Die Taschendiebin

Raniero

Textablader
Die Taschendiebin

„Was machen Sie denn da“, wehrte sich der junge Mann energisch, „nehmen Sie die Hand von meinen Sachen!“
Voller Zorn blickte er auf die neben ihm sitzende ältere Dame herab.
Er hatte keinen Sitzplatz mehr gefunden, in der überfüllten U-Bahn und voll bepackt mit Taschen und Paketen, stand er im Gedränge, als sich diese Dame plötzlich erdreistete, ihm einfach die größte Einkaufstüte abzunehmen und sich selbst wortlos auf den Schoß zu packen.
„So etwas habe ich ja noch nie erlebt“, erhob er seine Stimme, „geben Sie mir sofort meine Tüte zurück! Das ist ja eine bodenlose Frechheit.“
„Was regen Sie sich denn so auf“, konterte die ältere Dame, „ich wollte Ihnen ja nur helfen. In Korea, wohlgemerkt, in Südkorea, hätte sich kein Mensch darüber beschwert, da hätte man sich bei mir bedankt.“
„Wie bitte? Was reden Sie denn da für einen Unsinn?“
„Ja, wissen Sie denn nicht, dass es dort in den öffentlichen Verkehrsmitteln selbstverständlich ist, dass sitzende Fahrgäste den Stehenden schweres Gepäck abnehmen?“
„Woher soll ich das denn wissen? Ich war noch nie in Korea. Sagen Sie mal“, wurde der junge Mann umgänglicher, „woher wissen Sie das denn?“
„Nun“, lächelte die ältere Dame, „mein Sohn lebt dort, in Südkorea. „Ich war zwar erst einmal dort, aber dabei erfuhr ich so manches über die Sitten und Gebräuche.“
„Ach, das ist ja interessant.“
Die Wut des jungen Mannes war verraucht; es setzte eine lockere, entspannte Unterhaltung über fernöstliche Sitten ein.
„An der nächsten Station muss ich leider aussteigen“, sagte er schließlich, „es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Kann ich bitte meine Einkaufstüte wieder haben?“
„Aber natürlich.“

Zwei Tage später trafen sie sich wieder, in der gleichen U-Bahn.
Er winkte ihr schon von weitem zu.
Wiederum hatte er nur einen Stehplatz ergattert, doch dieses Mal ließ er sich die schwerste Einkaufstüte nicht erst von ihr aus der Hand nehmen, sondern drückte sie ihr gleich auf den Schoß.
„Ich sehe, Sie haben dazu gelernt, junger Mann“, lächelte die ältere Dame. Schon knüpften beide an ihre vorherige Unterhaltung über Koreas Sitten und Gebräuche an.
Während sie, eifrig ins Gespräch vertieft, ihre nähere Umgebung kaum noch wahrnahmen, stiegen an der nächsten Haltestelle Polizisten in Zivil zu.
Das Gerücht ging um, in der City sei eine Bank überfallen worden, der Täter zu Fuß geflohen, weit könne er noch nicht gekommen sein.
Die Beamten überprüften alle verdächtig erscheinenden Fahrgäste, durchwühlten zahlreiche Taschen und Tüten, wurden aber nicht fündig.
„Ich trenn mich ja ungern von Ihnen“, sagte der junge Mann zu der älteren Dame, „es gibt noch so vieles, was ich noch gern erfahren hätte, aber an der nächsten Station muss ich leider aussteigen. Kann ich bitte meine Einkaufstüte wieder haben?“
„Aber natürlich.“
„Ach, was ich noch sagen wollte. Vielleicht fliege ich auch mal nach Korea, eventuell sogar schon sehr bald. Was kostet eigentlich so ein Flug?“
„Um die Tausend Euro, hin und zurück.“
„Ach, mehr nicht; das sind ja Peanuts.“
 



 
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