Die Unsichtbare

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die aktuelle Version findet sich hier weiter unten.


Silke betrat die vom Mondlicht in dämmeriges Licht getauchte Küche, nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Sie lauschte. Im Haus war es still. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres. Sie setzte sich an den Tisch und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.

„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie betrachtete sein müdes Gesicht, die klugen Augen hinter der Brille, den sanft geschwungenen, beinahe femininen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt. Du hast dich auch nicht an den Spielen und der Unterhaltung beteiligt.“

Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte? Dass noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Dass danach sowieso alles vorbei wäre?

„Kann es sein“, setzte er behutsam an, „dass ich dir … nun sagen wir … sehr gefalle?“

Sie nickte beklommen. Er stützte das Kinn in die linke Hand. „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Sie blickte nicht auf, konzentrierte sich auf den Anblick seiner gebräunten rechten Hand, die wie ein kleines Tier auf dem Tisch ruhte. „Ich muss dir etwas erklären“, fuhr er fort, wie ein Arzt, der weh tun muss, um zu heilen. „Ich mag dich ja auch, ich habe gemerkt, dass du anders bist als die übrigen Mädchen, nicht so laut, nicht so affig, nicht so auf Äußerlichkeiten bedacht, aber ich bin vierundzwanzig und studiere. Und du bist erst sechzehn und gehst noch zur Schule. Bald beginnt wieder das Semester, ich habe viele Klausuren zu bestehen und keine Zeit für eine Freundin. Also ich meine“, er stockte , „wir sind eben einfach zu weit auseinander, nicht nur vom Alter her und … “, er brach ab und schwieg, da sie es auch immer noch tat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fügte er an: „Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen. Aber ich muss dir trotzdem etwas sagen: Du hast wunderschöne Augen. Und jetzt gehen wir schlafen, es ist schon halb vier, in vier Stunden gibt es Frühstück!“

Silke stand auf, langsam, wie gelähmt, und blickte ihn an, senkte aber den Blick gleich wieder. Er drückte ihre Schultern und dann gingen sie hintereinander die Treppe hoch, er ging nach rechts, sie nach links. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest.
Silke lag schlaflos im Bett, konnte nicht weinen und hätte es gern. Drei Tage musste sie noch überstehen, jetzt war es nur noch ein Überstehen, keine Freude mehr, ihn noch in dieser Zeit erleben zu können.

Ein paar Stunden später saß sie beim Frühstück inmitten fünfzig schwatzender Jugendlicher. Sie brachte beinahe keinen Bissen herunter. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er am Tisch mit den anderen Betreuern Kaffee trank. Auch er wirkte übernächtigt, sah aber wie immer umwerfend aus in seinem weißen Polohemd und der blauen Leinenhose. „Guck mal, der Michael, kein Wässerchen kann der wieder trüben“, sagte ihre Freundin Ilse mit vollem Mund, „der tut so brav, dabei hab ich mitgekriegt, wie der mit Mona auf dem Bett lag“, fuhr sie fort und schob sich ein neues Croissant zwischen die Zähne. „Der? Mit Mona? Der steht auf Atombusen, kein Hirn inner Birne und nen dicken Arsch?“, fragte ein anderes Mädchen ungläubig. „Ja klar“, erklärte Ilse ungerührt, „die Zimmertür war nur angelehnt, ich wollte den etwas fragen und da sah ich die beiden knutschend auf dem Bett. Die erkundeten gerade gegenseitig ihre Rachenmandeln!“

Silke verschluckte sich beinahe an dem Schluck Tee, den sie gerade trinken wollte. Ihr Michael mit Mona, dieser aufgedonnerten Tussi ohne Schulabschluss? Die sich hier als Küchenhilfe einen Urlaub verdiente? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Solche Typen zog er vor? Ihr vor. Natürlich, Mona war schon zwanzig. Silke war nur sechzehn, zu jung für ihn und … „Habt ihr alle gut geschlafen?“ hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen, während die anderen wild durcheinander redeten. „Heute machen wir die Bootsfahrt, denkt bitte daran, pünktlich um zehn Uhr am Anleger zu sein“, sagte Michael und verschwand aus ihrem Blickfeld, nicht ohne sie noch kurz intensiv zu taxieren. Silke wünschte sich Wut herbei, um „blödes Arschloch“ denken zu können, aber sie fühlte nur eine traurige Leere. -



