Die Verwechslung

Die junge Sekretärin hatte ihn distanziert freundlich in einen kleinen Raum begleitet. Torsten Wenke sah sich um, legte langsam seine Mappe auf einem Stuhl ab, setzte sich auf einen zweiten, strich sich mit gewohnter Geste nach links über die kurzen, dunklen Haare, prüfte mit beiden Händen den Sitz der dunkelblauen Krawatte. Er hatte sich sorgfältig angezogen: Hellblaues Hemd, mittelgrauer Anzug von Boss, das Jackett mit einem Knopf geschlossen. Das wievielte Bewerbungsgespräch in diesem Monat war das hier? Er kam auf vier. Und es hatte wohl nicht an ihm und seiner Qualifikation gelegen, dass er wie immer abschlägige Bescheide hinnehmen musste.
So ging das nun schon seit Jahren und Wenke, gerade 50 geworden, war es leid, die Ablehnungsgründe für wahr zu halten. Grübelnde Nächte, endlose Gespräche mit seiner Frau hatten keine Alternativen erkennen lassen. So hatte er nur Eines im Sinn: weitermachen, sich immer wieder in den Arsch treten, sich in immer größerer Entfernung von seiner Doppelhaushälfte in gehobener Wohnlage zu bewerben.
Aber jetzt hier, in diesem Moment, als man ihn, er schaute auf seine Rolex, bereits 35 Minuten warten ließ, fühlte er den Elan in seinem Körper immer mehr zusammenfallen, den er noch nach dem morgendlichen Joggen beim Frühstück mit seiner Frau als pulsierendes Glück in seinen Adern gepriesen hatte.
Was nützte ihm das, wenn ganz oben auf seinen Bewerbungsunterlagen, gleich hinter dem Namen, das Verfallsdatum bekannt zu geben war: 22. 3. 1960. Sein Geburtsdatum. Er fühlte etwas Graues, Feuchtes von den Füßen aufsteigen, wusste, es war die Angst, die ihn jetzt bis über den Kopf mit ihrem dunklen, muffig klammen Tuch überziehen würde, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Und das bedeutete: auf der Stelle alt sein, verbraucht, nutzlos, überholt von den Jüngeren…arm und vergessen.
Wenke sprang heftig auf. Er stellte die Beine auseinander und federte seitlich wechselnd in die Füße, um wieder Anschluss an sein morgendliches Lauferlebnis zu finden. In diesem Moment steckte die junge Sekretärin den Kopf durch die Tür: „Sie werden erwartet. Bitte gehen Sie hier den Flur entlang.“ Sie öffnete erst jetzt die Tür ganz und wies unbeteiligt mit der Hand hinter sich: „Die letzte Tür links.“ Sie ging mit klappernden Absätzen voran, Wenke mit seiner eilig gegriffenen Mappe hinterher, bis sie in der zweiten Tür verschwand, nachdem sie noch einmal mit einer Armbewegung und herabhängender Hand in den neonbeleuchteten Gang gedeutet hatte.
Wenke holte tief Luft, atmete sie wieder aus. Aus dem angewiesenen Zimmer hörte er Stimmen. Ups, er spürte so etwas wie einen Salto im Herzen; das hörte sich nach mindestens drei Personen an. Er hatte sich auf den Personalleiter eingestellt, der auch mit ihm telefoniert hatte.
Klopfen, „Herein!“, Eintreten, nur nicht zu forsch, nicht zu devot, unbedingt auf gleiche Augenhöhe achten. Ein jüngerer Mann erhob sich, dunkelblauer Pullover, Hemdkragen und Manschetten mit blau-weißen Streifen, geschäftsmäßig freundlich, ging Wenke entgegen, gab ihm, ohne ihn anzusehen die Hand: „Milram, wir haben vorgestern telefoniert.“ Wies auf einen leeren Stuhl, der den, es waren tatsächlich drei, Leuten gegenüber stand, nahe der Tür. Wenke schaute kurz auf den Stuhl, dann inszenierte er seinen offenen Blick auf die beiden anderen Anwesenden, neben einander auf einem schwarzen Ledersofa. Die Dame, sie mochte Ende 40 sein, klein, vollschlank, unauffällig elegantes Kostüm, schaute ihm mit freundlichem Interesse ins Gesicht und als Wenke grüßend seinen Kopf vor ihr neigte, streckte sie ihm die Hand entgegen. Dankbar nahm er sie an.

„Frau Dr. Lüderitz,“ sagte der Personalleiter, „Vorstandssprecherin unseres Hauses.“ Wenke verneigte sich noch einmal kurz, nein, er wollte auf keinen Fall beeindruckt wirken und wandte sich dem Herrn neben ihr zu. „Herr Dr. Hammerschlägel, Leiter unserer Rechtsabteilung. Mit ihm hätten Sie es auch zu tun in Rechtsfragen bezüglich unserer Werbemaßnahmen.“ Wenke neigte leicht den Kopf, „Guten Tag“, sah sich schon fast wie angenommen, aber Dr. Hammerschlägel, graue, rechts gescheitelte Haare, Weste und Uhrkette, behielt seine Hände im Schoß, nickte nur sparsam und ließ die Augen hinter der randlosen Brille im Ungewissen hängen.
Wenke setzte sich. Er registrierte, dass sein Magen flatterte und ihn das drängende Bedürfnis überkam, aufzuspringen, loszulaufen, den Gang entlang nach draußen. Er sah sich mit dem Blick auf dem Boden geradewegs nach vorne rennen, was da fährt, was da läuft, er wird es jetzt zu seinem Schicksal machen, nur nach vorne, blindlings, das Herz hochjagen bis zum Anschlag, die Lunge leerpumpen, bis sie zusammenfällt und seinen Körper auf den Asphalt schlagen lässt, wenn das nicht schon jemand vorher für ihn erledigt hat. Er hört quietschende Bremsen, entsetzte Schreie. Etwas in ihm feixt: die Strapazen sind jetzt draußen. Er hat ihn abgegeben, diesen Torsten Wenke, der die erwarteten Nummern rauf und runter abgeliefert hat, aber es wollte sie einfach keiner mehr haben und jetzt ist da nur noch Erleichterung. Unendliche Erleichterung. - Er lässt sich Nacht werden. Nur noch ein Ton breitet sich in ihm aus: dick, brummdunkel, rufend woanders hin, als wär´s dort ruhig und mutterschoß-sicher. Kurz wie ein Lidschlag sieht er sich in diese traumhaft schöne Nachgiebigkeit sinken, sein Schiff vom Anker los dahingleiten, die Vertäuung am Ufer aufgesprungen, die dicke Leine wickelt sich eilig vom Pfosten, gleitet immer schneller dem Schiff hinterher ins Wasser, schließlich ganz frei, zieht sie in gerader Linie mit seinem Schiff, verschwimmt in der Ferne.

