Die Wärme

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Seymour

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Die Wärme

Meine Gedanken sind manchmal gelähmt. Dumpf brütend sitze ich dann am Tisch und weiß um deine Nähe. Die Augen geschlossen spüre ich dann deine Hände, wie sie mich sanft von hinten an der Schulter berühren. Das wartende Schnurren und der katzenbuckelartig gestreckte Nacken schreien lautlos bittend. Schauder durchfahren meinen Körper und erzeugen eine Anspannung, die meiner starren Brust das Atmen verbietet. Bruchteile von Sekunden vergehen. Die aufkommende Wärme im Nacken erzeugt wasserperlenartig Gänsehaut.
Ein Bild aus Kindertagen erinnert mich daran, wie lange ich mich schon nach Wärme sehne. Wir wohnten damals in einem alten Mietshaus. Vielleicht aus hygienischen, aber eher aus Platzgründen befand sich das Bad ein halbes Treppengeschoß tiefer im Flur und wurde mit einer anderen Familie geteilt. Im Winter war es immer sehr kalt. Für ein Kind hatte die zu überwindende Kälte des Flures immer etwas abstoßendes. Oftmals lag ich daher im Bett und zögerte das Unvermeidbare bis aufs Letzte hinaus. Um den Schrecken zu intensivieren malte ich mir immer aus, wie eine Hexe mich die Treppe hinunterwirft, sobald ich die Treppen wieder hinaufsteige. Sie wollte mich erfrieren sehen! Nun, es ging jedesmal gut, aber ich weiß noch, wie ich mich dann Ewigkeiten an unseren großen Ofen in der Wohnstube kuschelte und die Wärme in mir aufsaugte. Wie oft verbrannte ich mir dabei die Hände oder den Hintern! Aber dennoch war es einfach nur schön. Die Augen geschlossen fühlte man sich geborgen.
Heute bist du mein Ofen. Manchmal verspüre ich sogar den Wunsch, dich Ofen zu nennen. Ich erzählte dir niemals die Geschichte aus Kindertagen, vielleicht aus Angst, du würdest nicht mehr das in mir sehen, was ich bin. Aber vermutlich ist es eher das Bild, welches ich aufrechterhalten will. Wärme suchen hat sehr viel mit Zerbrechlichkeit zu tun und das ich Kind war, das ist lange her.

R.
 



 
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