„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein. Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte. Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie. „Ich schieb den Wagen“, schlug Jonas vor und vorsichtig bugsierte er das inzwischen hoch gefüllte Gefährt zu dem Regal mit den bunten Flaschen und Packungen, die porentiefe Reinheit versprachen. Silke griff nach Spülmittel, als sie plötzlich eine sanfte Stimme hörte. „Nehmen wir denn keinen besonderen Reiniger für die Spüle mehr“?, fragte ein Mann. Silke zuckte zusammen. Sie studierte übertrieben genau die Rückseite der Spüliflasche und schielte seitwärts. Das musste Michael sein. Eine Stimme verändert sich nicht. Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten, aber gut aussehen tat er noch immer. Sie rechnete – er musste jetzt 48 sein. Neben ihm eine hübsche blonde Frau, wesentlich jünger als er. Und wesentlich jünger als Silke.

Silke drehte sich um, legte die Flasche zu den übrigen Dingen in den Wagen und sagte zu Jonas: „Komm, wir müssen gehen. Papa wartet!“ und ging Richtung Kasse. Michael diskutierte mit seiner Begleitung weiter die Säuberung der Spüle und beachtete weder sie noch ihren Sohn. „Mama, die Streuselpackung rieselt“, rief Jonas zwischen ihre Gedanken. „Ich hole eine neue!“ Silke nickte ihm zu und packte die übrigen Sachen auf das Band. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael auf ihr Band zusteuerte. Nein, lieber Gott, bitte nicht, sandte Silke ein Stoßgebet zum Himmel. Gott hörte sie nicht. Denn Michael stand nun mit seiner Begleitung hinter ihr. Silke ordnete ihre Einkäufe und wandte sich halb seitwärts. Michael beachtete sie nicht, redete weiter auf seine Freundin (oder Frau) ein. Silke überlegte, die Streuselpackung nach ihm zu werfen und ihn in eine Million Schokoladenstäbchen zu hüllen … dann müsste er sie zumindest ansehen.

Wahrscheinlich würde er sie gar nicht erkennen.
 
Zuletzt bearbeitet:

molly

Mitglied
Liebe Doc,

die Geschichte könnte auch heißen: Wie das Leben so spielt.
Als Unsichtbare würde ich Silke nicht bezeichnen, schließlich hat sich Michael mitten in der Nacht zu ihr gesetzt.

"Eine Stimme verändert sich nicht."
Doch, die Stimme verändert sich mit den Jahren, behaupte ich jetzt einfach mal von mir.

"Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten,

aber gut aussehen tat er noch immer."

Vorschlag für diesen Satz:
""aber er sah noch immer gut aus.""

Gern gelesen!

Viele Grüße

molly
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Silke betrat die vom Mondlicht in dämmeriges Licht getauchte Küche, nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Sie lauschte. Im Haus war es still. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres. Sie setzte sich an den Tisch und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.

„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie betrachtete sein müdes Gesicht, die klugen Augen hinter der Brille, den sanft geschwungenen, beinahe femininen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt. Du hast dich auch nicht an den Spielen und der Unterhaltung beteiligt.“

Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte? Dass noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Dass danach sowieso alles vorbei wäre?

„Kann es sein“, setzte er behutsam an, „dass ich dir … nun sagen wir … sehr gefalle?“

Sie nickte beklommen. Er stützte das Kinn in die linke Hand. „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Sie blickte nicht auf, konzentrierte sich auf den Anblick seiner gebräunten rechten Hand, die wie ein kleines Tier auf dem Tisch ruhte. „Ich muss dir etwas erklären“, fuhr er fort, wie ein Arzt, der weh tun muss, um zu heilen. „Ich mag dich ja auch, ich habe gemerkt, dass du anders bist als die übrigen Mädchen, nicht so laut, nicht so affig, nicht so auf Äußerlichkeiten bedacht, aber ich bin vierundzwanzig und studiere. Und du bist erst sechzehn und gehst noch zur Schule. Bald beginnt wieder das Semester, ich habe viele Klausuren zu bestehen und keine Zeit für eine Freundin. Also ich meine“, er stockte , „wir sind eben einfach zu weit auseinander, nicht nur vom Alter her und … “, er brach ab und schwieg, da sie es auch immer noch tat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fügte er an: „Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen. Aber ich muss dir trotzdem etwas sagen: Du hast wunderschöne Augen. Und jetzt gehen wir schlafen, es ist schon halb vier, in vier Stunden gibt es Frühstück!“

Silke stand auf, langsam, wie gelähmt, und blickte ihn an, senkte aber den Blick gleich wieder. Er drückte ihre Schultern und dann gingen sie hintereinander die Treppe hoch, er ging nach rechts, sie nach links. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest.
Silke lag schlaflos im Bett, konnte nicht weinen und hätte es gern. Drei Tage musste sie noch überstehen, jetzt war es nur noch ein Überstehen, keine Freude mehr, ihn noch in dieser Zeit erleben zu können.