Er blieb sitzen. „Schade“, dachte er. - Der Personalleiter legte ein Bein quer über den Oberschenkel des anderen, wippte mit dem frei schwebenden Fuß, hielt Wenkes Bewerbungsmappe aufgeschlagen in den Händen und kam gleich zur Sache: „Herr Wenke, wir fanden Ihre Arbeitsproben interessant, vor allem, wie Sie dann in Ihrer eigenen Agentur in den neuen Bundesländern werblich vorgegangen sind. Aber bedauerlicherweise haben Sie 2002 Konkurs anmelden müssen. Unsere Frage dazu: woran lag es?“
Wenke, gut vorsortiert im Kopf, was diese Situation von ihm verlangte, womit er punkten konnte, sprach kenntnisreich über den allgemeinen Sättigungspunkt beim Aufbau Ost um das
Jahr 2000. Dass eben doch die westliche Eroberung der Märkte Anfang der Neunziger mit ungeheuren, ja unrealistischen Erwartungen verbunden gewesen sei. So habe man z.B. Geschäfts- und Bürohäuser in einem Maße hochgezogen, wie sie gemessen an der real existierenden Kaufkraft der ostdeutschen Bevölkerung gar nicht vermietet werden konnten und heute noch leer stehen und von öffentlichen Geldern erhalten werden würden. Abschreibungsobjekte eben. So sei auch seine Agentur ein Opfer der historischen Entwicklung geworden. Wenke ließ kurz seine Hände auffliegen, um deutlich zu machen, wie schwer auch ihm das Schicksal mitgespielt hatte. Was Wenke nicht sagte: dass auch er großkotzig in Leipzigs teuerster Straße seine Selbständigkeit mit imponierenden Glasfronten und Edelstahlsäulen begonnen hatte; nicht mit zwei, sondern mit acht voll bezahlten Mitarbeitern, bezahlt unter anderem von staatlichen Subventionen, die ihm ein
Freund im Ministerium vermittelt hatte. Dafür hatte er den Absprung aus einem siebenjährigen Angestelltenverhältnis in einer kleinen Werbeagentur riskiert. Und dafür hatte er nach der zerplatzten Bäume–in–den–Himmel-Wachstums-Blase bis heute schwer büßen müssen. Als freier Mitarbeiter lief er sich die Hacken ab für einen neuen Auftrag. Wenn seine Frau Bettina nicht die ganze Zeit als Lehrerin gearbeitet hätte, wären die Raten für ihr Haus längst nicht mehr zu bezahlen gewesen.
Das alles sagte Wenke nicht, fürchtete aber in einer Schicht seines Bewusstseins, dass es ihm die Vorstandssprecherin Frau Dr. Lüderitz von der Stirn ablesen würde. Immerhin hatte sein Exkurs in Sachen „Wirtschaftstragödie Neue Bundesländer“ die Oberkörper seiner Zuhörer nach vorne gezogen, als Herr Milram übergangslos auf Wenkes eigentliches Desaster zu sprechen kam: „Sie haben ja ein hervorragendes Zeugnis von Ihrer Werbeagentur, bei der Sie sieben Jahre lang zunächst als Texter und später als Artdirektor tätig waren. Für unsere Stelle eines Werbeleiters, verlangen wir natürlich auch lupenreine Ausbildungsabschlüsse. Die Auflistung Ihrer Ausbildungen hat unseren Vorstand noch nicht überzeugt; wo sind die Abschlüsse und die entsprechenden Zertifikate?“ Der Personalleiter schlug die Seite auf, an die er einen gelben post-it-Zettel gefügt und an der Wenke nun inzwischen jahrelang gefeilt hatte. Da war 1977, also mit 17 Jahren, von „mittlerer Reife“ die Rede, einem einjährigen Auslandspraktikum bei einer deutschen Zeitung. Das einzige, was daran stimmte: Sein Vater hatte ihm ein teuer bezahltes Zeugnis von eben dieser Zeitung verschafft. Die Wahrheit war, dass er mit 15 Jahren ständiges Mitglied der Frankfurter Hausbesetzerszene geworden war, immer seltener in die
Schule ging und sie schließlich, gemeinsam mit Hunderten von Gleichgesinnten, im Rausch der Freiheit, von Sex und Drogen vollends verschlief. Das Zeugnis der „Mittleren Reife“ erwirkte Wenkes vorrausschauender Vater „mit seiner Schleimer-Mentalität“, wie der Sohn damals zu texten beliebte.

Die Hausbesetzerszene mit unübersichtlich vielen revolutionären Zellen, in jedem Fall gegen das Establishment, logierte unter anderem im Frankfurter Westend, in der Kettenhofstraße, heruntergekommener Prachtbau aus Gründerzeiten, und der junge Torsten, auf der Oberlippe spross gerade der erste Flaum, flatterte zwischen Spontis und Anarchos, zwischen Maoisten, Hippies und RAF-Gruppen , sich niederlassend, wo es gerade am aufgeregtesten war. Für die unterschiedlichen Gründe des Protests hatte sich Torsten wenig interessiert. Für ihn war es der Einzug ins Wunderland: keine Eltern, keine Lehrer, die an einem herummäkelten, nicht einer von diesen ekelhaften Weckern, die einen mitten aus dem Tiefschlaf rissen, wenn man die Nacht mit was Besserem als Schlafen verbracht hatte. Alle halfen sich, alle nahmen sich, was da war, kein Bitte, kein Danke, wenn dir nicht danach zumute war. Was für ein Tag, als er zum ersten Mal nackt mit stolz aufgerecktem Pimmel durch die Zimmer gelatscht war …und niemand fiel in Ohnmacht. Er riskierte oft sein Leben, Bettlaken mit verschmierten Kampfparolen zwischen zwei Fenstern an der Außenfront zu montieren: „ Wir bleiben drin!“ „Sieg im Volkskrieg!“ „Wir wollen alles!“ „Der Kampf geht weiter“ „Amis raus!“ und natürlich rote Fahnen, wo man sie nur auftreiben konnte, immer gab es etwas, das man da noch reinmalen konnte, das Anarcho-A oder den RAF-Stern, egal, immer gab es etwas, gegen das man gemeinsam kämpfen, von einem Rausch in den nächsten fallen konnte. Und man war nie allein, nicht wie bei seinen Eltern, wo man einen Zettel vorfand, wenn man nach Hause kam, aber niemand war da.

Wenke war irritiert: Warum überfiel ihn dieses Desaster seiner Jugend ausgerechnet jetzt? Er hatte es doch so lange, so erfolgreich verdrängt und nun tanzte ihm das im unpassendsten Augenblick vor der Nase herum: die Verwahrlosung der Kleidung, die verfilzten langen Haare, die völlig verdreckten Häuser. Um ein Studium der revolutionären Texte war es ihm nie gegangen, eher um die Frage, wie er die Ekstase seiner Körperzellen am Vibrieren halten konnte. Die Wahnsinnserfahrungen mit Sex in den wechselnden Kommunen, da war so ein ganz neues, entgrenztes Fühlen gewesen, so eine aufschäumende Ahnung, was Leben sein konnte. Darum ging es. Das war die revolutionäre Praxis! Torsten Wenke richtete sich mit einem Ruck auf; schlug die Beine übereinander. Verdammt noch mal Mensch, jetzt reiß dich zusammen! Aber irgendwas hinderte ihn, in das Personalbüro zurückzukehren. Es war der veränderte Blick, mit dem er da plötzlich hingeguckt hatte. War das vielleicht alles doch nicht so eine Katastrophe gewesen damals? – Jedenfalls war er so erwachsen geworden…und nichts dabei für den Lebenslauf, den ein deutsches Unternehmen im Jahre 2010 mit einer Festanstellung hätte honorieren können.

