Die Tulpe

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claudianne

Mitglied
Sie war klein und ihre Blütenblätter hatten die Farbe von unreifen Erdbeeren. Wenn der Wind sanft ein paar Sonnenstrahlen übers Blumenbeet pustete, wiegte sie mit den anderen Tulpen ihr Köpfchen und lauschte dem Rascheln des hellgrünen Grases. Die kleine Tulpe liebte den Frühling. Es war ihr Erster.

Langsam kletterte die Sonne am Himmel hinauf und die Tulpe begann zu schwitzen. Der große Baum hatte längst Blätter bekommen, aber sein Schatten reichte nicht bis zum Blumenbeet. Die kleine Tulpe fühlte sich so schwach, dass sie ihr Köpfchen nicht mehr halten konnte. Erst nachts, wenn die Tautropfen im kühlen Licht der Glühwürmchen schimmerten, richtete sie sich wieder auf. Doch eines Morgens wollte ihr das nicht gelingen: Tautropfen lasteten wie schwere Steine auf ihren Blättern. Die anderen Tulpen, die groß und prächtig gewesen waren, lagen schon auf dem Boden.
„Ich möchte nicht verwelken!“ Zitternd hob die Tulpe ihr Köpfchen. Der Wind half mit.
„Ich möchte nicht verwelken. Ich … “, dann wich alle Kraft aus ihren Blättern und mit einem letzten Seufzen sank sie sanft auf die Erde.

Der Baum deckte die Tulpe mit seinen Blättern zu. Der Wind raschelte ein Schlaflied. Ein Eichhörnchen versteckte eine Nuss im Blätterbett und ein Igel kuschelte sich dazu. Die Tulpe schlief und merkte nichts.

Als es noch kälter wurde, deckte der Winter das Beet mit einer dicken Schneedecke zu. Flauschige Flöckchen bauten ein Kissen, unter dem das Eichhörnchen seine Nuss nicht mehr finden konnte. Die Tulpe träumte vom Frühling.

Es wurde wärmer. Der Winter packte seine Decken wieder ein und die Vögel zwitscherten so laut, dass schließlich auch die kleine Tulpe aufwachte. Sie reckte und streckte sich und bald schon spitzte ihr Kopf aus der Erde heraus. Die Tulpe schob ihren Hals in den Himmel, und als die Sonne sie im Gesicht kitzelte, öffnete sie die Augen: Ihre Blütenblätter leuchteten purpurrot. Ein Schmetterling setzte sich auf ihren Kopf und säuselte ein fröhliches Lied. Die Tulpe tanzte mit dem Wind dazu. Sie liebte den Frühling. Jedes Jahr wieder.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Eine süße, kleine Allegorie auf das Werden, Sein und Vergehen in Natur, kindertauglich und übertragbar auf das menschliche Leben.

Ich lese immer wieder mal in deinen Werken und bin stets von deinem einfühlsamen, gut beobachtenden Stil beeindruckt.

Liebe Grüße vom Ironbiber
 

claudianne

Mitglied
Hallo Ironbiber,

dankeschön! Ich hatte es z.B. als Erklärung für die Notwendigkeit des täglichen Einschlafens gedacht.

Viele Grüße,
Claudia
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Es freut mich, ...

... dass deine Tulpe noch so reges Interesse und so gute Bewertungen gefunden hat.

Dann war meine damals allererste Einschätzung doch nicht falsch.
Möge dieser Erfolg deiner Kreativität Flügel verleihen und der Leselupe weitere tolle Geschichten und Allegorien für kleine und große Kinder bescheren.

Es grüßt dich zum zweiten Mal … der Ironbiber
 



 
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