Ein paar Stunden später saß sie beim Frühstück inmitten fünfzig schwatzender Jugendlicher. Sie brachte beinahe keinen Bissen herunter. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er am Tisch mit den anderen Betreuern Kaffee trank. Auch er wirkte übernächtigt, sah aber wie immer umwerfend aus in seinem weißen Polohemd und der blauen Leinenhose. „Guck mal, der Michael, kein Wässerchen kann der wieder trüben“, sagte ihre Freundin Ilse mit vollem Mund, „der tut so brav, dabei hab ich mitgekriegt, wie der mit Mona auf dem Bett lag“, fuhr sie fort und schob sich ein neues Croissant zwischen die Zähne. „Der? Mit Mona? Der steht auf Atombusen, kein Hirn inner Birne und nen dicken Arsch?“, fragte ein anderes Mädchen ungläubig. „Ja klar“, erklärte Ilse ungerührt, „die Zimmertür war nur angelehnt, ich wollte den etwas fragen und da sah ich die beiden knutschend auf dem Bett. Die erkundeten gerade gegenseitig ihre Rachenmandeln!“

Silke verschluckte sich beinahe an dem Schluck Tee, den sie gerade trinken wollte. Ihr Michael mit Mona, dieser aufgedonnerten Tussi ohne Schulabschluss? Die sich hier als Küchenhilfe einen Urlaub verdiente? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Solche Typen zog er vor? Ihr vor. Natürlich, Mona war schon zwanzig. Silke war nur sechzehn, zu jung für ihn und … „Habt ihr alle gut geschlafen?“ hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen, während die anderen wild durcheinander redeten. „Heute machen wir die Bootsfahrt, denkt bitte daran, pünktlich um zehn Uhr am Anleger zu sein“, sagte Michael und verschwand aus ihrem Blickfeld, nicht ohne sie noch kurz intensiv zu taxieren. Silke wünschte sich Wut herbei, um „blödes Arschloch“ denken zu können, aber sie fühlte nur eine traurige Leere. -



„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein. Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte. Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie. „Ich schieb den Wagen“, schlug Jonas vor und vorsichtig bugsierte er das inzwischen hoch gefüllte Gefährt zu dem Regal mit den bunten Flaschen und Packungen, die porentiefe Reinheit versprachen. Silke griff nach Spülmittel, als sie plötzlich eine sanfte Stimme hörte. „Nehmen wir denn keinen besonderen Reiniger für die Spüle mehr“?, fragte ein Mann. Silke zuckte zusammen. Sie studierte übertrieben genau die Rückseite der Spüliflasche und schielte seitwärts. Das musste Michael sein. Eine Stimme verändert sich nicht. Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten, aber er sah noch immer gut aus. Sie rechnete – er musste jetzt 48 sein. Neben ihm eine hübsche blonde Frau, wesentlich jünger als er. Und wesentlich jünger als Silke.

Silke drehte sich um, legte die Flasche zu den übrigen Dingen in den Wagen und sagte zu Jonas: „Komm, wir müssen gehen. Papa wartet!“ und ging Richtung Kasse. Michael diskutierte mit seiner Begleitung weiter die Säuberung der Spüle und beachtete weder sie noch ihren Sohn. „Mama, die Streuselpackung rieselt“, rief Jonas zwischen ihre Gedanken. „Ich hole eine neue!“ Silke nickte ihm zu und packte die übrigen Sachen auf das Band. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael auf ihr Band zusteuerte. Nein, lieber Gott, bitte nicht, sandte Silke ein Stoßgebet zum Himmel. Gott hörte sie nicht. Denn Michael stand nun mit seiner Begleitung hinter ihr. Silke ordnete ihre Einkäufe und wandte sich halb seitwärts. Michael beachtete sie nicht, redete weiter auf seine Freundin (oder Frau) ein. Silke überlegte, die Streuselpackung nach ihm zu werfen und ihn in eine Million Schokoladenstäbchen zu hüllen … dann müsste er sie zumindest ansehen.

Wahrscheinlich würde er sie gar nicht erkennen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo molly,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Die Änderung habe ich übernommen.

Der Titel bezieht sich natürlich eher auf den zweiten Teil, als Silke nicht wahrgenommen wird. Ich habe lange nach einem passenden gesucht, aber etwas Besseres fiel mir (noch) nicht ein.