Die Seite! Die wohlgefeilte Seite mit dem kleinen, gelben Zettel! Man erwartete eine Antwort. Wie lange hatte er nichts gesagt? Wenke spürte plötzlich etwas aus den alten Zeiten wiederkehren. Einen scharfen Luftzug um die Brust, einen Wind um den Kopf. Wovor fürchtete er sich eigentlich? Was gab es zu verlieren? Und wenn er noch so gigantische Phantasieleistungen erbringen würde: er hatte keine Abschlusszertifikate. Dreißig, vierzig Mal hatte er jetzt diesen Höllenritt mitgemacht und eben war damit Schluss. Na und? Dann gaben sie eben ihr Haus auf! Und wenn ihm das seine Frau nicht verzeihen könnte? Dann Scheiß drauf, aber so wollte er nicht mehr weitermachen. So würdelos sich verkrümmen. So abhängig zusammenzucken bei jeder Geste dieser Marionetten. Dieses ganze, verzweifelte Theater. Plötzlich fragte er sich fassungslos, wovor er denn um Himmels Willen so eine furchtbare Angst gehabt hatte diese letzten Jahre! Es war ihm plötzlich so leid! Er war sich plötzlich so sicher, dass es auch für ihn ein Leben geben musste, das stimmte! Wo nichts zu feilen und zu schönen war! Und wenn es irgendwo ein Zimmer war mit Klo auf dem Flur und er konnte Kreatives Schreiben mit Türkenjungs machen und er war sich jetzt so sicher , dass ihm noch viel einfiel, wenn er es erst gewagt … wenn er sich endlich getraut… wenn er die Entscheidung Bettina definitiv mitgeteilt haben würde, es an sich herankommen zu lassen, sein Leben, sein ganz eigenes, von ihm geführtes Leben. –

Wenke blinzelte seine Peiniger an, wollte sich gerade zwingen, weiter mitzuspielen, da platzte ihm der Raum in eine weiß gleißende Helligkeit auseinander. Aufgeregt erkannte er sofort die Situation wieder, diesen Megamoment in seinem Leben. Es war der Sommer 1981 und er sah sich zwischen den Männern und Frauen seiner Kommune liegen, sah die weißen Körper, die Schönheit der ineinander fließenden Linien, die auf- und absteigenden Hügel von Hintern und Brüsten, roch den Schweiß der verklebten Haare auf den zerwühlten Laken ihres Matratzenlagers. Die Morgendämmerung war blass in die Fenster gefallen. Eine erste Amsel hatte geflötet. Wenke war zurück in diesem Moment unendlicher Seligkeit des jungen Torsten, damals aus seinem Bauch aufsteigend und ihn ganz und gar überflutend und den Raum hochfahrend in eben diese Helligkeit. Er sah sich seine von getrocknetem Sperma und Speichel glänzenden Hände wieder und wieder vor das Gesicht halten und wie es in seinem Kopf textete: „Brüder! Schwestern! Ich bin am Ziel unserer Revolution. Die Grenzen sind gesprengt. Das Bewusstsein hat sich über alle gesellschaftlichen und privaten Grenzen erhoben. Ich bin frei! Es ist also möglich, absolut frei zu sein! Es ist keine Utopie! Wenn ich es erfahren kann, dann könnt Ihr es auch. Ich könnte jetzt sterben. Alles ist erreicht. Aber ich werde diese Erfahrung zum Flaggschiff unserer Revolution machen: Schlaft mit einander, wo immer Ihr Euch trefft! Unsere Orgasmen werden uns befreien von den Zwängen des Spätkapitalismus. Sex in jeder Form und mit allem was lebt, wird uns aus den Krallen der gesellschaftlichen Tabus befreien. Die Entfremdung von der Natur des Menschen wird sich in Nichts auflösen mit der Explosion unserer Körperzellen in eine nie gekannte Freiheit hinein! Gewalt, Kriege und Machtkämpfe gehören der Vergangenheit an, denn sie sind die instrumentalisierten Frustrationen unserer Lust.
Und in der Gewissheit, sich gerade im Epizentrum der Wahrheit zu befinden, sah er den jungen Torsten sich aufrichten zwischen den Schlafenden, die Finger seiner Hände aneinander vor die Brust legen, wie in unbewusster Erinnerung an eine Geste großer Wichtigkeit aus Kleinkindtagen, und sich schwören, diesen Moment niemals wieder zu vergessen. Ihm war klar, dass das hier gerade Sprengkraft für Tausende von talentlosen Augenblicken in der Zukunft in sich barg. Alle
Entscheidungen sollten deshalb ab sofort immer ein Mehr an Freiheit bringen, abgetrotzt dieser Megasonne, die ihn an diesem Sommermorgen 1981 aufgerissen hatte und die er jetzt feierlich in seinen Schwanz, seine Brust und seinen Kopf einspeicherte. – Und wenn er sein ganzes Leben einen Erfahrungssplitter nach dem anderen zusammentragen musste, irgendwann musste die Freiheit über alle Kleinlichkeiten siegen. Dafür wollte er kämpfen. Dafür wollte er leben. Das schwor er sich damals.
Torsten Wenke, schockartig raus aus der Helligkeit, zurück in seiner Rolle als Bewerber bei den beiden Figuren auf dem Sofa, zurück bei diesem Menschen, o Scheiße: noch immer dieses post-it an der Stelle seiner unaussprechlichen Biografie! Auch wenn sie ihn jetzt anstarrten, mit hochgezogenen Brauen, als wäre der Zeitpunkt einer Erklärung gerade unzumutbar überschritten, er hatte keine Wahl: von einer tausendstel Sekunde auf die andere war alles Schönreden, Ausweichen, Umtexten vorbei. Er war ergriffen. Er war überwältigt. Ihm kamen die Tränen. Sein Leben war zurück. Es war doch nicht alles peinlich gewesen. Er war doch nicht nur von Ideologien verführt in die Irre gelaufen. Das war er gewesen, er Torsten, er ganz allein. Diese Erfahrung, erst jetzt hatte sie sich ihm als das offenbart, was sie schon damals war: der Ausdruck grenzenloser Liebe. Das Vertrauen, das sich jede Mühe lohnt, diesem Weg zu folgen. Als hätte er diesen Schatz die ganzen Jahre versteckt, um ihn vor seinem Zynismus zu schützen. Den Text konnte er vergessen; ja, der war peinlich. Er hatte eben keinen besseren gehabt, aber die Erfahrung, Wenke konnte sich gar nicht einkriegen vor Freude, die war seine, ganz allein seine gewesen.
Er spürte sein Herz jagen, hin und her, rauf und runter. Wo war er gewesen die ganzen Jahre? Wie konnte er dieses sein Versprechen so komplett vergessen? Was hatte ihn zu so einem Kriechtier werden lassen? – Die Bilder aus 29 Jahren stürmten aufeinander getürmt, ineinander geschachtelt heran. Ohne Übergang war er in einem Moment, wo es so richtig weh- getan hatte: Poona 1982. Schweißtreibende Erfahrungen in Selbsterfahrungsgruppen lagen hinter ihm. Meine Güte, mit welchen Erwartungen er sich da reingestürzt hatte. Er war doch jetzt an der Quelle der großen, sexuellen Revolution! Aber dann ließ er sich in der Gruppe einschüchtern, wenn es um Durchsetzung ging. „Da kommt unser Träumer,“ war noch das Beste, was er zu hören bekam. Wenke sah den jungen Torsten im Durchsetzungsgerangel immer wieder auf dem Rücken landen, und als ob ihm das sein Trainingspartner austreiben wollte, sein ewiges „Ja toll“, quetschte er ihm in einer Gruppenübung den Brustkorb so zusammen, dass… Wenke spürte ihn sofort wieder, diesen Schmerz, der ihn augenblicklich hatte aufschreien lassen und dann nichts mehr ging, weil das Atmen tierische Stiche auf der linken Seite auslöste.

