Die Wasserfee (überarbeitet)

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Astrid

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Die Wasserfee

Es regnete. Im Zimmer war es dunkel wie an einem Wintermorgen. Franziska schaute auf den Wecker, der sie mahnte, aufzustehen. Unwillig schob sie ihn ein Stück weiter, sodass er nun das fleißige Lieschen anstarrte, und zog die Bettdecke über ihren Kopf.
Der Regen pochte auf das Fensterblech, als wollte er nicht zulassen, dass sie weiterschlief. „Mmmm“ murrte sie in Richtung Fenster, „hast gewonnen!“
Ihre Füße angelten nach den Latschen, fanden sie nicht, das Bett knarrte, als sie sich erhob.

Als Franziska sich die Zähne putzen wollte, spürte sie etwas Feuchtes an ihren Füßen– der Traps am Waschbecken war wieder mal undicht. „Na super“ murmelte sie und schob ein Handtuch in die kleine Pfütze.
Im Spiegel traf sich unbarmherziges Neonlicht mit ihrem Gesicht. Waren das etwa Tränensäcke unter ihren Augen? Ihre Hand griff zum Lichtschalter.
Dabei fiel ihr Blick auf das mit Muscheln verzierte Kästchen. Jens hatte es ihr von der Ostsee mitgebracht. Die Muscheln waren bereits angegraut vom Staub, der im Bad ohne Fenster täglich mehr zu werden schien.

Sie liebte es doch eigentlich, das Wasser, das Meer; liebte es, wenn ihre Füße im feuchten Sand Spuren hinterließen, den Geruch, die Weite und sogar die Salzränder an den Schuhen. Und sie hatte Jens geliebt.

Franziska betätigte den Schalter, stand im Dunkeln, drückte erneut. Das Licht flackerte auf, erlosch, warf sich auf ihr Gesicht. Dann stand sie wieder im Dunkeln, das Kästchen hielt sie in der Hand. Die Neonröhre glomm nach.
Durch die Lüftungsanlage hörte sie den Regen rauschen. Ihre Finger tasteten über die Muscheln. Rauschten auch sie? Ja sie hörte es und sie hörte ein Summen, das sie wie eine unsichtbare Hand mit sich zog.

Wie in Trance kleidete sich Franziska an und verließ das Haus. Das Kästchen nahm sie mit, hielt es wie etwas sehr Wertvolles dicht vor ihrem Körper. Sie hatte keinen Schirm dabei. Ihre Füße traten in dicke Pfützen – sie achtete nicht darauf.
Harte Regentropfen fielen ihr auf den Kopf, doch sie schmerzten nicht. Vielmehr war es, als würde er durchflutet; als würden ihr Kopf und ihre Gedanken vom Staub befreit.
Franziska war nass bis auf die Haut. In der Hand hielt sie noch immer das Kästchen mit den Muscheln, die nun feucht glänzten.
Sie ging weiter. Wasser verfing sich in ihren Wimpern, tränkte die nasse Kleidung und ließ sie schwer werden.
Menschen hasteten an ihr vorbei, unter Schirmen versteckt. Nur eine alte Frau, die sich mit einer Regenhaube schützte, blieb stehen und schüttelte den Kopf: „Mädchen, du holst dir eine Erkältung!“ Doch Franziska war nicht aufzuhalten.
An der nächsten Straßenecke wohnte Jens. Überrascht blieb sie vor dem Haus stehen. Da riss der Himmel auf. Die Muscheln funkelten in der Sonne wie kleine Diamanten.
Die Haustür stand einen winzigen Spalt offen und Franziska schlüpfte hindurch. Sofort erwischte sie der gewohnte Geruch nach frischem Holz, Essensdunst und Katzen. Es hatte sich nichts verändert und doch alles.
Franziska lehnte sich gegen die Wand, sie war mit einem Mal sehr müde.
Der Briefkasten von Jens war überfüllt, man hatte seine Post schon darüber an die Wand gelehnt.
„Bist wohl wieder mal untergetaucht. Ist dir das Leben zu eng geworden so wie unsere Beziehung damals?“ Franziska sprach, als würde Jens neben ihr stehen.

„Hier hast du“ – sie versuchte, das Kästchen neben die Briefe zu quetschen, fluchte, es geriet ins Rutschen, ein Knall hallte durchs Treppenhaus. Franziska starrte auf die Scherben und die abgesprungenen Muscheln. So stand sie einen Moment, schob dann mit den Schuhen alles zusammen, nickte dem Häuflein zu, als würde sie sich verabschieden, und ging.

Es hatte aufgehört zu regnen.
„Kindchen, du läufst ja immer noch so nass herum!“ Die alte Frau mit der Regenhaube. Sie stand an der Bushaltestelle und sah Franziska sorgenvoll an.
„Wie eine kleine alte Mutter“ dachte Franziska liebevoll. Sie wischte sich über das Gesicht, schüttelte sich lachend wie ein nasser Hund und trat zu der Frau. Plötzlich beugte sich Franziska zu ihr hinunter und umarmte die völlig Überraschte.
„Keine Angst, ich werde nicht krank!“ sagte sie und lief schon wieder weiter. Dann drehte sie sich aber noch einmal um: „Ich bin doch gerade gesund geworden!“
 



 
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