Ich habe eine andere Erfahrung mit Stimmen gemacht, die ich in die Geschichte eingebaut habe.

Viele Grüße,

DS
 
Hallo Doc Schneider,

auch ich habe die Geschichte gerne gelesen, liest sich flüssig und unterhaltsam. Stilistisch ließen sich ein paar Kleinigkeiten verbessern, hier z. B.:

Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte? Dass noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Dass danach sowieso alles vorbei wäre?
Zuviel dass....

LG SilberneDelfine
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Silke betrat die vom Mondlicht in dämmeriges Licht getauchte Küche, nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Sie lauschte. Im Haus war es still. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres. Sie setzte sich an den Tisch und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.

„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie betrachtete sein müdes Gesicht, die klugen Augen hinter der Brille, den sanft geschwungenen, beinahe femininen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt. Du hast dich auch nicht an den Spielen und der Unterhaltung beteiligt.“

Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte und ihr nur noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Danach wäre sowieso alles vorbei.

„Kann es sein“, setzte er behutsam an, „dass ich dir … nun sagen wir … sehr gefalle?“

Sie nickte beklommen. Er stützte das Kinn in die linke Hand. „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Sie blickte nicht auf, konzentrierte sich auf den Anblick seiner gebräunten rechten Hand, die wie ein kleines Tier auf dem Tisch ruhte. „Ich muss dir etwas erklären“, fuhr er fort, wie ein Arzt, der weh tun muss, um zu heilen. „Ich mag dich ja auch, ich habe gemerkt, dass du anders bist als die übrigen Mädchen, nicht so laut, nicht so affig, nicht so auf Äußerlichkeiten bedacht, aber ich bin vierundzwanzig und studiere. Und du bist erst sechzehn und gehst noch zur Schule. Bald beginnt wieder das Semester, ich habe viele Klausuren zu bestehen und keine Zeit für eine Freundin. Also ich meine“, er stockte , „wir sind eben einfach zu weit auseinander, nicht nur vom Alter her und … “, er brach ab und schwieg, da sie es auch immer noch tat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fügte er an: „Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen. Aber ich muss dir trotzdem etwas sagen: Du hast wunderschöne Augen. Und jetzt gehen wir schlafen, es ist schon halb vier, in vier Stunden gibt es Frühstück!“

Silke stand auf, langsam, wie gelähmt, und blickte ihn an, senkte aber den Blick gleich wieder. Er drückte ihre Schultern und dann gingen sie hintereinander die Treppe hoch, er ging nach rechts, sie nach links. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest.
Silke lag schlaflos im Bett, konnte nicht weinen und hätte es gern. Drei Tage musste sie noch überstehen, jetzt war es nur noch ein Überstehen, keine Freude mehr, ihn noch in dieser Zeit erleben zu können.

Ein paar Stunden später saß sie beim Frühstück inmitten fünfzig schwatzender Jugendlicher. Sie brachte beinahe keinen Bissen herunter. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er am Tisch mit den anderen Betreuern Kaffee trank. Auch er wirkte übernächtigt, sah aber wie immer umwerfend aus in seinem weißen Polohemd und der blauen Leinenhose. „Guck mal, der Michael, kein Wässerchen kann der wieder trüben“, sagte ihre Freundin Ilse mit vollem Mund, „der tut so brav, dabei hab ich mitgekriegt, wie der mit Mona auf dem Bett lag“, fuhr sie fort und schob sich ein neues Croissant zwischen die Zähne. „Der? Mit Mona? Der steht auf Atombusen, kein Hirn inner Birne und nen dicken Arsch?“, fragte ein anderes Mädchen ungläubig. „Ja klar“, erklärte Ilse ungerührt, „die Zimmertür war nur angelehnt, ich wollte den etwas fragen und da sah ich die beiden knutschend auf dem Bett. Die erkundeten gerade gegenseitig ihre Rachenmandeln!“

Silke verschluckte sich beinahe an dem Schluck Tee, den sie gerade trinken wollte. Ihr Michael mit Mona, dieser aufgedonnerten Tussi ohne Schulabschluss? Die sich hier als Küchenhilfe einen Urlaub verdiente? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Solche Typen zog er vor? Ihr vor. Natürlich, Mona war schon zwanzig. Silke war nur sechzehn, zu jung für ihn und … „Habt ihr alle gut geschlafen?“ hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen, während die anderen wild durcheinander redeten. „Heute machen wir die Bootsfahrt, denkt bitte daran, pünktlich um zehn Uhr am Anleger zu sein“, sagte Michael und verschwand aus ihrem Blickfeld, nicht ohne sie noch kurz intensiv zu taxieren. Silke wünschte sich Wut herbei, um „blödes Arschloch“ denken zu können, aber sie fühlte nur eine traurige Leere. -