Rippe gebrochen, hieß es. Und da lag er denn im Schlafraum, kämpfte um den kleinstmöglichen Atemzug. Wenke fühlte Erbarmen mit diesem Torsten. Wie er da lag und hatte Zeit zum Denken und mit jeder Stunde bekam seine Wunderland-Welt mehr Risse. Als Retterin in großer Not war sie damals an sein Bett gekommen. Bettina, weizenfeldblond, mehr als der Stützverband um den Brustkorb hatten ihre Hände gut getan, auch sie in Zweifeln angekommen, was sie hier eigentlich tat, in dieser albernen, roten Anstaltskleidung, bei diesen peinlichen Anbetungsritualen für einen Mann, der gleichzeitig die Freiheit des Individuums proklamierte. Ja, Wenke wurde übel, da war sie wieder, diese entsetzliche Scham! Darüber, dass Torsten all die tollen Parolen für sein Leben gehalten hatte und als er sie zusammen mit Bettina entzaubert hatte, niemand dahinter vorfand. Es gab ihn nicht, er war nicht; davon hatte ihn Bettina überzeugt. Es war der schwärzeste Moment in seinem Leben und der bestand nur noch aus Scham. Wenke brach der Schweiß aus. Sein Unterkiefer begann zu zittern. „Herr Wenke, ist Ihnen nicht gut?“ hörte er weit weg rufen. Sein Atem begann zu hecheln. Er musste das jetzt hier durchstehen. Der Schwur! Sie hatten sich gegenseitig geschworen…Wenke wurde schwindelig, er spürte sich zusammensinken, gleichzeitig schrie eine Frauenstimme: „Herr Wenke! Wir müssen ihn auf den Boden legen! Die Beine hoch; rückt mal den Stuhl ran!“ Jemand lockerte seine Krawatte, öffnete sein Hemd, seinen Gürtel. Ruckartig sog er wieder Luft in die Lungen, ließ sie schlaff wieder gehen. Er musste das jetzt hier durchstehen. Der Schwur. Dieser zweite
Schwur. Der war es gewesen! Mit dem hatte er sich in diese Hölle manövriert. Jemand wischte ihm mit einem Lappen kühl und nass über das Gesicht. Wenke begann zu weinen. Er sah sich mit Bettina zusammensitzen. Es sollte die Generalabrechnung mit ihrer beider Naivität sein. Bettina hatte ihr Studium hingeworfen gehabt, ein Jahr gejobbt, um nach Poona fahren zu können und in ihrer Enttäuschung, dass es hier genau so viel zu beanstanden gab, wie woanders auch, in ihrer Wut über sich selbst, ihre Kariere so vernachlässigt zu haben, schwor sie sich, nie wieder auf ihre romantischen Gefühle zu hören. Von jetzt an wollte sie ihr Leben an rationalen und sozialverträglichen Werten ausrichten. Schluss mit dem Glauben an eine bessere Welt. Das waren nur neue Lügen.

Wenke begann zu frieren, klapperte mit den Zähnen. „Eine Decke! Wir brauchen eine Decke für ihn,“ hörte er eine Männerstimme. Etwas Zärtliches, ihm selbst Zugewandtes breitete sich in Wenke aus. Er war noch nicht fertig mit der Abrechnung von damals, aber er wusste schon jetzt: er würde sie gut ausgehen lassen für den jungen Torsten. Sie hatten da nur etwas verwechselt in ihrem Eifer. Jemand hob seinen Kopf an und flößte ihm ein paar Schlucke Wasser ein. Eine Decke wurde über ihn hingebreitet. – Zurück in Poona sah er Torsten mit einem Bogen Papier in der Hand. Er sitzt zu Gericht über sich. Mit steiler Falte zwischen den Augen. Er hat sein ganzes bisheriges Leben zu einer einzigen Flucht zurechtgerückt, liest Bettina vor, was er von sich hält, unter anderem: Ausweichen vor jeder Art von Herausforderung, konfliktscheu, faul, ideologieanfällig, unfähig, sich durchzusetzen. Erwartungsvoll schaut er zu hinüber. Sie lächelt. Ja und? Soll das so bleiben? Und er: natürlich nicht. Damit ist jetzt Schluss, ein für alle mal. Und Wenke sah ihn vor Bettina schwören, dass er mit aller Kraft das Versäumte nachholen und sich in seiner Kariere nicht mehr von romantischen Höhenflügen beeinflussen lassen würde.

Wenke, quer in diesem fremden Personalbüro auf dem Boden liegend, warm zugedeckt, mit offenem Hemdkragen, wurde sich seiner Lage bewusst…und musste innerlich grinsen: Die Dinge hatten sich doch in seinem Sinne entwickelt! Er ging doch jetzt mit einer wunderbaren Biografie nach Hause! Wo er vorhin noch nichts als Peinlichkeiten gesehen hatte, strahlte ihn jetzt dieser 20jährige Torsten an, der an die Liebe glaubte. Du Simpel, dachte er zärtlich, was hast du dir alles einreden lassen. Und verzieh sich seinen zweiten Schwur als die einzige wirkliche Jugendsünde. Da gab`s nun auch nichts mehr zu schämen. Jemand kam zu ihm: „Na? Was haben wir denn?“ Wenke öffnete die Augen. Man hatte einen Arzt gerufen. Als er sich über ihn neigte, sah Wenke hinter ihm in drei blasse Gesichter. Der Arzt fühlte seinen Puls, fragte:
“Schmerzen?“ Und als Wenke verneinte: „Ein kleiner Schwächeanfall. In ein paar Minuten können sie langsam aufstehen.“
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Heidrunzweiundreißigfünf, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Griff nach dem Ratzefriemel
und radierte sich zu Gummikrümel
Rumpelsstilzchen, Redakteur in Reserve
 
