Haus unbewohnt. Friedrich öffnete die Tür und sah hinein. Die Wohnung war tatsächlich leer. Nur noch Schutt und Tapetenreste befanden sich darin. Friedrich ging hinein und zog die Tür hinter sich zu. Wenigstens ein Dach über dem Kopf, dachte er. Er hatte keine Lust, jetzt wie ein Somnambuler draußen in der Nacht herumzulaufen. Er ging in eines der Zimmer, breitete seinen Mantel auf dem Boden aus und legte sich seine Tasche als Kopfkissen zurecht. Nicht gerade der Gipfel der Bequemlichkeit, aber es würde schon gehen.

Er wollte die Augen schließen und sich trotz des harten Bodens, den er durch den dünnen Mantel hindurch spürte, dem Schlaf hingeben, als er Musik, gedämpfte Stimmen und Gelächter hörte. Friedrich stand wieder auf und ging an eines der Fenster, aus dessen Richtung die Geräusche kamen. Er blickte hinaus. Von hier aus sah man in die Höfe hinter den Häusern. In einem war eine fröhliche Gesellschaft versammelt.

Es waren meist jüngere Leute, die allesamt einen etwas bohemehaften Eindruck machten. Einer, mit einem auffällig leuchtenden roten Tuch um den Hals, spielte Gitarre und sang dazu. Die anderen sangen verhalten mit oder unterhielten sich. Ein Grill glühte noch und einige bunte Lampen erhellten die Szene. Friedrich beneidete diese Menschen, die hier offenbar ein ungezwungenes Leben führten. Am liebsten hätte er sich zu ihnen gesetzt. Sie hätten sicher nichts dagegen gehabt. Aber dazu war es zu spät. Friedrich zog sich seufzend wieder auf sein hartes Lager zurück. Binnen kurzem war er eingeschlafen.

Er schlief unruhig. Die harte Unterlage drückte auf seine Schultern und Hüftknochen. Dann wurde er durch Lärm geweckt. Schritte polterten auf der Treppe. Es hörte sich an, als ob mehrere Personen etwas Schweres die Stufen hinunter zerrten. Friedrich schlug die Augen auf. Das Poltern entfernte sich. Die Zimmerdecke und die Wand über ihm waren jetzt von hellem, unruhigem Licht beschienen. Es fiel durch ein Fenster, das dem Fabrikgelände zugewandt war. Mit schmerzenden Gliedern erhob sich Friedrich und ging zu dem Fenster, um zu sehen, was dort los war.

Die Suppenfabrik war aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Lieferwagen und LKWs fuhren hinein und hinaus. Die Fabrikhalle war jetzt hell erleuchtet. Die Produktionsanlagen summten, brummten, zischten und schnauften. Durch die schmutzig-trüben Oberlichter sah Friedrich eine Laufschiene. Rollen liefen auf ihr entlang, an denen, von Ketten gehalten, große Körper hingen. Sie wanderten durch die ganze Halle zu einem brodelnden Kessel, in dem sie untertauchten. Es mußten wohl frisch geschlachtete Schweine sein, die abgebrüht wurden. Wahrscheinlich war gerade eine größere Lieferung gekommen.

Aber irgendwie sahen die Körper nicht aus wie Schweine. Sie waren zu länglich. Lange Gliedmaßen baumelten lose herab. Stetig und unaufhaltsam bewegte sich die Reihe vorwärts. Ein Körper nach dem anderen erschien in Friedrichs Blickfeld, zog vorüber und wurde in den dampfenden Kessel getaucht. An einem war, selbst durch das schmutzige, halbblinde Glas hindurch, ein auffällig leuchtendes rotes Tuch erkennbar.

Im ersten fahlen Morgenlicht schlich sich Friedrich aus dem Haus. Er wechselte auf die andere Straßenseite, um nicht unmittelbar an der Fabrik vorbeigehen zu müssen. Als er die Hauptstraße erreichte, sah er noch einmal hinüber. Die Fabrik summte monoton vor sich hin und stieß ab und zu eine Dampfwolke aus. Die Leuchtreklame war immer noch in Betrieb. Unermüdlich hoben die Suppenesser ihre riesigen Löffel vom Teller zum Mund, vom Teller zum Mund.

„Uns - schmeckt’s. – Hmmm ... – Eine – gute - Suppe – von – Schmacki.“

In der Ferne sah Friedrich eine Straßenbahn auftauchen. Er begann, in Richtung der Haltestelle zu laufen. Die Straßenbahn kam näher. Friedrich rannte, als liefe er um sein Leben.
 



 
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