„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein. Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte. Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie. „Ich schieb den Wagen“, schlug Jonas vor und vorsichtig bugsierte er das inzwischen hoch gefüllte Gefährt zu dem Regal mit den bunten Flaschen und Packungen, die porentiefe Reinheit versprachen. Silke griff nach Spülmittel, als sie plötzlich eine sanfte Stimme hörte. „Nehmen wir denn keinen besonderen Reiniger für die Spüle mehr“?, fragte ein Mann. Silke zuckte zusammen. Sie studierte übertrieben genau die Rückseite der Spüliflasche und schielte seitwärts. Das musste Michael sein. Eine Stimme verändert sich nicht. Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten, aber er sah noch immer gut aus. Sie rechnete – er musste jetzt 48 sein. Neben ihm eine hübsche blonde Frau, wesentlich jünger als er. Und wesentlich jünger als Silke.

Silke drehte sich um, legte die Flasche zu den übrigen Dingen in den Wagen und sagte zu Jonas: „Komm, wir müssen gehen. Papa wartet!“ und ging Richtung Kasse. Michael diskutierte mit seiner Begleitung weiter die Säuberung der Spüle und beachtete weder sie noch ihren Sohn. „Mama, die Streuselpackung rieselt“, rief Jonas zwischen ihre Gedanken. „Ich hole eine neue!“ Silke nickte ihm zu und packte die übrigen Sachen auf das Band. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael auf ihr Band zusteuerte. Nein, lieber Gott, bitte nicht, sandte Silke ein Stoßgebet zum Himmel. Gott hörte sie nicht. Denn Michael stand nun mit seiner Begleitung hinter ihr. Silke ordnete ihre Einkäufe und wandte sich halb seitwärts. Michael beachtete sie nicht, redete weiter auf seine Freundin (oder Frau) ein. Silke überlegte, die Streuselpackung nach ihm zu werfen und ihn in eine Million Schokoladenstäbchen zu hüllen … dann müsste er sie zumindest ansehen.

Wahrscheinlich würde er sie gar nicht erkennen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Silberne Delfine,

freut mich, dass Dir der Text gefallen hat!

Deinen Änderungsvorschlag habe ich übernommen, vielen Dank.

LG
DS
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo DocSchneider,

mal ein eigener Text von dir, das hatte ja in den letzten Jahren einen ziemlichen Seltenheitswert. Die erste Liebe wirkt nach, so könnte man, glaube ich, den Grundtenor deiner Geschichte fassen. Dazu passen auch der Bruch nach dem ersten Erzählteil und der zeitliche Sprung, zwischen den beiden Teilen.

Ich glaube aber, dass man was die Geschichte betrifft noch an ein paar Stellschräubchen drehen könnte und habe mich mal ein wenig auf die Suche nach den Haaren in der Erzählsuppe begeben. Ist aber alles nur mein subjektiver Eindruck.

Zum einen betrifft das den Dialog am Anfang. Da beginnst du mit einer recht allgemeinen Feststellung: „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Dieser sprachlich etwas geschwollene Satz will mir nicht so recht zu einem 24 Jährigen passen. Hier würde ich überlegen, ob du den Dialog nicht einfach mit „Ich muss dir etwas erklären...“ beginnen willst.

„Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt.“
Ich würde: „Du schaust mir immer traurig hinterher, aber sagst gar nichts.“ schreiben, um die sprachlich nicht sehr ansprechende Vergangenheitsform zu vermeiden. Außerdem vermeidest du so das doppelte hast.

„Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen.“
Warum nimmst du hier die abgeschlossene Vergangenheit? Das Camp läuft ja noch und er will wohl zum Zeitpunkt des Sprechens immer noch keine Herzen brechen, deswegen bemüht er sich ja nett zu sein.

Beim Abschnitt mit dem Frühstück fehlt mir einleitend ein bisschen die Innenperspektive. Wie fühlt sich Silke mit wenig Schlaf und nach der Abfuhr? Da würden sich glaube ich noch ein oder zwei Sätze lohnen. Zumal der zweite Abschnitt beim Frühstück, dann doch die reflektierende Innenperspektive Silkes aufnimmt.

Im zweiten Teil ist mir dieser Abschnitt hier der unklarste.