Die junge Sekretärin hatte ihn distanziert freundlich in einen kleinen Raum begleitet. Torsten Wenke sah sich um, legte langsam seine Mappe auf einem Stuhl ab, setzte sich auf einen zweiten, strich sich mit gewohnter Geste nach links über die kurzen, dunklen Haare, prüfte mit beiden Händen den Sitz der dunkelblauen Krawatte. Er hatte sich sorgfältig angezogen: Hellblaues Hemd, mittelgrauer Anzug von Boss, das Jackett mit einem Knopf geschlossen. Das wievielte Bewerbungsgespräch in diesem Monat war das hier? Er kam auf vier. Und es hatte wohl nicht an ihm und seiner Qualifikation gelegen, dass er wie immer abschlägige Bescheide hinnehmen musste.
So ging das nun schon seit Jahren und Wenke, gerade 50 geworden, war es leid, die Ablehnungsgründe für wahr zu halten. Grübelnde Nächte, endlose Gespräche mit seiner Frau hatten keine Alternativen erkennen lassen. So hatte er nur Eines im Sinn: weitermachen, sich immer wieder in den Arsch treten, sich in immer größerer Entfernung von seiner Doppelhaushälfte in gehobener Wohnlage zu bewerben.
Aber jetzt hier, in diesem Moment, als man ihn, er schaute auf seine Rolex, bereits 35 Minuten warten ließ, fühlte er den Elan in seinem Körper immer mehr zusammenfallen, den er noch nach dem morgendlichen Joggen beim Frühstück mit seiner Frau als pulsierendes Glück in seinen Adern gepriesen hatte.
Was nützte ihm das, wenn ganz oben auf seinen Bewerbungsunterlagen, gleich hinter dem Namen, das Verfallsdatum bekannt zu geben war: 22. 3. 1960. Sein Geburtsdatum. Er fühlte etwas Graues, Feuchtes von den Füßen aufsteigen, wusste, es war die Angst, die ihn jetzt bis über den Kopf mit ihrem dunklen, muffig klammen Tuch überziehen würde, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Und das bedeutete: auf der Stelle alt sein, verbraucht, nutzlos, überholt von den Jüngeren…arm und vergessen.
Wenke sprang heftig auf. Er stellte die Beine auseinander und federte seitlich wechselnd in die Füße, um wieder Anschluss an sein morgendliches Lauferlebnis zu finden. In diesem Moment steckte die junge Sekretärin den Kopf durch die Tür: „Sie werden erwartet. Bitte gehen Sie hier den Flur entlang.“ Sie öffnete erst jetzt die Tür ganz und wies unbeteiligt mit der Hand hinter sich: „Die letzte Tür links.“ Sie ging mit klappernden Absätzen voran, Wenke mit seiner eilig gegriffenen Mappe hinterher, bis sie in der zweiten Tür verschwand, nachdem sie noch einmal mit einer Armbewegung und herabhängender Hand in den neonbeleuchteten Gang gedeutet hatte.
Wenke holte tief Luft, atmete sie wieder aus. Aus dem angewiesenen Zimmer hörte er Stimmen. Ups, er spürte so etwas wie einen Salto im Herzen; das hörte sich nach mindestens drei Personen an. Er hatte sich auf den Personalleiter eingestellt, der auch mit ihm telefoniert hatte.
Klopfen, „Herein!“, Eintreten, nur nicht zu forsch, nicht zu devot, unbedingt auf gleiche Augenhöhe achten. Ein jüngerer Mann erhob sich, dunkelblauer Pullover, Hemdkragen und Manschetten mit blau-weißen Streifen, geschäftsmäßig freundlich, ging Wenke entgegen, gab ihm, ohne ihn anzusehen die Hand: „Milram, wir haben vorgestern telefoniert.“ Wies auf einen leeren Stuhl, der den, es waren tatsächlich drei, Leuten gegenüber stand, nahe der Tür. Wenke schaute kurz auf den Stuhl, dann inszenierte er seinen offenen Blick auf die beiden anderen Anwesenden, neben einander auf einem schwarzen Ledersofa. Die Dame, sie mochte Ende 40 sein, klein, vollschlank, unauffällig elegantes Kostüm, schaute ihm mit freundlichem Interesse ins Gesicht und als Wenke grüßend seinen Kopf vor ihr neigte, streckte sie ihm die Hand entgegen. Dankbar nahm er sie an.

„Frau Dr. Lüderitz,“ sagte der Personalleiter, „Vorstandssprecherin unseres Hauses.“ Wenke verneigte sich noch einmal kurz, nein, er wollte auf keinen Fall beeindruckt wirken und wandte sich dem Herrn neben ihr zu. „Herr Dr. Hammerschlägel, Leiter unserer Rechtsabteilung. Mit ihm hätten Sie es auch zu tun in Rechtsfragen bezüglich unserer Werbemaßnahmen.“ Wenke neigte leicht den Kopf, „Guten Tag“, sah sich schon fast wie angenommen, aber Dr. Hammerschlägel, graue, rechts gescheitelte Haare, Weste und Uhrkette, behielt seine Hände im Schoß, nickte nur sparsam und ließ die Augen hinter der randlosen Brille im Ungewissen hängen.
Wenke setzte sich. Er registrierte, dass sein Magen flatterte und ihn das drängende Bedürfnis überkam, aufzuspringen, loszulaufen, den Gang entlang nach draußen. Er sah sich mit dem Blick auf dem Boden geradewegs nach vorne rennen, was da fährt, was da läuft, er wird es jetzt zu seinem Schicksal machen, nur nach vorne, blindlings, das Herz hochjagen bis zum Anschlag, die Lunge leerpumpen, bis sie zusammenfällt und seinen Körper auf den Asphalt schlagen lässt, wenn das nicht schon jemand vorher für ihn erledigt hat. Er hört quietschende Bremsen, entsetzte Schreie. Etwas in ihm feixt: die Strapazen sind jetzt draußen. Er hat ihn abgegeben, diesen Torsten Wenke, der die erwarteten Nummern rauf und runter abgeliefert hat, aber es wollte sie einfach keiner mehr haben und jetzt ist da nur noch Erleichterung. Unendliche Erleichterung. - Er lässt sich Nacht werden. Nur noch ein Ton breitet sich in ihm aus: dick, brummdunkel, rufend woanders hin, als wär´s dort ruhig und mutterschoß-sicher. Kurz wie ein Lidschlag sieht er sich in diese traumhaft schöne Nachgiebigkeit sinken, sein Schiff vom Anker los dahingleiten, die Vertäuung am Ufer aufgesprungen, die dicke Leine wickelt sich eilig vom Pfosten, gleitet immer schneller dem Schiff hinterher ins Wasser, schließlich ganz frei, zieht sie in gerader Linie mit seinem Schiff, verschwimmt in der Ferne.

