Die Wahl

Mitschie

Mitglied
Da sitzen wir, jeweils zu zehner Gruppen aneinander gereiht und warten. Wir alle sehen gleich aus, schwarze Kugeln, die in kleinen Einmachgläsern sitzen. Tausende Geschöpfe warten nun bereits eine Ewigkeit. Heute ist die grosse Wahl, eine entscheidende Wahl, denn sie bestimmt unseren Aufenthalt in den kommenden Jahrzehnten. Vor uns ist am Ende des Raumes eine weisse Leinwand aufgespannt, das Licht geht aus und der Lehrfilm beginnt. Ein Film über die Regularien der heutigen Wahl. Aufmerksam folgen wir den Bildern und den grossen Buchstaben, die zusammengefügt uns ihren Sinn offenbaren. Dann geht das Licht wieder an, denn der Film ist zu Ende. Eine kurze Pause, es werden Erdnüsse und Limonade gereicht. Dann betritt die Wahlkommission den Veranstaltungsraum und alle anwesenden schwarzen Kugeln richten ihren Blick auf sie. Die Kommission besteht aus 3 Mitgliedern, deren Gesicht noch nie eine Seele zuvor gesehen hat, dies liegt daran, dass sie eigentlich überhaupt kein Gesicht haben. Man erkennt nur Andeutungen, Skizzen eines Lebewesens, das Gesehene lässt sich aber unmöglich zu einem Ganzen vereinen. Nur Schemenhaft sieht man die drei, es gibt auch Tage, da sind sie überhaupt nicht zu erkennen. Wir wissen nicht, ob wir bereits zuvor eine Wahl treffen mussten, man erzählt sich, dass wir nach jedem gelebten Dasein komplett gelöscht werden und in der Folge neu programmiert werden müssen. Es soll auch Kollegen geben, die nicht mehr hergestellt werden konnten, sozusagen an der Existenz verschlissen und aufgebraucht wurden. Aber das sind nur Gerüchte, den Beweis hierfür konnte bisher noch niemand liefern. Die verschiedenen Gefässe werden hereingebracht und zwischen uns und der Kommission aufgestellt. Jetzt haben wir die Wahl zwischen 4 Gefässen, wenn wir uns entschieden haben, dies geschieht durch einen Druck auf einen Knopf, 4 Knöpfe die sich durch ihre Farbe unterscheiden und einem jeweiligen Gefäss zugeordnet sind, so ist unsere Wahl unwiderruflich, fixiert und endlich. Die Entscheidung erlangt Rechtsgültigkeit. Entscheidet man sich für das erste Gefäss, so ist der grüne Knopf zu drücken. Es wird als das sicherste Gefäss beschrieben, mit einer erstaunlichen durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren. Allerdings sehr eintönige und langweilige Jahre, die jeglicher Abwechslung entbehren, ein kleines Haus in der Vorstadt und einen Schrebergarten für das Wochenende. Das 2. Gefäss, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 65 Jahren ist schon lebendiger, bietet mehr Facetten, sogar eine Weltreise ist möglich. Allerdings wird dessen Tod als sehr unangenehm beschrieben, oft qualvoll und schmerzlich. Drücke ich den orangenen Knopf, so entscheide ich mich für das dritte Gefäss, ein Gefäss, dass viele Entbehrungen bedeutet, Krieg, Armut und Hunger, aber auch im Falle des Überlebens Weisheit. Eigentlich eine Hülle für Asketen und Weltverbesserer, für Seelen mit Idealen aber leicht masochistischer Ader. Gelb für das 4. Gefäss, das ungewisse Gefäss, zu dem es nur ungenaue Angaben der durchschnittlichen Lebenserwartung gibt, es wird von Spannen zwischen 20 und 70 Jahren berichtet. Dies liegt daran, dass es keine einheitlichen Abtretungsdaten gibt. Dieses Gefäss ist für die Unruhigen, Getriebenen unter uns. Es ist das Gefäss der Künstler, der Kreativen, aber auch der Gefallenen, Süchtigen und Lebensunfähigen, aber für die Wenigen, die es überleben eine Erkenntnis über die Welt, die nur sehr wenigen Menschen zuteil wird.
Die Wahl beginnt und man spürt förmlich die Aufregung der Teilnehmer. Ich hingegen bleibe ruhig, denn ich habe meine Entscheidung längst getroffen, ich wähle Gefäss Nummer 4, da treffe ich eine wirklich gute Wahl, denn alles andere würde mich zu Tode langweilen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Dein Text

Ein kurzer, kreativer Text, der mit wenigen Worten die Absurdität des Lebens widerspiegelt. Man fragt sich, wie der Ich-Erzähler wohl zu seiner Entscheidung gekommen sein mag: Gleichgültigkeit oder Erlebnishunger. Gerne gelesen.
 
Hallo Mitschie,

deine Texte gefallen mir. Wünsche mir von dir was im Science Ficton Forum ;-)

Am Schluss frage ich mich aber: Was heißt hier überleben? Ich hatte es so verstanden, dass diejenigen, die programmiert werden - von einer höheren Macht? - die Gefäße befüllen, letztere aber verbraucht werden. Somit überleben die Befüller doch immer, dass manche nicht mehr hergestellt werden konnten, ist ja nur ein Gerücht?

Es ist das Gefäss der Künstler, der Kreativen, aber auch der Gefallenen, Süchtigen und Lebensunfähigen, aber für die Wenigen, die es überleben eine Erkenntnis über die Welt, die nur sehr wenigen Menschen zuteil wird.
Der Begriff Mensch verwirrt mich daher in dem Zusammenhang. Für mich sind die Menschen die Gefäße, würden die Befüller, vielleicht könnte man auch Seelen sagen?, sich selbst als Menschen bezeichnen?

Schwarze Kugeln in Einmachgläsern, die Limo trinken?

Die Weltreise würde ich evtl. als Beschreibung streichen, machen sie nicht ohnehin eine Art Weltreise? Und ist diese nicht nur aus der Sicht der Gefäße wirklich attraktiv?


Und Gefäss -> Gefäß

LG und danke für anregende Story
K.
 



 
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