„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein.
Ich würde statt rief, etwas detaillierter werden, so dass klar wird, dass er durch den ganzen Laden schreit.

Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte.
Das konstatiert passt nicht so recht zum ansonsten eher lockeren Erzählstil. Außerdem verstehe ich den Dialog an dieser Stelle nicht so recht. Warum sagt Jonas („du hast nichts gesagt.“). Er hat ja alleine geschaut und als sie dazukommt sagt sie doch etwas. Hier würde eher etwas wie…“du hättest mir gleich sagen können, dass sie ganz oben sind“ Sinn machen.

„Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie.“
Er scheint sich aber ziemlich ausführlich mit dem Streuselregal beschäftigt zu haben, wenn seine Mutter ihn drängen muss weiterzugehen und er vorher die ganzen Packungen durchgesehen hat. Das scheint mir nicht so recht zusammenzupassen.

Eine weitere Stelle ist im letzten Abschnitt, da will sie vermeiden von Michel angesprochen zu werden. Sie will schnell zur Kassen und hofft, als sie ihn kommen sieht, dass er nicht an ihre Kasse kommt. Als er sie dann nicht wahrnimmt, will sie aber die Streusel nach ihm werfen, damit er sie zumindest ansehen muss. Die zwei Motive scheinen mir noch nicht so recht zusammenzupassen.

Noch eine Kleinigkeit.
„hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen…“
Hier würde ich den Satz umbauen, um das doppelte hörte zu vermeiden.

Insgesamt ist das trotz meiner Krittelei eine gut zu lesende Geschichte, allerdings eine, die ohne große Höhepunkte auskommt und mit einem recht flachen Spannungsbogen arbeitet. Es muss ja aber auch nicht immer das große Spannungs- und Emotionsfeuerwerk sein.

Liebe Grüße
Blumenberg
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Silke betrat die vom Mondlicht in dämmeriges Licht getauchte Küche, nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Sie lauschte. Im Haus war es still. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres. Sie setzte sich an den Tisch und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.

„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie betrachtete sein müdes Gesicht, die klugen Augen hinter der Brille, den sanft geschwungenen, beinahe femininen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du sagtest nichts. Du hast dich auch nicht an den Spielen und der Unterhaltung beteiligt.“

Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte und ihr nur noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Danach wäre sowieso alles vorbei.

„Kann es sein“, setzte er behutsam an, „dass ich dir … nun sagen wir … sehr gefalle?“

Sie nickte beklommen. Er stützte das Kinn in die linke Hand. „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Sie blickte nicht auf, konzentrierte sich auf den Anblick seiner gebräunten rechten Hand, die wie ein kleines Tier auf dem Tisch ruhte. „Ich muss dir etwas erklären“, fuhr er fort, wie ein Arzt, der weh tun muss, um zu heilen. „Ich mag dich ja auch, ich habe gemerkt, dass du anders bist als die übrigen Mädchen, nicht so laut, nicht so affig, nicht so auf Äußerlichkeiten bedacht, aber ich bin vierundzwanzig und studiere. Und du bist erst sechzehn und gehst noch zur Schule. Bald beginnt wieder das Semester, ich habe viele Klausuren zu bestehen und keine Zeit für eine Freundin. Also ich meine“, er stockte , „wir sind eben einfach zu weit auseinander, nicht nur vom Alter her und … “, er brach ab und schwieg, da sie es auch immer noch tat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fügte er an: „Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen. Aber ich muss dir trotzdem etwas sagen: Du hast wunderschöne Augen. Und jetzt gehen wir schlafen, es ist schon halb vier, in vier Stunden gibt es Frühstück!“

Silke stand auf, langsam, wie gelähmt, und blickte ihn an, senkte aber den Blick gleich wieder. Er drückte ihre Schultern und dann gingen sie hintereinander die Treppe hoch, er ging nach rechts, sie nach links. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest.
Silke lag schlaflos im Bett, konnte nicht weinen und hätte es gern. Drei Tage musste sie noch überstehen, jetzt war es nur noch ein Überstehen, keine Freude mehr, ihn noch in dieser Zeit erleben zu können.