Er blieb sitzen. „Schade“, dachte er. - Der Personalleiter legte ein Bein quer über den Oberschenkel des anderen, wippte mit dem frei schwebenden Fuß, hielt Wenkes Bewerbungsmappe aufgeschlagen in den Händen und kam gleich zur Sache: „Herr Wenke, wir fanden Ihre Arbeitsproben interessant, vor allem, wie Sie dann in Ihrer eigenen Agentur in den neuen Bundesländern werblich vorgegangen sind. Aber bedauerlicherweise haben Sie 2002 Konkurs anmelden müssen. Unsere Frage dazu: woran lag es?“
Wenke, gut vorsortiert im Kopf, was diese Situation von ihm verlangte, womit er punkten konnte, sprach kenntnisreich über den allgemeinen Sättigungspunkt beim Aufbau Ost um das
Jahr 2000. Dass eben doch die westliche Eroberung der Märkte Anfang der Neunziger mit ungeheuren, ja unrealistischen Erwartungen verbunden gewesen sei. So habe man z.B. Geschäfts- und Bürohäuser in einem Maße hochgezogen, wie sie gemessen an der real existierenden Kaufkraft der ostdeutschen Bevölkerung gar nicht vermietet werden konnten und heute noch leer stehen und von öffentlichen Geldern erhalten werden würden. Abschreibungsobjekte eben. So sei auch seine Agentur ein Opfer der historischen Entwicklung geworden. Wenke ließ kurz seine Hände auffliegen, um deutlich zu machen, wie schwer auch ihm das Schicksal mitgespielt hatte. Was Wenke nicht sagte: dass auch er großkotzig in Leipzigs teuerster Straße seine Selbständigkeit mit imponierenden Glasfronten und Edelstahlsäulen begonnen hatte; nicht mit zwei, sondern mit acht voll bezahlten Mitarbeitern, bezahlt unter anderem von staatlichen Subventionen, die ihm ein
Freund im Ministerium vermittelt hatte. Dafür hatte er den Absprung aus einem siebenjährigen Angestelltenverhältnis in einer kleinen Werbeagentur riskiert. Und dafür hatte er nach der zerplatzten Bäume–in–den–Himmel-Wachstums-Blase bis heute schwer büßen müssen. Als freier Mitarbeiter lief er sich die Hacken ab für einen neuen Auftrag. Wenn seine Frau Bettina nicht die ganze Zeit als Lehrerin gearbeitet hätte, wären die Raten für ihr Haus längst nicht mehr zu bezahlen gewesen.
Das alles sagte Wenke nicht, fürchtete aber in einer Schicht seines Bewusstseins, dass es ihm die Vorstandssprecherin Frau Dr. Lüderitz von der Stirn ablesen würde. Immerhin hatte sein Exkurs in Sachen „Wirtschaftstragödie Neue Bundesländer“ die Oberkörper seiner Zuhörer nach vorne gezogen, als Herr Milram übergangslos auf Wenkes eigentliches Desaster zu sprechen kam: „Sie haben ja ein hervorragendes Zeugnis von Ihrer Werbeagentur, bei der Sie sieben Jahre lang zunächst als Texter und später als Artdirektor tätig waren. Für unsere Stelle eines Werbeleiters, verlangen wir natürlich auch lupenreine Ausbildungsabschlüsse. Die Auflistung Ihrer Ausbildungen hat unseren Vorstand noch nicht überzeugt; wo sind die Abschlüsse und die entsprechenden Zertifikate?“ Der Personalleiter schlug die Seite auf, an die er einen gelben post-it-Zettel gefügt und an der Wenke nun inzwischen jahrelang gefeilt hatte. Da war 1977, also mit 17 Jahren, von „mittlerer Reife“ die Rede, einem einjährigen Auslandspraktikum bei einer deutschen Zeitung. Das einzige, was daran stimmte: Sein Vater hatte ihm ein teuer bezahltes Zeugnis von eben dieser Zeitung verschafft. Die Wahrheit war, dass er mit 15 Jahren ständiges Mitglied der Frankfurter Hausbesetzerszene geworden war, immer seltener in die
Schule ging und sie schließlich, gemeinsam mit Hunderten von Gleichgesinnten, im Rausch der Freiheit, von Sex und Drogen vollends verschlief. Das Zeugnis der „Mittleren Reife“ erwirkte Wenkes vorrausschauender Vater „mit seiner Schleimer-Mentalität“, wie der Sohn damals zu texten beliebte.

Die Hausbesetzerszene mit unübersichtlich vielen revolutionären Zellen, in jedem Fall gegen das Establishment, logierte unter anderem im Frankfurter Westend, in der Kettenhofstraße, heruntergekommener Prachtbau aus Gründerzeiten, und der junge Torsten, auf der Oberlippe spross gerade der erste Flaum, flatterte zwischen Spontis und Anarchos, zwischen Maoisten, Hippies und RAF-Gruppen , sich niederlassend, wo es gerade am aufgeregtesten war. Für die unterschiedlichen Gründe des Protests hatte sich Torsten wenig interessiert. Für ihn war es der Einzug ins Wunderland: keine Eltern, keine Lehrer, die an einem herummäkelten, nicht einer von diesen ekelhaften Weckern, die einen mitten aus dem Tiefschlaf rissen, wenn man die Nacht mit was Besserem als Schlafen verbracht hatte. Alle halfen sich, alle nahmen sich, was da war, kein Bitte, kein Danke, wenn dir nicht danach zumute war. Was für ein Tag, als er zum ersten Mal nackt mit stolz aufgerecktem Pimmel durch die Zimmer gelatscht war …und niemand fiel in Ohnmacht. Er riskierte oft sein Leben, Bettlaken mit verschmierten Kampfparolen zwischen zwei Fenstern an der Außenfront zu montieren: „ Wir bleiben drin!“ „Sieg im Volkskrieg!“ „Wir wollen alles!“ „Der Kampf geht weiter“ „Amis raus!“ und natürlich rote Fahnen, wo man sie nur auftreiben konnte, immer gab es etwas, das man da noch reinmalen konnte, das Anarcho-A oder den RAF-Stern, egal, immer gab es etwas, gegen das man gemeinsam kämpfen, von einem Rausch in den nächsten fallen konnte. Und man war nie allein, nicht wie bei seinen Eltern, wo man einen Zettel vorfand, wenn man nach Hause kam, aber niemand war da.

Wenke war irritiert: Warum überfiel ihn dieses Desaster seiner Jugend ausgerechnet jetzt? Er hatte es doch so lange, so erfolgreich verdrängt und nun tanzte ihm das im unpassendsten Augenblick vor der Nase herum: die Verwahrlosung der Kleidung, die verfilzten langen Haare, die völlig verdreckten Häuser. Um ein Studium der revolutionären Texte war es ihm nie gegangen, eher um die Frage, wie er die Ekstase seiner Körperzellen am Vibrieren halten konnte. Die Wahnsinnserfahrungen mit Sex in den wechselnden Kommunen, da war so ein ganz neues, entgrenztes Fühlen gewesen, so eine aufschäumende Ahnung, was Leben sein konnte. Darum ging es. Das war die revolutionäre Praxis! Torsten Wenke richtete sich mit einem Ruck auf; schlug die Beine übereinander. Verdammt noch mal Mensch, jetzt reiß dich zusammen! Aber irgendwas hinderte ihn, in das Personalbüro zurückzukehren. Es war der veränderte Blick, mit dem er da plötzlich hingeguckt hatte. War das vielleicht alles doch nicht so eine Katastrophe gewesen damals? – Jedenfalls war er so erwachsen geworden…und nichts dabei für den Lebenslauf, den ein deutsches Unternehmen im Jahre 2010 mit einer Festanstellung hätte honorieren können.

Die Seite! Die wohlgefeilte Seite mit dem kleinen, gelben Zettel! Man erwartete eine Antwort. Wie lange hatte er nichts gesagt? Wenke spürte plötzlich etwas aus den alten Zeiten wiederkehren. Einen scharfen Luftzug um die Brust, einen Wind um den Kopf. Wovor fürchtete er sich eigentlich? Was gab es zu verlieren? Und wenn er noch so gigantische Phantasieleistungen erbringen würde: er hatte keine Abschlusszertifikate. Dreißig, vierzig Mal hatte er jetzt diesen Höllenritt mitgemacht und eben war damit Schluss. Na und? Dann gaben sie eben ihr Haus auf! Und wenn ihm das seine Frau nicht verzeihen könnte? Dann Scheiß drauf, aber so wollte er nicht mehr weitermachen. So würdelos sich verkrümmen. So abhängig zusammenzucken bei jeder Geste dieser Marionetten. Dieses ganze, verzweifelte Theater. Plötzlich fragte er sich fassungslos, wovor er denn um Himmels Willen so eine furchtbare Angst gehabt hatte diese letzten Jahre! Es war ihm plötzlich so leid! Er war sich plötzlich so sicher, dass es auch für ihn ein Leben geben musste, das stimmte! Wo nichts zu feilen und zu schönen war! Und wenn es irgendwo ein Zimmer war mit Klo auf dem Flur und er konnte Kreatives Schreiben mit Türkenjungs machen und er war sich jetzt so sicher , dass ihm noch viel einfiel, wenn er es erst gewagt … wenn er sich endlich getraut… wenn er die Entscheidung Bettina definitiv mitgeteilt haben würde, es an sich herankommen zu lassen, sein Leben, sein ganz eigenes, von ihm geführtes Leben. –

Wenke blinzelte seine Peiniger an, wollte sich gerade zwingen, weiter mitzuspielen, da platzte ihm der Raum in eine weiß gleißende Helligkeit auseinander. Aufgeregt erkannte er sofort die Situation wieder, diesen Megamoment in seinem Leben. Es war der Sommer 1981 und er sah sich zwischen den Männern und Frauen seiner Kommune liegen, sah die weißen Körper, die Schönheit der ineinander fließenden Linien, die auf- und absteigenden Hügel von Hintern und Brüsten, roch den Schweiß der verklebten Haare auf den zerwühlten Laken ihres Matratzenlagers. Die Morgendämmerung war blass in die Fenster gefallen. Eine erste Amsel hatte geflötet. Wenke war zurück in diesem Moment unendlicher Seligkeit des jungen Torsten, damals aus seinem Bauch aufsteigend und ihn ganz und gar überflutend und den Raum hochfahrend in eben diese Helligkeit. Er sah sich seine von getrocknetem Sperma und Speichel glänzenden Hände wieder und wieder vor das Gesicht halten und wie es in seinem Kopf textete: „Brüder! Schwestern! Ich bin am Ziel unserer Revolution. Die Grenzen sind gesprengt. Das Bewusstsein hat sich über alle gesellschaftlichen und privaten Grenzen erhoben. Ich bin frei! Es ist also möglich, absolut frei zu sein! Es ist keine Utopie! Wenn ich es erfahren kann, dann könnt Ihr es auch. Ich könnte jetzt sterben. Alles ist erreicht. Aber ich werde diese Erfahrung zum Flaggschiff unserer Revolution machen: Schlaft mit einander, wo immer Ihr Euch trefft! Unsere Orgasmen werden uns befreien von den Zwängen des Spätkapitalismus. Sex in jeder Form und mit allem was lebt, wird uns aus den Krallen der gesellschaftlichen Tabus befreien. Die Entfremdung von der Natur des Menschen wird sich in Nichts auflösen mit der Explosion unserer Körperzellen in eine nie gekannte Freiheit hinein! Gewalt, Kriege und Machtkämpfe gehören der Vergangenheit an, denn sie sind die instrumentalisierten Frustrationen unserer Lust.
Und in der Gewissheit, sich gerade im Epizentrum der Wahrheit zu befinden, sah er den jungen Torsten sich aufrichten zwischen den Schlafenden, die Finger seiner Hände aneinander vor die Brust legen, wie in unbewusster Erinnerung an eine Geste großer Wichtigkeit aus Kleinkindtagen, und sich schwören, diesen Moment niemals wieder zu vergessen. Ihm war klar, dass das hier gerade Sprengkraft für Tausende von talentlosen Augenblicken in der Zukunft in sich barg. Alle
Entscheidungen sollten deshalb ab sofort immer ein Mehr an Freiheit bringen, abgetrotzt dieser Megasonne, die ihn an diesem Sommermorgen 1981 aufgerissen hatte und die er jetzt feierlich in seinen Schwanz, seine Brust und seinen Kopf einspeicherte. – Und wenn er sein ganzes Leben einen Erfahrungssplitter nach dem anderen zusammentragen musste, irgendwann musste die Freiheit über alle Kleinlichkeiten siegen. Dafür wollte er kämpfen. Dafür wollte er leben. Das schwor er sich damals.
Torsten Wenke, schockartig raus aus der Helligkeit, zurück in seiner Rolle als Bewerber bei den beiden Figuren auf dem Sofa, zurück bei diesem Menschen, o Scheiße: noch immer dieses post-it an der Stelle seiner unaussprechlichen Biografie! Auch wenn sie ihn jetzt anstarrten, mit hochgezogenen Brauen, als wäre der Zeitpunkt einer Erklärung gerade unzumutbar überschritten, er hatte keine Wahl: von einer tausendstel Sekunde auf die andere war alles Schönreden, Ausweichen, Umtexten vorbei. Er war ergriffen. Er war überwältigt. Ihm kamen die Tränen. Sein Leben war zurück. Es war doch nicht alles peinlich gewesen. Er war doch nicht nur von Ideologien verführt in die Irre gelaufen. Das war er gewesen, er Torsten, er ganz allein. Diese Erfahrung, erst jetzt hatte sie sich ihm als das offenbart, was sie schon damals war: der Ausdruck grenzenloser Liebe. Das Vertrauen, das sich jede Mühe lohnt, diesem Weg zu folgen. Als hätte er diesen Schatz die ganzen Jahre versteckt, um ihn vor seinem Zynismus zu schützen. Den Text konnte er vergessen; ja, der war peinlich. Er hatte eben keinen besseren gehabt, aber die Erfahrung, Wenke konnte sich gar nicht einkriegen vor Freude, die war seine, ganz allein seine gewesen.
Er spürte sein Herz jagen, hin und her, rauf und runter. Wo war er gewesen die ganzen Jahre? Wie konnte er dieses sein Versprechen so komplett vergessen? Was hatte ihn zu so einem Kriechtier werden lassen? – Die Bilder aus 29 Jahren stürmten aufeinander getürmt, ineinander geschachtelt heran. Ohne Übergang war er in einem Moment, wo es so richtig weh- getan hatte: Poona 1982. Schweißtreibende Erfahrungen in Selbsterfahrungsgruppen lagen hinter ihm. Meine Güte, mit welchen Erwartungen er sich da reingestürzt hatte. Er war doch jetzt an der Quelle der großen, sexuellen Revolution! Aber dann ließ er sich in der Gruppe einschüchtern, wenn es um Durchsetzung ging. „Da kommt unser Träumer,“ war noch das Beste, was er zu hören bekam. Wenke sah den jungen Torsten im Durchsetzungsgerangel immer wieder auf dem Rücken landen, und als ob ihm das sein Trainingspartner austreiben wollte, sein ewiges „Ja toll“, quetschte er ihm in einer Gruppenübung den Brustkorb so zusammen, dass… Wenke spürte ihn sofort wieder, diesen Schmerz, der ihn augenblicklich hatte aufschreien lassen und dann nichts mehr ging, weil das Atmen tierische Stiche auf der linken Seite auslöste.