Ein paar Stunden später saß sie beim Frühstück inmitten fünfzig schwatzender Jugendlicher. Sie brachte beinahe keinen Bissen herunter. Nach der sehr kurzen Nacht fühlte sie sich wie gerädert. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er am Tisch mit den anderen Betreuern Kaffee trank. Auch er wirkte übernächtigt, sah aber wie immer umwerfend aus in seinem weißen Polohemd und der blauen Leinenhose. „Guck mal, der Michael, kein Wässerchen kann der wieder trüben“, sagte ihre Freundin Ilse mit vollem Mund, „der tut so brav, dabei hab ich mitgekriegt, wie der mit Mona auf dem Bett lag“, fuhr sie fort und schob sich ein neues Croissant zwischen die Zähne. „Der? Mit Mona? Der steht auf Atombusen, kein Hirn inner Birne und nen dicken Arsch?“, fragte ein anderes Mädchen ungläubig. „Ja klar“, erklärte Ilse ungerührt, „die Zimmertür war nur angelehnt, ich wollte den etwas fragen und da sah ich die beiden knutschend auf dem Bett. Die erkundeten gerade gegenseitig ihre Rachenmandeln!“

Silke verschluckte sich beinahe an dem Schluck Tee, den sie gerade trinken wollte. Ihr Michael mit Mona, dieser aufgedonnerten Tussi ohne Schulabschluss? Die sich hier als Küchenhilfe einen Urlaub verdiente? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Solche Typen zog er vor? Ihr vor. Natürlich, Mona war schon zwanzig. Silke war nur sechzehn, zu jung für ihn und … „Habt ihr alle gut geschlafen?“ vernahm sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen, während die anderen wild durcheinander redeten. „Heute machen wir die Bootsfahrt, denkt bitte daran, pünktlich um zehn Uhr am Anleger zu sein“, sagte Michael und verschwand aus ihrem Blickfeld, nicht ohne sie noch kurz intensiv zu taxieren. Silke wünschte sich Wut herbei, um „blödes Arschloch“ denken zu können, aber sie fühlte nur eine traurige Leere. -



„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas vom gegenüberliegenden Gang und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und schob ihn geradeaus weiter. Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte. Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie. „Ich schieb den Wagen“, schlug Jonas vor und vorsichtig bugsierte er das inzwischen hoch gefüllte Gefährt zu dem Regal mit den bunten Flaschen und Packungen, die porentiefe Reinheit versprachen. Silke griff nach Spülmittel, als sie plötzlich eine sanfte Stimme hörte. „Nehmen wir denn keinen besonderen Reiniger für die Spüle mehr“?, fragte ein Mann. Silke zuckte zusammen. Sie studierte übertrieben genau die Rückseite der Spüliflasche und schielte seitwärts. Das musste Michael sein. Eine Stimme verändert sich nicht. Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten, aber er sah noch immer gut aus. Sie rechnete – er musste jetzt 48 sein. Neben ihm eine hübsche blonde Frau, wesentlich jünger als er. Und wesentlich jünger als Silke.

Silke drehte sich um, legte die Flasche zu den übrigen Dingen in den Wagen und sagte zu Jonas: „Komm, wir müssen gehen. Papa wartet!“ und ging Richtung Kasse. Michael diskutierte mit seiner Begleitung weiter die Säuberung der Spüle und beachtete weder sie noch ihren Sohn. „Mama, die Streuselpackung rieselt“, rief Jonas zwischen ihre Gedanken. „Ich hole eine neue!“ Silke nickte ihm zu und packte die übrigen Sachen auf das Band. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael auf ihr Band zusteuerte. Nein, lieber Gott, bitte nicht, sandte Silke ein Stoßgebet zum Himmel. Gott hörte sie nicht. Denn Michael stand nun mit seiner Begleitung hinter ihr. Silke ordnete ihre Einkäufe und wandte sich halb seitwärts. Michael beachtete sie nicht, redete weiter auf seine Freundin (oder Frau) ein. Silke überlegte, die Streuselpackung nach ihm zu werfen und ihn in eine Million Schokoladenstäbchen zu hüllen … dann müsste er sie zumindest ansehen.

Wahrscheinlich würde er sie gar nicht erkennen.
 
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DocSchneider

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Teammitglied
Hallo Blumenberg,

Du hast Dich sehr intensiv mit meiner Geschichte auseinander gesetzt, vielen Dank dafür! Ich werde versuchen, Dir so ausführlich wie möglich zu antworten.



Hallo DocSchneider,

mal ein eigener Text von dir, das hatte ja in den letzten Jahren einen ziemlichen Seltenheitswert. Die erste Liebe wirkt nach, so könnte man, glaube ich, den Grundtenor deiner Geschichte fassen. Dazu passen auch der Bruch nach dem ersten Erzählteil und der zeitliche Sprung, zwischen den beiden Teilen.
Der Text lag schon länger bei den Anonymen herum und davor noch länger auf der Festplatte. :) Ich habe ihn gelöscht und überarbeitet, damit er endlich mal richtig das Licht der Welt erblickt.