Rippe gebrochen, hieß es. Und da lag er denn im Schlafraum, kämpfte um den kleinstmöglichen Atemzug. Wenke fühlte Erbarmen mit diesem Torsten. Wie er da lag und hatte Zeit zum Denken und mit jeder Stunde bekam seine Wunderland-Welt mehr Risse. Als Retterin in großer Not war sie damals an sein Bett gekommen. Bettina, weizenfeldblond, mehr als der Stützverband um den Brustkorb hatten ihre Hände gut getan, auch sie in Zweifeln angekommen, was sie hier eigentlich tat, in dieser albernen, roten Anstaltskleidung, bei diesen peinlichen Anbetungsritualen für einen Mann, der gleichzeitig die Freiheit des Individuums proklamierte. Ja, Wenke wurde übel, da war sie wieder, diese entsetzliche Scham! Darüber, dass Torsten all die tollen Parolen für sein Leben gehalten hatte und als er sie zusammen mit Bettina entzaubert hatte, niemand dahinter vorfand. Es gab ihn nicht, er war nicht; davon hatte ihn Bettina überzeugt. Es war der schwärzeste Moment in seinem Leben und der bestand nur noch aus Scham. Wenke brach der Schweiß aus. Sein Unterkiefer begann zu zittern. „Herr Wenke, ist Ihnen nicht gut?“ hörte er weit weg rufen. Sein Atem begann zu hecheln. Er musste das jetzt hier durchstehen. Der Schwur! Sie hatten sich gegenseitig geschworen…Wenke wurde schwindelig, er spürte sich zusammensinken, gleichzeitig schrie eine Frauenstimme: „Herr Wenke! Wir müssen ihn auf den Boden legen! Die Beine hoch; rückt mal den Stuhl ran!“ Jemand lockerte seine Krawatte, öffnete sein Hemd, seinen Gürtel. Ruckartig sog er wieder Luft in die Lungen, ließ sie schlaff wieder gehen. Er musste das jetzt hier durchstehen. Der Schwur. Dieser zweite
Schwur. Der war es gewesen! Mit dem hatte er sich in diese Hölle manövriert. Jemand wischte ihm mit einem Lappen kühl und nass über das Gesicht. Wenke begann zu weinen. Er sah sich mit Bettina zusammensitzen. Es sollte die Generalabrechnung mit ihrer beider Naivität sein. Bettina hatte ihr Studium hingeworfen gehabt, ein Jahr gejobbt, um nach Poona fahren zu können und in ihrer Enttäuschung, dass es hier genau so viel zu beanstanden gab, wie woanders auch, in ihrer Wut über sich selbst, ihre Kariere so vernachlässigt zu haben, schwor sie sich, nie wieder auf ihre romantischen Gefühle zu hören. Von jetzt an wollte sie ihr Leben an rationalen und sozialverträglichen Werten ausrichten. Schluss mit dem Glauben an eine bessere Welt. Das waren nur neue Lügen.

Wenke begann zu frieren, klapperte mit den Zähnen. „Eine Decke! Wir brauchen eine Decke für ihn,“ hörte er eine Männerstimme. Etwas Zärtliches, ihm selbst Zugewandtes breitete sich in Wenke aus. Er war noch nicht fertig mit der Abrechnung von damals, aber er wusste schon jetzt: er würde sie gut ausgehen lassen für den jungen Torsten. Sie hatten da nur etwas verwechselt in ihrem Eifer. Jemand hob seinen Kopf an und flößte ihm ein paar Schlucke Wasser ein. Eine Decke wurde über ihn hingebreitet. – Zurück in Poona sah er Torsten mit einem Bogen Papier in der Hand. Er sitzt zu Gericht über sich. Mit steiler Falte zwischen den Augen. Er hat sein ganzes bisheriges Leben zu einer einzigen Flucht zurechtgerückt, liest Bettina vor, was er von sich hält, unter anderem: Ausweichen vor jeder Art von Herausforderung, konfliktscheu, faul, ideologieanfällig, unfähig, sich durchzusetzen. Erwartungsvoll schaut er zu hinüber. Sie lächelt. Ja und? Soll das so bleiben? Und er: natürlich nicht. Damit ist jetzt Schluss, ein für alle mal. Und Wenke sah ihn vor Bettina schwören, dass er mit aller Kraft das Versäumte nachholen und sich in seiner Kariere nicht mehr von romantischen Höhenflügen beeinflussen lassen würde.

Wenke, quer in diesem fremden Personalbüro auf dem Boden liegend, warm zugedeckt, mit offenem Hemdkragen, wurde sich seiner Lage bewusst…und musste innerlich grinsen: Die Dinge hatten sich doch in seinem Sinne entwickelt! Er ging doch jetzt mit einer wunderbaren Biografie nach Hause! Wo er vorhin noch nichts als Peinlichkeiten gesehen hatte, strahlte ihn jetzt dieser 20jährige Torsten an, der an die Liebe glaubte. Du Simpel, dachte er zärtlich, was hast du dir alles einreden lassen. Und verzieh sich seinen zweiten Schwur als die einzige wirkliche Jugendsünde. Da gab`s nun auch nichts mehr zu schämen. Jemand kam zu ihm: „Na? Was haben wir denn?“ Wenke öffnete die Augen. Man hatte einen Arzt gerufen. Als er sich über ihn neigte, sah Wenke hinter ihm in drei blasse Gesichter. Der Arzt fühlte seinen Puls, fragte:
“Schmerzen?“ Und als Wenke verneinte: „Ein kleiner Schwächeanfall. In ein paar Minuten können sie langsam aufstehen.“
 



 
Oben Unten