Erste Liebe ist das eher nicht, denn das Mädchen ist ja schon 16. Aber wohl eine einschneidende. Ich fand es reizvoll, die beiden nach sehr langer Zeit aufeinandertreffen zu lassen.




Zum einen betrifft das den Dialog am Anfang. Da beginnst du mit einer recht allgemeinen Feststellung: „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Dieser sprachlich etwas geschwollene Satz will mir nicht so recht zu einem 24 Jährigen passen.

Für mich stimmt das "Geschwollene", da es den Bildungsunterschied bezügl. des Studiums zeigt - und auch, dass der junge Mann nicht oberflächlich daher kommt. Ob er es wirklich nicht ist, bleibt offen . Er sät ja Zweifel daran, weil er sich mit Mona abgegeben hat.



quote:
„Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt.“
Ich würde: „Du schaust mir immer traurig hinterher, aber sagst gar nichts.“ schreiben, um die sprachlich nicht sehr ansprechende Vergangenheitsform zu vermeiden. Außerdem vermeidest du so das doppelte hast.
Ich habe den Satz übernommen, aber in der Vergangenheitsform, da er sich auf ihr Verhalten am Abend bezieht.


quote:
„Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen.“
Warum nimmst du hier die abgeschlossene Vergangenheit? Das Camp läuft ja noch und er will wohl zum Zeitpunkt des Sprechens immer noch keine Herzen brechen, deswegen bemüht er sich ja nett zu sein.
Doch, er spürt, dass ihres schon gebrochen ist. Und sie weiß das auch! Die drei Tage werden nichts mehr ändern, dass wollte ich sagen.



Beim Abschnitt mit dem Frühstück fehlt mir einleitend ein bisschen die Innenperspektive. Wie fühlt sich Silke mit wenig Schlaf und nach der Abfuhr? Da würden sich glaube ich noch ein oder zwei Sätze lohnen. Zumal der zweite Abschnitt beim Frühstück, dann doch die reflektierende Innenperspektive Silkes aufnimmt.
Ja, da hast Du wohl recht, ich werde mir da noch etwas einfallen lassen, wie sie sich fühlt. Vermutlich vollkommen übernächtigt.





„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein.
Ich würde statt rief, etwas detaillierter werden, so dass klar wird, dass er durch den ganzen Laden schreit.
Werde ich ändern.


Die Stelle mit dem Suchen nach den Streuseln: Sie zeigt, dass Jonas zwar das sieht, was genau gegenüber seinen Augen ist, aber den Blick nicht höher oder tiefer lenkt. Deshalb entgeht ihm die richtige Packung. Ihm fehlt etwas Geduld. Seine Mutter empfindet das als eine liebenswerte Macke. Das wollte ich sagen.

Eine weitere Stelle ist im letzten Abschnitt, da will sie vermeiden von Michel angesprochen zu werden. Sie will schnell zur Kassen und hofft, als sie ihn kommen sieht, dass er nicht an ihre Kasse kommt. Als er sie dann nicht wahrnimmt, will sie aber die Streusel nach ihm werfen, damit er sie zumindest ansehen muss. Die zwei Motive scheinen mir noch nicht so recht zusammenzupassen.

Das ist einfach ihre Gefühlsverwirrung. Nenne es weibliche (Un)Logik. :)


Noch eine Kleinigkeit.
„hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen…“
Hier würde ich den Satz umbauen, um das doppelte hörte zu vermeiden.
Das habe ich gemacht, geht ja gar nicht!


Nochmal vielen Dank für das genaue Lesen. So kann der Text nur besser werden.


LG
DS
 

SMöller

Mitglied
Hallo DocSchneider

Ich finde deine Geschichte gut. Wie das Leben halt manchmal so spielt. Wobei ich Michael einen Pickel gewünscht hätte, oder so :p

Nein, im Ernst. Den Sprung in die Zukunft finde ich gut.
Zu Anfang hatte ich ein paar Schwierigkeiten in den Text hineinzukommen. FÜr mich las er sich etwas schwierig. Ich habe dann einfach nochmal neu angefangen und dann ging es.
Hat Spaß gemacht. :)

Liebe Grüße

Steffi
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Steffi,

vielen Dank für Deine im Kern positive Rückmeldung!

Der Einstieg in die Geschichte ist natürlich unmittelbar. Was hat Dich denn gestört, in den Text hineinzufinden? Das würde mich interessieren.

Viele Grüße,
DS
 



 
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